Читать книгу Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan - Страница 16
11.
Оглавление»Du redest immer von Holgers Bruder und deinem Vater. War denn sonst niemand an Holger interessiert?«, fragte Sonja.
»Nein, wie gesagt hat Holger keinerlei Kontakt zur Familie haben wollen. Die Pointe kommt noch. Ich wartete im Türrahmen auf das weitere Geschehen.
Reinhold wählte eine neue Nummer.
›Wen rufst du jetzt an?‹, fragte mein Alter.
›Bevor wir Bertel in Bewegung setzen, möchte ich zunächst wissen, inwieweit mein sauberer Bruder überhaupt schon für Bertels Einsatz infrage kommt. Ich habe da jemanden beim Gesundheitsamt, der wird uns helfen. Hallo! Hallo Günther, Reinhold hier. Ja, es geht um den. Hast du dir gedacht, wieso? Hast versucht bei mir zu Hause anzurufen? Das ist nett. Natürlich war ich nicht da, ich bin ja hier. Was für ein Finale? Wovon sprichst du? Prefinal, aha. Kann sich allenfalls um Stunden handeln. Ich danke dir für die Information. Wie bitte? Selbstverständlich, ich schicke dir eine Kiste Bordeaux, wie vereinbart. Ja, den die Franzosen den lieben Gott in Samthosen nennen. Ja, die Kiste steht längst bei mir in der Garage. Meinetwegen kannst du sie dir abholen. Auch sofort, der Fahrer weiß Bescheid. Nochmals danke, Günther.‹
Reinhold strahlte. ›Mit dem ist es bald aus. Ich rufe kurz Bertel an, dann kann es losgehen.‹
Er wählte wieder und gab seine Direktiven.
Dann trat ich aus meinem Zimmer in den Flur.
›Was willst du denn hier?‹, fragte Onkel Reinhold.
›Dein Gespräch war nicht zu überhören.‹
Die beiden blickten sich verschwörerisch an.
›Aber‹, sagte ich, ›ich komme gerne mit, dann könnten wir zu viert versuchen, etwas zu erreichen.‹
›Bilde dir bloß nicht ein, dass du einen Pfennig bekommst‹, polterte mein Alter. ›Da wirst du warten müssen, bis ich ...‹
›Kusch!‹, fuhr Reinhold dazwischen und mein Alter schwieg. ›Ich finde die Idee gar nicht so übel. So viel Engagement hätte ich dir gar nicht zugetraut, mein Junge. Ich rufe eben Bertel an, dann fahren wir los.‹
Ich wollte vorher unbedingt Laura informieren, dass es mit Holger zu Ende ging. Sie hatte mich um eine dementsprechende Nachricht gebeten, weil sie mit ein paar von Holgers Freunden bei ihm sein wollten, wenn er seine letzte große Reise antreten würde. Sie hatte mich beschworen, sie in dieser Situation nicht zu enttäuschen. Wir hatten ein Telefonat mit falschem Text vereinbart. Also spielte ich meine eingeübte Rolle.
›Ach herrje, ich habe doch heute früh die Theaterprobe. Da müsste ich eigentlich hin, die warten auf mich.‹
›Du spielst Theater in der Schule?‹ Onkel Reinhold wirkte verblüfft.
›Ja, sonst hätte ich irgendwas mit Sport machen müssen, wahrscheinlich Fußball oder so, das ist nur für Deppen.‹
›Sport wäre ganz gut für dich krummen Hund‹, giftete der Alte.
›Spielst du eine tragende Rolle?‹
›Der doch nicht. Den kann man zu nichts gebrauchen.‹
›Ich bin mit Olli für die Beleuchtung zuständig‹, sagte ich sehr kleinlaut.
