Читать книгу Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan - Страница 9

4.

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Unser Weg führte uns an dem Gymnasium vorbei, in dem ich seinerzeit zu Zucht und bedingungslosem Gehorsam abgerichtet werden sollte, nach dem von uns empfundenen Motto: Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir. Nur wenige angenehme Erinnerungen verbanden mich mit dem Gelände. Anscheinend war gerade Pause, denn der Schulhof summte vor Stimmen. Ich wollte so schnell wie möglich daran vorbei. Sonja griff nach meiner Hand und zwang mich so, stehen zu bleiben.

»Kannst du mir ein bisschen Geld geben?«

»Wofür?«

Sie wies mit der Hand zur Schule.

»Ich hol uns etwas Feines. Hier gibt es den besten Stoff in der ganzen Stadt. Allerbester, glaube mir. Damit machen wir es uns heute Abend gemütlich.« Sie strahlte. »Das Geilste, was du dir denken kannst.«

Ich sah von Sonja zur Schule.

»Du willst hier Stoff kaufen?«

»Na klar, du Schaf. Auf dem Schulgelände ist es am ungefährlichsten und am billigsten. Die Kids sind bestens versorgt.«

Sie nahm den Geldschein und verschwand im Schülergewimmel. Als sie weg war, gingen mir sonderbare Gedanken durch den Kopf. Wie sehr hatten manche Pauker uns von Vaterland und bürgerlichen Pflichten vorgeschwärmt. Und vor allem von Recht und Ordnung – es konnte gar nicht Rechts genug sein. Und nun ist dieser heilige Ort kleinbürgerlicher Gesinnung zum Handelsplatz für Drogen geworden. Ich dachte an die prüden, konservativen Ansichten und musste lachen. Auch eine philanthropische Entwicklung für ein humanistisches Gymnasium.

Sonja ließ auf sich warten und ich begann langsam zu zweifeln. Sie hatte gegessen, getrunken und Bargeld bekommen. Ich schien tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Schaf zu haben. Vermutlich würde ich weder Sonja noch mein Geld jemals wiedersehen. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese fremde junge Frau meinem farblosen Dasein endlich ein bisschen Leben einhauchen könne. Verliebt? Was heißt schon verliebt? Über Derartiges war ich eigentlich bereits weit hinaus gesunken. Liebe ist nur ein Wort, allerdings ein bedeutsames, das zahllos vergewaltigt wird. Okay, ab und zu braucht man eine Frau, wenn man normal ist, oder? Deswegen brauche ich mich nicht gleich zu verlieben. Dazu reicht Sympathie. Meine Gedanken erschienen mir ein wenig irrational. Zu meiner Verwunderung stand Sonja urplötzlich wieder neben mir.

»Es hat ein bisschen länger gedauert. Der Pavian und der Mucks haben das Klo nach bösen Buben durchsucht. Du hast nicht mehr mit mir gerechnet, stimmt’s?«

»Ich war mir nicht ganz sicher. Gibt es den Mucks immer noch? Der muss doch längst in Pension sein. Woher kennst du die überhaupt, warst du auch hier?«

Sie schnüffelte geräuschvoll am Zeigefinger, den sie unter der Nase vorbeizog.

»Von wegen, aber in den großen Pausen waren wir oft hier. Bester Stoff und süße Jungs, die haben davon erzählt. Und der Meier, also der Mucks, ist noch ganz schön aktiv.«

Ich räusperte mich, um seine Fistelstimme nachzuahmen.

