Читать книгу Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan - Страница 6
1. Kapitel
Оглавление»Hast du schon mal daran gedacht, dein Leben noch einmal zu leben?«
Sonja hob den Kopf und schaute mich interessiert an. Wir hatten ausgiebig gebadet und uns Pizza mit Rotwein bestellt. Nun warteten wir auf den Pizzaboten.
»Egal, wie oft du mich fragst, ich weiß es nicht. Was soll das bringen?«
Seit ich sie vor zwei Tagen kennengelernt hatte, faszinierte sie mich ständig mit ihren grotesken Ideen, Thesen und Fragen.
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und beobachtete mich wie eine Katze, die vorgibt die Maus, die sie gefangen hat, zu lieben.
»Na, ob du dir vorstellen kannst, dein Leben noch mal zu leben?«
»Wäre ohnehin nur brotlose Kunst. Wozu sollte ich den Scheiß erneut durchmachen?«
Eine kleine Zornesfalte erschien auf Sonjas Stirn.
»Hast du nicht vorhin selbst gesagt, dass in deinem Leben so manches schiefgelaufen ist? Also gibt es mit Sicherheit Situationen oder Erlebnisse, und du bedauerst, dich nicht anders verhalten oder entschieden zu haben. Das kannst du nicht leugnen?« Sie lachte.
»Und nun möchtest du wissen, woran ich vorhin gedacht habe?«
Sie legte die Innenflächen der Hände wieder gegeneinander. »Nein, dann wäre die Fantasie ja im Eimer. Aber wenn du dein Leben noch einmal leben dürftest, könntest du doch besonders in diesen Situationen, die für dich negativ erscheinen, anders reagieren. Und ich möchte einfach von dir wissen, ob du dir das vorstellen kannst?«
Es klingelte und das gab mir Gelegenheit, ein paar Momente zu überlegen, ohne dass Sonja mich beobachten konnte.
Ein junger Mann mit rotem Schirmkäppi reichte mir die bestellten Pizze in Pappschachteln und die Flasche. Ich drückte ihm den Geldschein in die feucht schimmernden Hände und verzichtete aufs Wechselgeld. Er legte eine Hand ans Käppi, an der besonders die weit abgekauten Nägel beeindruckten, und trollte sich. Von solchen Händen möchte ich mich nicht anfassen lassen. Hoffentlich hat der die Pizza nicht angerührt oder gar gebacken, schüttelte ich mich. Werde ich besser für mich behalten. Ich betrat die Küche und stellte die Schachteln und die Flasche vor Sonja auf den Tisch. Sie schaute mich forschend an.
»Und?«
»Wollen wir nicht erst mal essen?«
»Wir können ja beides gleichzeitig machen.«
Sie öffnete eine Pappschachtel, nahm ein Stück der bereits geschnittenen Pizza und biss gierig zu.
»Ich will ja nur wissen, ob du dir das ausmalen kannst? Stell dir vor, du wärst noch mal geboren, aber mit allen Erinnerungen.«
»Tja, vorstellen könnte ich mir das schon. Vorstellen kann ich mir fast alles«, meinte ich, zog den Korken aus der Flasche und goss den Rotwein in die Gläser.
»Fällt dir ganz spontan etwas ein, was du beim nächsten Mal, also, wenn du einen zweiten Versuch hättest, dein Leben zu leben, anders machen würdest? Ich meine jetzt nicht ein Mädchen, sondern irgendetwas wirklich Wichtiges.«
Hm, Wichtiges. Was ist schon wichtig in meiner Situation? Ich biss in meine Pizza und spülte mit einem Schluck Wein nach.