›Das ist keine unwichtige Rolle, Oskar. Wenn auch hinter den Kulissen. Und gerade dort wird manchmal die entscheidenste Arbeit erledigt. Können die heute auf dich verzichten, Achim?‹
›Muss ich telefonieren und fragen.‹
›Denn man zu, ruf an. Und wenn die Zores machen, sage, dass ich dich brauche, das hebt garantiert deine Prosperität.‹
Ich wählte Lauras Nummer, die ich auswendig wusste. ›Hallo, Achim Hofmann hier. Ich muss die Probe für heute absagen, ein Verwandter liegt im Sterben. Ja, wir fahren direkt dorthin, er soll die letzte Ölung bekommen. Mein Onkel, Herr Reinhold Lenz hat erfahren, dass es höchste Eisenbahn ist. Ja genau der.‹
Ich schaute zu ihm und er zeigte mir seinen aufgerichteten Daumen.
Wir erschienen kurze Zeit später an Holgers Bett im Sterbehaus der Aids-Stiftung. Pfarrer Gallmann meinte, dass es besser wäre, wenn wir Familienmitglieder uns zunächst ohne ihn von dem Sterbenden verabschieden sollten. Die Abscheu, die die beiden dabei empfanden, war geradezu spürbar. Ich wollte zu gerne wissen, ob einer von beiden ihm die Hand gäbe. Aber nachdem ich Holgers schlaffe Hand ergriffen hatte und weiterhin hielt, stand purer Ekel in ihren Gesichtern. Holger schien tief zu schlafen.
Schließlich erschien der Pfarrer im Raum. Reinhold und Oskar knieten nieder, und küssten Hochwürdens Händchen. Er war gewillt, dem Todgeweihten die letzte Ölung zu geben.
›Kriegt er auch einen Filterwechsel?‹, fragte ich und erhielt eine schallende Ohrfeige. Ich wunderte mich mehr über den Vorgang an sich als über den unvermuteten Schmerz. Nur äußerst mühsam unterdrückte ich den zutiefst verinnerlichten Wunsch, den Schläger nach Holgers seinerzeitigem Vorschlag zu behandeln.
Ob es nun an diesem lauten Geräusch lag oder daran, dass ich Holgers Hand losließ, kann ich nicht sagen. Er schlug völlig unerwartet die Augen auf, blickte uns an und erkannte dann den Herrn Pfarrer.
Sag mal, Sonja, hast du schon mal einen Schwarzgekleideten mit grauweißem Gesicht gesehen? Der Pfaffe erstarrte beinahe zur Salzsäule. Holger deutete nämlich ein Lachen an, räusperte sich und sprach zum ersten Mal wieder halbwegs verständlich.
›Bertel! Das ist aber lieb, dass du persönlich kommst.‹
Die Mienen der Männer versteinerten. Holger zwinkerte dem entsetzten Pfarrer mühsam zu. Er hob sogar eine Hand von der Bettdecke.
›Einer meiner besten Kunden und immer sehr großzügig zahlender Fickarsch kommt höchstpersönlich, um mir den Weg ins Himmelreich zu weisen. Komm, Dickerchen, und blas mir einen zum Abschluss, das konntest du wirklich unvergleichlich. Hast du wenigstens das Höschen mit dem eingearbeiteten Pimmel angezogen? ... Achim‹, sagte er zu mir gewandt. ›Erinnerst du dich an George Bernhard Shaws Heilige Johanna? Da heißt es so schön: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist! Und nun will der heilige Bertel mir die letzte Ölung verpassen. Wie oft haben wir zwei uns früher eingeölt. Das ist zu viel!‹«
Sonja lachte, gleichzeitig war sie entsetzt. »Das ist nicht dein Ernst?«
»Doch, und ich muss jedes Mal aufs Neue lachen, wenn ich an die Gesichter im Sterbezimmer denke. Der Herr Pfarrer spitzte das Mäulchen.
›Oh‹, brachte er hervor. ›Oh!‹ Dann verließ er fluchtartig den Raum. Die letzte Ölung fiel aus.
Ich lachte aus vollem Hals, obwohl mir gleichzeitig zum Heulen war. Auf den Gesichtern der beiden erbgierigen Männer im Raum stand betroffenes Grauen. Diesmal erhob sich nicht die Hand zum Schlag gegen mich. Der Familientrottel war zu fassungslos, als ich ihn angrinste. Ich langte nach Holgers Nachttopf und schwenkte ihn ausladend vor und zurück.