»Mucks war der lauteste Schreihals der Penne. Keinen Mucks, meine Herrschaften! Das war sein Lieblingsspruch. Den Kerl gab es wahrscheinlich schon zu Adenauers miesen Zeiten. Ja, ja, der Meier. Großes M, kleine Eier. Geschichte und Erdkunde. Humpelte wie Goebbels und schwärmte vom Krieg, den sein Alter mitgemacht hat – und er selber leider nicht. ›Keinen Mucks jetzt! Jetzt aber zackig hier!‹ Ein mieser kleiner Gnom, ein richtiger Vorgartenzwerg. Nannte uns immer einen Sauhaufen wie die ersten Menschen.«

»Wir hatten auch so einen. Dem haben wir eigentlich nie zugehört. Das hat ihn rasend gemacht. Na ja, vergiss es. Ich habe unseren Stoff. Beste Qualität. Damit geben wir uns die letzte Ölung.«

»Letzte Ölung?«

»Nun ja, ich nenne es so, total weggetreten eben. Wieso, stört dich das?«

»Ich hatte mal einen Freund, der bekam die letzte Ölung, das war völlig grotesk. Soll ich dir auf dem Weg ein bisschen von Holger erzählen? Und seiner letzten Ölung?«

»Au ja, bitte.«

»Ich kann mich genau an die letzte Ölung von Holger Lenz erinnern. Vor unterdrücktem Lachen hätte ich mir beinahe in die Hosen gemacht. Holger Lenz war ein Bruder von Mom und somit mein Onkel. Er behandelte mich, als wäre ich sein gleichaltriger Cousin und nicht fünfundzwanzig Jahre jünger.

›Wenn du noch einmal Onkel Holger zu mir sagst, sehe ich dich mit dem Hintern nicht mehr an.‹

›Okay, dein Gesicht ist mir wesentlich lieber, Holger. Bloß, was sage ich, wenn du zu Besuch kommst? Onkel ist nun mal Vorschrift, du weißt, wie beschränkt mein Alter ist. Kriege ich Ärger.‹

›Da mach dir mal keine Gedanken, ich habe endgültig Hausverbot bei euch und den anderen. Ich werde die Häuser unserer ehrbaren Familie niemals mehr betreten. Ich könnte zudem die Vorwürfe über meine Abartigkeit gar nicht mehr ertragen. Wenn die könnten, würden sie mich am liebsten wegsperren. Zum Glück leben wir nicht mehr unter Hitler oder Adenauer. Dein Onkel Reinhold – mein sauberer Herr Bruder – würde mich garantiert anzeigen. Und das Gerede, früher sei alles besser und anständiger gewesen, mag ich auch nicht mehr hören. Besonders wenn dein Alter und Reinhold angefangen haben zu saufen und zu politisieren. Jedes Mal endete es auf die gleiche Weise – nun gut, es war nicht alles besser. Um es zu umschreiben, wenn jemand sagt, immerhin die Autobahnen! Kennst du Bert Brecht?‹

›Nicht persönlich, wieso?‹

›Mir fällt ein Gedicht von ihm ein. Die da reden von Vergessen/Die da reden von Verzeihn/All denen schlage man die Fressen/Mit schweren Eisenhämmern ein! hat Brecht so treffend geschrieben. Aber keinem von den Brüdern hat man (leider) je die Fresse eingeschlagen. Ganz im Gegenteil, denk bloß an Reinhold – diese Art Funktionäre funktionieren immer und gehen bei uns nie unter. Was glaubst du, warum ich meinen Laden nicht unter meinem Namen führe? Meine Neigung ist ja schon schlimm genug für den. Wenn ich den guten Namen Lenz zusätzlich in der Öffentlichkeit beschmutzen würde, wäre ich des Lebens nicht mehr sicher. Und so ein Gay – Shop ist sehr öffentlich. Niemand weiß, wo ich lebe, niemand weiß, was ich tu – nur Laura und du. Das reimt sich sogar. Ihr wisst das, weil ich nur euch beiden vertraue, alle anderen können mich mal.‹

›Holger, mir gehen die Leute ebenso auf den Keks, doch was soll ich machen? Wenn du wüsstest, welche Stimmung mittlerweile zu Hause herrscht. Manchmal habe ich das Gefühl, als wenn Mom von uns wegwill. Ich traue mich gar nicht, sie darauf anzusprechen. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Der Alte ist wirklich ein Mistsack. Im September werde ich fünfzehn, dann sind es lediglich drei Jahre, bis ich verduften kann. Hoffentlich bleibt sie so lange.‹