»Irgendetwas? Irgendetwas ist gut, sehr gut sogar. Wenn ich all das erzählen soll, was ich an gemachtem Scheiß gerne wieder geradebiegen würde, wird das hier eine recht lange Sitzung.«
»Zum Beispiel? Erzähl mir bitte definitiv, welchen Scheiß du anders machen würdest.«
»Wo soll ich da anfangen? In der Schule vielleicht? Englisch liegt mir, aber Latein musste ich stattdessen pauken – ›Dulce et decorum est pro patria mori‹.«
»Was bedeutet das?«
»Das war der Lieblingsspruch meines Lateinpaukers Grindmann. Latein und Religion. Auf Lateinisch hat der gewagt, uns das anzubieten. ›Süß und ehrenvoll ist es fürs Vaterland zu sterben‹. Nun ja, ich war auf einem humanistischen Gymnasium. Das sagte ich bereits.«
»Keine Ahnung. Was soll denn daran süß sein?«
»Fragst du mich! Frag das jene Patentpatrioten, egal, in welchem Land sie vom Sieg träumen. Ein paar in die Fresse jedem Militaristen!«
»Nun beruhige dich mal. Kann ich noch einen Schluck Wein haben? Danke. Und was haben deine Eltern zu dem Stuss gesagt?«
»Eltern? Ha! Mein Alter ist einer der glühendsten Verfechter des Treu- und Gehorsamanspruchs. Vorgesetzte haben immer recht, basta! Mein Alter ist zeitlebens in jeden Hintern reingekrochen, der ihm vorstand. Zu dumm nur, dass er solches ebenso von mir verlangt hat. Einer der Gründe, weshalb ich hoffe, bei der Geburt verwechselt worden zu sein. Denn mir ist eine gravierende Eigenschaft in die Wiege gelegt worden, die militärischem Gehorsam im Wege steht: Ich denke. Zu Hause wurde bedingungsloser Gehorsam verlangt, bloß nicht denken – auf Denken stand Prügel.«
Sonja schürzte die Lippen. »Na ja, verprügelt bin ich auch worden.«
»Nette Formulierung, was soll das sein? Vorgegenwart?«
»Wie bitte?«
»Ach lass nur. Du bist also auch verprügelt worden? Weswegen?«
»Mir haben Jungs schon sehr früh gefallen.« Sie beleckte die Lippen.
»Tja, das merkt man. Wer hat dich bestraft wegen der Jungs? Dein Vater?«
»Nein, der ist irgendwann abgehauen, als ich noch ein Baby war. Das Strafen hat mein Stiefvater besorgt, und zwar nach einer ganz besonderen Methode. Der hat im Badezimmer Sachen von mir verlangt zur Strafe, da könnte man ... der glaubte, ich würde die Jungs nicht mehr mögen, wenn ich mich nur genügend vor ihm ekele. Aber selbst wenn das so gewesen wäre, hätte ich weitergemacht. Ich habe ja gewusst, dass den das rasend eifersüchtig macht.«
»Und deine Mutter hat das zugelassen?«
»Meine Mutter war so ein schales Mäuschen und hatte eine Menge Bammel vor ihrem Mann vor Sorge, dass er auch verschwinden würde. Sie wollte gar nicht wissen, was er mit mir macht.«
»Warum hast du den Kerl nicht angezeigt?«
»Sinnlos, beweise das mal. Meine Mutter hätte mich sogar festgehalten, wenn der es von ihr verlangt hätte. Die hätte bei allem, was ihr heilig ist, geleugnet, um nur ja den Ruf sauber zu halten. Und ich habe nicht die geringste Lust, irgendwelchen Richtern und Anwälten die Einzelheiten zu erzählen, damit die sich gleichermaßen dran aufgeilen können. Nein, danke. Ich bin dann abgehauen, war gar nicht schwierig. Hör auf, ich will nicht mehr daran denken. Weißt du, was das Beste ist gegen Cafard?«
»Wogegen?«
»Cafard. Ist ein französischer Begriff, bedeutet so viel wie Weltschmerz, Trübsinn, Melancholie, Depression, Todessehnsucht ohne ersichtlichen Grund. Französisch kannst du nicht?«
»Doch«, beteuerte ich. »Bloß mit dem Sprechen hapert es!«
Sonja lachte gemein. »Bei dem Thema muss ich dir sagen, habe ich auch eher das Gefühl, dass du dich lieber zurücklehnst und dich bedienen lässt!«