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»Und wann bekam er seine letzte Ölung?«, fragte Sonja ungeduldig.

Ich musste automatisch lachen. »Dazu komme ich gleich, erst muss ich eine Begebenheit aus dem Familienrat erzählen. Holger verfiel zwar schneller und schneller, aber für die potenziellen Erben eben nicht schnell genug. Weder Reinhold noch mein Alter hatten sich bisher zu einem Besuch in solch einer unglaublichen Einrichtung, wie sie sagten, entschließen können. Nur deswegen war es mir ja überhaupt möglich gewesen, Holger zu besuchen, ohne auf den Widerstand der beiden Herren zu stoßen. Schließlich stand der gute Ruf der Familie auf dem Spiel. Aber nun hatte der Informant des Hospizes meinen Onkel Reinhold Lenz, vom jetzt wirklich unmittelbar bevorstehenden Ende des Patienten informiert. Aufgeregt erschien der bei uns zu Hause. Erleichterung lag in den Gesichtern der beiden Männer. Holgers Vermögen lag in greifbarer Nähe – oder zumindest der Rest davon. Am selben Abend rief Reinhold beim Betreuungsbüro an. Das Telefon hatte er auf Lautsprecher gestellt, damit mein Alter mithören könne. Ich stand in meinem Zimmer und hatte die Tür nur angelehnt, so konnte ich das Gespräch verfolgen.

›Wir sind die Erben von Herrn Holger Lenz, Ihrem Betreuten. Wir müssen unbedingt sofort wissen, wie seine Vermögenslage derzeit aussieht.‹

Einige Sekunden schwieg der Apparat.

›Sind Sie noch da?‹ Reinhold Lenz sprach energischer.

Worum geht es?‹

›Mein lieber Mann, wir sind die Erben von Holger Lenz. Das ist doch Ihr Betreuter, oder wie man das nennt.‹ Die Stimme stieg um eine Oktave.

Am anderen Ende der Leitung schwang Gelassenheit. ›Erstens bin ich nicht Liebermann, mein Name ist Göttlich, Ulrich Göttlich. Zweitens, was soll das heißen, Erben von Holger Lenz? Ich habe ihn heute besucht. Ihm geht es zwar nicht gut, aber er lebt. Und solange mir das Ableben des Betreuten nicht mitgeteilt wird ...‹

›Gehüpft wie gesprungen. Wir haben Nachricht erhalten, dass es Zeit wird für die letzte Ölung. Das kostet doch auch bei so einem nichts, oder? Egal wie, wir zahlen das auf jeden Fall nicht. Also decken Sie schon die Karten auf. Wie viel Geld ist vorhanden? Klare Frage, klare Antwort!‹

›Am Telefon gebe ich solche Auskünfte generell nicht. Könnte ja jeder kommen. Ferner bin ich der Auffassung, dass es außer Herrn Lenz selbst, mich oder den Rechtspfleger niemanden etwas angeht, wie seine finanzielle Situation aussieht.‹

Reinhold Lenz war aufgesprungen und hatte dabei fast den Telefonapparat vom Tisch gerissen. Die Stimme kippte. ›Sie Flegel! Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben? Wir haben ein Recht darauf, alles zu erfahren. Wir sind schließlich die Erben!‹

›Was oder wer Sie sind, ist nicht nur mir – mal sehr gelinde gesagt – gleichgültig. Ich vertrete die Interessen meines Betreuten. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, sich dies vom Amtsgericht bestätigen zu lassen. Guten Tag.‹

Ich konnte geradezu hören, wie Ulrich Göttlich den Hörer sanft auf die Gabel legte. Reinhold knallte seinerseits den Hörer auf den Apparat und bebte vor Zorn. Dafür, stammelte er, war man nun Offizier gewesen, dass man so behandelt wurde. Na, dem Herrn würde man es schon zeigen. Telefonbuch her. Buchstabe A, wie Amt, hier steht es ja, Amtsgericht. Hastig wurde die Nummer gewählt. Warten, endloses Warten. Dann endlich eine menschliche Stimme. Dass es sich um die künstliche Stimme des Automaten in der Zentrale handelte, realisierten die wütenden Herren nicht. Reinhold redete in seiner Wut drauflos: ›Es geht um die Sache Lenz, wir sind die Erben. Hallo, hallo hören Sie!‹