Holger massierte seine Bartstoppeln und wirkte sehr bedrückt. ›Ja, Achim. Wir wollen hoffen, dass sie es so lange aushält. Ich habe sowieso nie begriffen, wieso Renate auf diesen Mann reingefallen ist. Er und Reinhold waren ja nahezu unzertrennlich. Und Reinholds Meinung war Renate geradezu heilig. Was habe ich damals auf sie eingeredet und ihr dringend abgeraten. Aber ich war ja nur der heimliche Homo, nichts zu machen.‹

›Kannst du denn vielleicht jetzt noch mal mit ihr reden? So ein bisschen herumstochern, ob sie tatsächlich daran denkt, mich mit dem alleine zu lassen. Ich glaube, das würde ich nicht aushalten.‹

›Das will ich gerne tun, Achim. Sag ihr, sie soll mich heute Abend anrufen. Mit deinem Vater möchte ich keinerlei Kontakt. Nicht mal per Telefon.‹

Im Gegensatz zum Rest der Verwandtschaft war Holger der einzige Menschliche darunter. Er war weder aufdringlich noch anmaßend, dafür stets freundlich und bedürfnislos. Einsachtzig groß, achtzig Kilo schwer, mit Dreitagebart und wohlgenährtem Behagen wirkte er wie ein großer Junge. Holger war nun mal stockschwul und somit die Schande der Familie. Auf diesen Titel wäre ich stolz gewesen. Holgers Schwulsein wurde sogar schwerer verachtet, als Ausländer zu sein oder Sozialdemokrat.«

Sonjas Blick ruhte auf mir und sie schien äußerst interessiert zuzuhören. In Gedanken an Holger Lenz fiel mir eine drollige Szene ein.

»Als ich fünfzehn und ein grüner Junge war, holte mich Holger mal von der Schule ab und lud mich in ein Bistro zu einem Bier ein. Ein Tee wäre mir lieber gewesen, trotzdem freute ich mich, Holger zu sehen.

›Achim‹, sagte er, ›du wirst nächsten Monat sechzehn Jahre alt, oder?‹

›Stimmt auffallend. Muss ich deswegen nun unbedingt Bier trinken?‹

›Nein, bestell dir meinetwegen Milch! Ich bin für ein Vierteljahr im Ausland und habe mir für dich zum Geburtstag eine besondere Überraschung ausgedacht.‹

›Welche Überraschung?‹, wollte ich wissen. Vielleicht ein Moped, überlegte ich hoffnungsvoll.

Holger trank sein Bier aus und bestellte ein weiteres. ›Hast du schon mal gefickt?‹

Ich erinnere mich, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. Ich nahm einen Schluck Tee. Mit meinen Freunden, die in dieser Materie ebenso unerfahren waren, hatten wir zwar immer fantasiegeladene Geschichten über Mädchen erzählt, aber das war schließlich etwas anderes gewesen. Welcher Halbwüchsige möchte denn hinter der gleichaltrigen Konkurrenz zurückstehen? Also wurde das Blaue vom Himmel gelogen. Ich mochte Holger nicht belügen. Selbst nicht bei dieser intimen Frage. ›Im Prinzip schon ...‹

Er lachte. ›Bloß noch nicht persönlich, ich hab’s begriffen. Du stehst auf Mädchen, nicht wahr?‹

›Na klar, ist doch völlig normal.‹

Er lachte sehr intensiv. ›Danke schön, demzufolge hältst du mich für unnormal?‹

›Nein, so habe ich das nicht gemeint.‹

Holger winkte ab. ›Ich bin im Bilde, was bei euch über mich geredet wird. Unserer Familie möchte ich am liebsten mit dem nackten Arsch in die Fresse springen. Lediglich hygienische Bedenken halten mich davon ab – ich möchte mich nicht verunreinigen. Neben meinem Laden ist doch ein Geschäft für Damenunterwäsche, das weißt du. Slips, BH, Strapse und all dieser Kram. Hast du jemals Mädchen in dem Zeugs gesehen?‹