›Und jetzt raus mit euch oder ihr kriegt diesen Segen ab! Vergesst nicht, in dieser Pisse lauert der Tod!‹
Entsetzt stoben die beiden zur Tür, konnten aber nicht gleichzeitig hinaus, weil Laura mit Holgers Freunden das Zimmer betrat. Sie kannte ja den Raum von eigenen Besuchen her. Ins Zimmer drängten neben Laura junge und ältere Männer, die allesamt etwas weich wirkten. Zwei trugen Kapitänsmützen und ausschließlich Lederkleidung. Einer von ihnen griff meinem Alten, der wehrlos eingekeilt zwischen Schwulen stand, zwischen die Beine, näherte sich ihm schlangenartig mit dem Kopf und leckte sein Ohr. Dieser Augenblick hatte mich für viel Prügel entschädigt.
Die Leute standen um Holgers Bett, hielten abwechselnd seine Hände und flüsterten ihm aufmunternd zu. So ähnlich müssen die Japaner ihre Selbstmordflieger zärtlich verabschiedet haben.
›Du wirst nicht tot sein, sondern immer bei mir sein, wir werden uns spüren.‹
›Du warst stets ein schöner Mann und nun bist du für mich vollendet.‹
So sprachen die Freunde zu ihm und ich habe es nie vergessen.
›Du hast nie nach Konsequenzen gefragt. Wenn du etwas tun wolltest, hast du es getan – und es war jedes Mal schön.‹
›Du bist nicht hilflos, Holger. Du trägst eine wahrhaft gewaltige Waffe in dir – Gelassenheit.‹
›Entweder hervorragend oder miserabel hast du mir gesagt, weil dich halbe Sachen ankotzen. Dies ist eine vollkommene Sache.‹
›Ich habe eine Flasche 37er Vouvray mitgebracht. Die stammt von meinem Vater, der sie 1940 bei Fouquets requirierte, erste Klasse, sage ich euch. Ist was für Kanzlerbeerdigungen. Trink du als Erster, Holger‹, sagte der Ledermann, der meinen Vater im Ohr geleckt hatte. Zwei Mann hoben Holgers Oberkörper an und er setzte die Flasche behutsam an Holgers Mund. Der nippte und schaute uns dann aufgelöst an, während die Flasche von Mund zu Mund wanderte.
Ich reichte die Flasche an Laura weiter und ergriff Holgers Hand.
›Du wirst nun bald gehen müssen, Holger. Und dabei muss ich an Erich Kästner denken, der in ähnlicher Situation einem Freund mal sagte: Bleib am Leben, allein um sie zu ärgern. Ich liebe dich, Alter.‹
Holger Lenz hustete kurz, das Kinn sackte auf die Brust und es war vorbei.
Das Fleisch schrumpfte bereits, aus seinen eingefallenen Augenhöhlen grinste das Unbegreifliche. Auf uns wartend und wissend, dass wir kämen.
Die Freunde verließen das Totenzimmer und ich ging zum Waschbecken, über dem ein Spiegel hing. Mein Gesicht darin wirkte fremd, ein siebzehnjähriger alter Mann. Was war schon geschehen? Holger Lenz war gestorben. In jeder Sekunde sterben Tausende. Versicherungen haben Statistiken darüber, wie viele genau wann und warum auf welche Art und Weise sterben – Peanuts. Nur für den, der stirbt und für den, der weiterlebt, ist es wichtiger als die ganze Erde mit ihren sinnlos krabbelnden Bewohnern.