›... ist es nicht möglich eine Nachricht zu hinterlassen. Für Abgabefristen einhaltende Unterlagen stehen Ihnen die Terminbriefkästen des Amtsgerichtes zur Verfügung, die permanent geleert und die eingegangenen Schriftstücke mit einem Uhrzeitvermerk versehen werden.‹

Wieder wurde der unschuldige Hörer von Reinhold Lenz auf die Gabel geworfen. ›Da ist keiner mehr im Amtsgericht. Da läuft nur ein Band, kein Notdienst. So weit sind wir in Deutschland inzwischen, nicht mal mehr die Behörden sind erreichbar. Unfasslich.‹

›Und wenn du die Polizei anrufst?‹, drängte mein Alter in seiner grenzenlosen Naivität.

Reinhold Lenz hatte bei uns übernachtet und die beiden hatten ordentlich Schnaps eingefahren, bis sie lallend von früher zu erzählen begannen.

›Unter dem Führer wäre so eine Schweinerei nicht vorgekommen!‹, schimpfte Reinhold. ›Da hätte man ordentlich durchgegriffen!‹

›Jawoll, genau. Der Führer war ja auch kein Kriegsverbrecher sondern Willy Brandt, dieses Weichei. Der hat doch das Schwulsein überhaupt erst erlaubt, das Ferkel. Erschießen sollte man den!‹

›Da hast du vollkommen recht. Prost. Sind sowieso viel zu wenig vergast worden.‹

›Das ist ohnehin alles von den Kommunisten erlogen. Sechs Millionen, so ein dummes Zeug! Niemals waren es sechs Millionen!‹

›Höchstens zwei, allerhöchstens‹, lallte Reinhold.

›Und die waren selber schuld, diese schwulen Kommunisten! Prost, Reinhold, auf den Führer!‹

Da bin ich ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen habe ich gewartet, was weiter geschieht. Da war vielleicht was los. Das Telefon musste es ausbaden.

›Amtsgericht, bitte schön?‹

›Hier spricht Reinhold Lenz, ich würde gerne Herrn Richter Labude sprechen. Nicht im Amt? Wieso ist er nicht im Amt? In Kur? Davon weiß ich ja gar nichts. Selbstverständlich sind wir miteinander bekannt. Kennen Sie etwa meinen Namen nicht? Unfasslich! Ich muss Labude unbedingt sprechen. Seinen Vertreter? Kenne ich nicht. Na gut, dann verbinden Sie mich. Lenz heiße ich, hören Sie doch hin! Es geht um eine Erbschaftssache.‹

›Augenblick bitte, ich verbinde.‹

Das Rauschen im Hörer wurde durch eine Stimme unterbrochen, die norddeutsch klang.

›Klauer.‹

›Hier Lenz, Reinhold Lenz. Es geht um eine sehr wichtige Erbschaftsangelegenheit. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob ...‹

›Moment, nicht so schnell. Wie war das, Lenz? Mit L wie Labude? Der bearbeitet die Buchstaben L bis S nämlich normalerweise. Ich vertrete ihn lediglich heute. Sekunde, ich schau in den Rechner. Holger Lenz? Hm, ich finde keine Erbschaftssache Holger Lenz. Aber wie gesagt, ich bin eigentlich auch nicht zuständig. Wenn Sie möchten, verbinde ich Sie mit der Kollegin.‹

Wieder rauschte es im Lautsprecher.

›Hören Sie‹, meldete sich eine Frauenstimme. ›Sie sagten dem Kollegen, es gehe um eine Nachlasssache?‹

›Ja, es geht um die Erbschaftsangelegenheit Holger Lenz. Der steht unter Betreuung von einem gewissen Herrn Göttlich!‹

›Göttlich?‹

›Genau um den geht es. Ein unverschämter Mensch ...‹

›Dann sind Sie bei mir erst recht völlig falsch. Wenn es sich um einen Betreuten von Herrn Göttlich handelt, dann müssen Sie sich an den Betreuer selbst wenden. Der ist schließlich der Bevollmächtigte.‹