›Na hör mal. Natürlich! Denkst du, ich guck nicht hin, wenn ich dran vorbeigehe?‹

Er machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste. ›Ich meine nicht auf Bildern, sondern echt. Live. Würde dir das gefallen?‹

›Was für eine Frage. Ja klar. Bildest du dir ein, ich würde im Schwimmbad wegsehen? Also so bin ich ja nun auch nicht. Was glaubst denn du, was für süße Schnuckelhäschen dort herumliegen? Und manche nur im Bikinihöschen.‹

Holger machte erneut eine Handbewegung, die sein Desinteresse deutlich zeigte. ›Ich rede nicht von kleinen Mädchen mit albernen Stehbusen, sondern von richtigen Frauen, die Ahnung haben.‹

Wenn Holger gewusst hätte, wie oft ich schon per Autostopp gefahren war, in der tiefen Hoffnung, auf eine Fahrerin zu treffen, die mich verführen möchte. Hat nur nie hingehauen. ›Mich lassen die in keine Strip-Show, ich bin keine achtzehn und so. Aber ich habe mich mal nach dem Schwimmunterricht in der Mädchenumkleide versteckt. War ganz spannend, bis sie mich entdeckt hatten. Natürlich haben die sofort gemerkt ... war deutlich zu sehen. Ich hatte bloß eine Badehose an. Hat mich sechs Portionen Eis und sechs Cola gekostet, damit die Mädchen nichts verraten.‹

›Achim, der Spanner! Auch das noch. Schau mal, in dem Geschäft, das neben meinem liegt, ist eine Lieferung Reizklamotten angekommen. Und Laura, meine beste Freundin und nebenbei die offizielle Inhaberin unserer beider Läden, hat ein paar Modelle engagiert, die das Zeug für Werbefotos präsentieren. Ich habe ihr von dir und deiner leidlichen Jungfräulichkeit erzählt. Wir haben überlegt, ob du nicht mitkommen willst, um die Gören zu begutachten. Sind lauter gut gewachsene Mädchen, sagt Laura. Und überhaupt nicht prüde. Wenn dir eine gefällt – nur zu. Wir sorgen dann dafür, dass du ordentlich loslegen kannst. Meinetwegen sogar mit mehreren. Unser Geschenk für dich.‹

Ich war überrascht, schämte und zierte mich. Zumindest eine kurze Weile lang. ›Und wenn der das rauskriegt?‹

›Wer? Dein Alter? Wenn du nicht damit prahlst, wird es keiner merken – steht ja nicht plötzlich auf der Stirn geschrieben. Außerdem vergiss mal so langsam deine Jugend, Achim. In zwei Jahren können deine Leute dich mal gern haben. Die lügen ohnehin, wenn sie nur das Maul aufmachen, sind alles Witzfiguren. Was glaubst du denn, weshalb deine Mom abgehauen ist? Weil der mit den Händen an der Hosennaht geboren wurde und auch so zur Hölle fährt, aber du hast das nicht nötig.‹

›Ja, und du hast davon gewusst und mir nichts gesagt. Mich hat fast der Schlag getroffen, als Mom an dem Abend nach Hause kam. Du hättest mich drauf vorbereiten können, Holger. War nicht sehr freundschaftlich von dir.‹

›Nun mach mal einen Punkt, Achim. Ich habe nicht geahnt, wie schnell das geschehen würde. Nur, dass Renate es nicht mehr aushalten konnte. Das habe ich gewusst. Sollte ich sie etwa in die Pfanne hauen? Sie ist nur wegen dir so lange bei dem Kerl geblieben. Dass sie sich urplötzlich in jenen Franzosen verknallt, konnte niemand voraussehen. Der Vorwurf ist unfair. Du bist doch sonst eigentlich ein ganz cleverer Kerl. Lass dich nicht drangsalieren. Außerdem bin ich mir sicher, wenn Renate dich zu deinem Geburtstag besucht und du sie fragst, ob du mitkommen kannst nach Frankreich, sie wird es möglich machen.‹

›Nein, der laufe ich nicht hinterher, da kann sie lange warten. Außerdem weiß kein Mensch, wo sie in Frankreich lebt. Nein, danke.‹

›He, ist ja gut. Fahr mich nicht gleich an. Das ist deine Entscheidung. Was ist, gehen wir zu Laura?‹ Holger legte mir einen Arm väterlich auf die Schultern und führte mich quasi ab.«

Nachdem ich eine Weile schweigend an die Vergangenheit gedacht hatte, stupste Sonja mich an.

