Читать книгу Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan - Страница 14
9.
Оглавление»Holger bestellte Grappa di Poli. ›Um den Salat zu verdauen‹, meinte er.
Dann wurden die Pizze serviert, der Teig war vorzüglich locker, der Boden schmeckte knusprig ohne vertrocknet zu sein. Der Belag war fruchtig, nicht nass oder gar fettig. Der Käse zerlief mild mit einem würzigen Hauch.
›Delikat‹, urteilte Holger. ›Hätte man selbst nicht besser hinkriegen können.‹
Dass die Tomatensoße für mich einen eher schwachen Eindruck hinterließ, behielt ich für mich. Was soll es, dachte ich, ist es vielleicht meine Trattoria?
Holger arbeitete sich von der Mitte der Pizza nach außen vor. Nach wenigen Happen schnitt er kleinere Stücke ab. Kaute an jedem Fitzelchen immer länger und länger.
›Schmeckt’s nicht?‹, wollte ich wissen.
›Doch. Schmeckt wirklich gut. Beinahe wie in alten Zeiten. Ich fühle nur den nächsten Schub kommen. Außerdem bin ich satt, habe mich wohl ein bisschen übernommen.‹
Er legte das Besteck vorsichtig beiseite und schaute auf die Menschen, die an dem Lokal vorbeiströmten. Holgers Augen waren in ständiger Bewegung, schienen jede Kleinigkeit wahrzunehmen, wollten nichts verpassen. Nicht ein Muskel in seinem Gesicht oder am Körper zuckte. Der Kopf lag leicht auf Zeigefinger und Daumen der linken Hand gestützt. Sich selbst und seine nächste Umwelt hatte Holger völlig vergessen, so schien es. Nur die Nuancen der unerreichbaren Normalwelt wirkten auf den Schwerkranken.
Holger nahm Abschied. Das kapierte ich urplötzlich, schwieg, beobachtete ihn und bemerkte erschrocken die Veränderung an ihm. Er ließ die Unterlippe ganz langsam sinken, seine Wangen fielen ein. Der Kopf neigte sich stetig. Keine Träne, kein Wort, nichts. Es schien, als würde der Mensch ins Nichts versinken.
In Gedanken sah ich einen Sarg, Holgers bleiches Gesicht darin. Der Deckel wird über ihm geschlossen und zugeschraubt. Kränze liegen wie Autoreifen gestapelt übereinander. Der Sarg wird mechanisch in einen überdimensionierten Ofen gezogen und beginnt unter den Gasflammen zu brennen. Holgers kurzes Haar knistert und versprüht ein paar Funken. Der abgemagerte Körper bäumt sich ein letztes Mal auf, als würde er vor der Hitze fliehen wollen, unter der Haut beginnt das Wasser zu kochen. Es bilden sich Blasen, die platzen, das Wasser verdampft und der Rest zerfällt zu verkohltem Nichts.
Holger wandte mir sein Gesicht zu, schaute mich an und nickte. ›Ich sehe schon aus wie eine Leiche in der Kiste, was?‹, sagte er und atmete aus, als würde er aufstoßen. Der kraftlose Mund versuchte zu lächeln. Dann rutschte Holger vom Stuhl, schlug stumpf mit dem Kopf auf die Betonplatten und blutete sofort stark aus der Wunde.
Mit dem Notarztwagen wurde er zur Intensivstation der Landesklinik befördert. Besuche waren erst gestattet, nachdem Holger ins Sterbehaus transportiert worden war.
›Wenn Sie Herrn Lenz noch mal lebend sehen möchten‹, sagte man mir einen oder zwei Tage später am Telefon, ›dann kommen Sie bitte recht bald.‹
Ich hatte Laura von Holgers Zustand erzählt und sie hatte offenbar die Schwulenszene informiert. Männer aller Altersklassen, denen man ansah, welche Vorlieben sie pflegten, standen um Holgers Krankenbett. Eine seltsam familiäre Stimmung schwang im Raum. Einer nach dem anderen hielt kurz Holgers Hand, drückte sie leicht und trat dann zurück, um dem Nächsten Platz zu machen. Die Schwäche zog Holger immer wieder in kurzen Schlaf hinab.
Als es dämmerte, schlug er noch einmal die Augen auf und verzog den Mund, als wäre er zerknirscht. Er versuchte zu sprechen, aber kein Laut kam über seine fahlen Lippen. Eine Pflegerin forderte uns auf, das Krankenzimmer zu verlassen, um den Patienten nicht weiter zu schwächen.
Manche der Besucher winkten beim Verlassen des Raumes schüchtern, manche hielten sich an den Händen. Einige weinten. Ich selbst fühlte mich hilflos und leer.«