›Aber das ist ein unverschämter Schnösel ohne Benehmen! Eine richtige Kanaille.‹

›Vorsicht, mein Herr, Sie sollten besser auf Ihre Worte achten, so eine Beleidigung ist schnell ausgesprochen. Wann ist denn dieser Betreute ..., wie war das – Lenz?‹

›Genau. Holger Lenz.‹

›Also wann ist Herr Lenz verschieden?‹

›Na, noch gar nicht.‹

Rauschen in der Leitung. ›Wollen Sie mich verscheißern? Wieso meinen Sie Erbe von jemandem zu sein, der noch lebt?‹

›Nun ja, er wird bald sterben. Wir sollen uns um die letzte Ölung kümmern. Deshalb wollen wir wissen, ob Vermögen vorhanden ist. Der Göttlich weigert sich, uns dies mitzuteilen! Stellen Sie sich das bloß mal vor.‹

Sprachlosigkeit am anderen Ende der Leitung. Ich hätte vor stillem Lachen in die Hose machen können.

›Sie können doch nicht so mir nichts, dir nichts erwarten, dass man Ihnen das Privatleben eines Bürgers offenbart, ob Sie nun glauben Erben zu werden oder nicht. Woher wollen Sie denn wissen, ob Sie als rechtmäßige Erben überhaupt vorgesehen sind? Oder sein werden?‹

›Wieso?‹ Reinhold Lenz wirkte verwundert.

Die Beamtin schien sich auszukennen, zumindest klang es für mich so.

›Sofern Ihr Verwandter über Vermögen verfügt, wird er wahrscheinlich ein Testament hinterlegt haben. Und erst nachdem von Amts wegen das Ableben festgestellt wurde, kann das Testament eröffnet werden. Und erst dann stünde fest, ob nun Sie, oder ein anderer, rechtmäßiger Erbe sein wird. Da Herr Lenz unter gesetzlicher Betreuung steht, wie Sie sagen, wird Ihnen nach dem Ableben des Betreuten der Nachlasspfleger Mitteilung machen, was vom Erblasser vorgesehen war. Ich kann Ihnen somit augenblicklich nicht helfen.‹

›Testament! Was für ein Testament? Seit wann darf ein ... ein ... ein Warmer ein Testament machen? Früher, früher hätte man mit solchen Leuten aufgeräumt, sage ich Ihnen!‹

›Aus welcher Mottenkiste kommen Sie denn?‹, klang es aus dem Hörer und die beiden Männer versteinerten sichtbar. ›Ich kann Ihnen wie gesagt nicht helfen. Sie können herkommen und mit dem zuständigen Rechtspfleger verhandeln. Sie können durch einen Anwalt Antrag auf Dateneinsicht stellen oder sich an den Betreuer wenden. Der Fall steht nicht in meiner Zuständigkeit. Guten Tag.‹

Reinhold starrte den Hörer an, setzte sich und legte auf. Kopfschüttelnd betrachtete er meinen Alten.

›Hast du das gehört? Dieser, dieser Mensch sagt, dass Holger ein Testament gemacht haben könnte. Dürfen solche das überhaupt? Zeiten sind das, ohne Zucht und Ordnung. Was ist, wenn es tatsächlich ein Testament gibt? Ob es uns nun gefällt oder nicht, wir müssen sofort dieses unselige Haus aufsuchen und versuchen, etwas von Holger zu erfahren. Vorsichtshalber werde ich unseren lieben Pfarrer Herbert Gallmann – das ist ein wirklich äußerst integrer Mann der Kirche – bitten, uns zu begleiten. Dann kann er Holger in einem Rutsch die letzte Ölung geben und versuchen, für uns zu intervenieren. Ich denke, Bertel wird mir den Gefallen tun. Wir kennen uns ewig und er hat schon so manchem Knastbruder die Beichte abgenommen. Wir müssen Holger mit vereinten Kräften zu dritt in die Mangel nehmen und diesen Gedanken an ein Testament ausräuchern. Und wenn wir nicht den entscheidenden Durchbruch schaffen, wird Bertel Gallmann sicherlich die richtigen Worte finden. Wenn uns dann trotzdem kein Erfolg beschieden sein sollte, werden wir einen anderen Weg finden ...‹«

Déjà vu eines Versagers

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