»Wie war es mit den Mädchen?«

»Nun mal langsam, Sonja. Ich erzähle dir schon alles. Holger war nicht nur schwul, er bevorzugte auch Lederkleidung, Lack, Handschellen, Peitschen und was weiß ich nicht noch alles. Also hatte er sich folgerichtig überlegt, seine private Vorliebe zum Beruf zu machen, und einen derartigen Laden zu eröffnen. Nach seiner Aussage ging die Kiste ab wie ein Zäpfchen. ›Wenn ich mich im Hintergrund halte, entgehe ich meinem Bruder‹, sagte Holger. ›Außerdem wäre es spannend, zu warten, ob nicht der eine oder andere aus der Familie mal in den Laden kommen würde‹, hatte Holger manchmal gesponnen.«

Sonja und ich waren mittlerweile ganz in der Nähe meiner Wohnung angelangt.

»Scheint ein prima Kerl gewesen zu sein. Stimmt das mit der letzten Ölung? Oder lebt der noch?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist das Traurige an der Geschichte. Es war ungefähr ein knappes Jahr später. Holger hat es leider übertrieben. Er war beliebt unter den Gleichgesinnten, wie er stets selbstzufrieden erzählte. Und er nutzte jede Gelegenheit, um, wie er es ausdrückte, Frischfleisch vor die Flinte zu kriegen. Leider erwies Holger sich als zu wenig wählerisch im Umgang mit manchen Kunden. Und er benutzte die für meinen Geschmack ziemlich außergewöhnlich ausgestattete Kammer, die unauffällig – bezeichnenderweise – im Hinterzimmer des Ladens lag, beinahe schon wahllos. Irgendwann blieb es nicht mehr bei den gewohnten Geschlechtskrankheiten. Wann er sich bei wem infiziert hatte, war nicht festzustellen. Und ob er dies nun wusste oder nicht, war gleichgültig. Nachdem er die Diagnose Positiv erhalten hatte, stellte er sein sexuelles Leben ein, aber das nützte ja nichts mehr. Er magerte in rasendem Tempo ab, wurde schwach und zittrig. Er wollte eine Zeit lang niemanden sehen und bat auch mich, ihn nicht mehr zu besuchen.

Ich kann mich ganz genau an jenen Dienstag erinnern. Ein sonderbares Gefühl der Unruhe, der Kälte ließ mich den ganzen Vormittag über nicht los. Ich entschloss mich, Holger, trotz seiner Bitte dies zu unterlassen, kurz mal zu besuchen. Ich klingelte mehrmals ohne Ergebnis. Dann zog ich den Notschlüssel zu Holgers Wohnung, den ich für alle Fälle bei mir trug, aus der Tasche, öffnete die Tür und betrat seine Wohnung.

›Holger?‹, rief ich mehrmals ohne eine Antwort zu erhalten.

Die Wohnung schien sauber und aufgeräumt wie immer, da dienstags von acht bis elf Uhr Holgers Putzfrau hier beschäftigt war. Putzen, wischen, bügeln und so weiter. Ich schaute auf die Uhr. Kurz vor ein Uhr am Mittag.