Holgers Beerdigung fand im Kreis unserer Freunde statt. Als sein Testament eröffnet wurde, wohnte ich glücklicherweise nicht mehr zu Hause. Zu dem Termin hatte ich eigens dienstfrei erhalten und amüsierte mich köstlich über die Herren Möchtegernerben. Die schienen im Sitzen gestorben zu sein und würdigten mich keines Blickes mehr. Nach dem Notartermin habe ich niemanden der Mischpoche wieder gesehen.«
Sonja schaute mich nachdenklich an. »Mein lieber Schwan.«
»Wieso Schwan?«
»Ich habe lange nicht mehr jemanden getroffen, der Menschen so sehr hasst wie du deine Leute. Ich dachte immer, ich wäre eine Ausnahme wegen meines Familienhasses«, gestand Sonja.
»Meine Mischpoche sind einfältige Holzköpfe, allesamt. Der Einzige, der wirklich was getaugt hat, war Holger Lenz. Der hat überdies gewusst, wie es in einem Pfaffen aussieht, zumindest von hinten. Ich rede manchmal sogar mit ihm. Sein Tod hat mich ärmer gemacht. Quatsch, nicht nur mich, schau dir mal das Bild an. Da über dem Bett im Bilderrahmen. Kannst du das lesen?«
»Den Text? Boah, ist doch Englisch.« Sonja verzog den Mund.
»Soll ich ihn für dich übersetzen?«
»Ja, bitte.«
Die Welt zerbricht jeden,
und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark.
Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie.
Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen
Und die sehr Mutigen ohne Unterschied.
Wenn du nicht zu diesen gehörst,
kannst du sicher sein, dass sie dich auch töten wird.
Aber sie wird keine besondere Eile damit haben.
»Wo ist das her?«, fragte Sonja.
»Das Bild habe ich von Holger. Hat er in einem Buch gelesen und selbst angefertigt. Das Buch hat er mir geschenkt, der deutsche Titel lautet: In einem anderen Land. Hat Ernest Hemingway geschrieben.«
Sonja überlegte, dann erhellte sich ihr Blick.
»Fällt mir wieder ein, kenne ich noch aus dem Unterricht. Wir haben in Deutsch mal eine Zusammenfassung über das Buch schreiben müssen – fand ich ziemlich schwierig. Aber die Geschichte ist sehr gefühlvoll und hat mir super gefallen.«
»Mir auch, von allein wäre ich kaum an diese Art Literatur gekommen. Holger las unheimlich viele Bücher und kannte einen Haufen Künstler. Maler, Schreiber, Musiker und so weiter. In seiner Wohnung habe ich manchmal Leute getroffen, die sehr bekannt waren, die mich trotzdem behandelten, als wäre ich kein einfacher junger Bursche ohne Ahnung, sondern beinahe ein Mensch wie sie. Stundenlang habe ich ihnen zugehört. Und auf seinen Reisen traf Holger laufend Künstler jedweden Genres. Unter anderem hatte er einen Bekannten, der ihn zwar nie besuchte, mit dem Holger aber ab und zu telefonierte. Und zwei oder drei Mal habe auch ich mit ihm geredet. Das ist vielleicht ein komisches Gefühl kann ich dir sagen. Und der Mann hat mir von Hemingway erzählt, als ich gerade dieses Buch las. Persönliche Dinge und so.«
»Ach Achim, das glaubt dir kein Mensch. Woher will ein Freund von euch das wissen? Hat der den Hemingway etwa persönlich gekannt?« Sonja lachte mich richtiggehend aus.
»Na ja, er war damals eher Holgers Freund. Ich war doch noch ein Milchbubi, wir haben uns später angefreundet, als Mom abgehauen war. Egal, der hat Hemingway auf jeden Fall als Kollegen sehr bewundert, hat er mir selber gesagt.«
»Als Kollegen? Ach jetzt kapiere ich erst, du alberner Aufschneider«, lachte Sonja und winkte ab. »Du willst mich auf die Rolle nehmen. Meinst du wirklich, es macht dich interessanter, wenn du so tust, als ob du in der Welt der Großen und Berühmten zu Hause wärst? Eigentlich mag ich dich, weil du nicht einer von den blasierten Angebern mit Geld, Anzug und Protzauto bist. Komischer Tag heute.«