Im Schlafzimmer fand ich Holger auf dem Bett. Eine leere Flasche Orangensaft stand auf dem Nachttisch und mehrere Schachteln mit Schlaftabletten lagen daneben. Ich schüttelte Holger, ohne dass er irgendeine Reaktion zeigte. Ich schob die Augenlider hoch. Nur das rotgeäderte Weiß war zu sehen. Ich griff zum Telefon auf dem Nachttisch und wählte die Notrufnummer. Knapp gab ich Holgers Namen und Adresse durch, schilderte so gut ich konnte seinen Zustand und nannte den Aufdruck der Tablettenschachteln.

Zwei Helfer trafen wenig später in der Wohnung ein. Sie untersuchten Holger routiniert und schafften ihn in den Rettungswagen. Ich durfte neben ihm ebenfalls darin Platz nehmen. Nach halsbrecherischer Fahrt unter Einsatz von Blaulicht und Martinshorn sowie dem Überqueren mehrerer Kreuzungen trotz roter Ampeln, trafen wir in der Landesklinik ein.

Auf dem Gang vor der Intensivstation setzte ich mich auf eine der Bänke, wartete und grübelte. Vielleicht wäre es besser gewesen, Holger nicht zu besuchen. Dann hätte er es sicherlich heute Nacht schon hinter sich gehabt. Irgendwie hatte ich automatisch gehandelt – nicht rational. Jetzt, wo es vermutlich zu spät war, begann ich nachzudenken. Wenn ich so schwer krank wäre, würde ich vermutlich auch gerne die Qualen hinter mir haben. Soll ich jetzt wünschen, dass Holger nicht zurückkommt? Bloß nicht dran denken, aber das sagt sich so leicht. Wenn man einmal mit dem Nachdenken angefangen hat, kann man es nicht so leicht abschalten. Die Tür öffnete sich, ein Mensch in Grün mit Mundschutz erschien.

›Sind Sie ein Verwandter von dem Herrn?‹

›Ja, wie geht es ihm?‹

›Den Magen haben wir ihm ausgepumpt, da besteht keine Gefahr mehr. Sein Allgemeinzustand ist ...‹

›Erbärmlich, ich weiß. Holger hat AIDS, das wissen wir. Wann kann er nach Hause?‹

Der Arzt band den Mundschutz ab. ›Ich kann ihn nicht so einfach wieder nach Hause schicken.‹

›Weshalb?‹

Der Arzt setzte sich neben mich auf die Bank. ›HIV-positiv, dazu im Endstadium. Keine schöne Sache, hinzu kommt der Suizidversuch. Kann ich im Grunde genommen verstehen, trotz allem gibt es gewisse Vorschriften. Er muss zunächst einige Tage in die geschlossene Abteilung zur Beobachtung verlegt werden. Es muss festgestellt werden, inwieweit er stabil ist. Im Kopf, meine ich. Und dann ...‹

›Was dann?‹

Müde Augen schauten mir entgegen. ›Nun ja, wir müssen den Fall melden. Ihr Verwandter wird voraussichtlich amtlicherseits unter Betreuung gestellt werden. Das kommt auf das Gutachten an, das vom Amtsgericht angefordert werden wird.‹

›Also halten Sie ihn für gaga?‹ Ich tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn.

›Nein, das nicht, aber er ist sehr schwer krank, tja.‹

›Wäre es denn dann nicht besser, ihm Sterbehilfe zu gewähren?‹

›Dazu kann und werde ich mich nicht äußern.‹

Ich schob einige Haare aus der Stirn. ›Selbstverständlich. Für Ihren Laden ist ein Todkranker ja immerhin ein gutes Geschäft, nicht wahr? Schön lange am Leben halten – stimmt wenigstens die Kasse. Selbst wenn er jetzt gar nicht mehr aufwachen würde. Hauptsache, der Tod lässt noch ein bisschen auf sich warten. Wie steht der Rekord für Komadauer? Ich glaube, in Amerika hat eine Bewusstlosigkeit mal fünfzehn Jahre gedauert, prima Geschäft für das Krankenhaus.‹

›Sechzehn Jahre und ein wenig darüber hinaus, um es genau zu sagen. Ein ethisches und philosophisches Problem. Dabei fällt mir ein, wissen Sie, ob eine Vorsorgevollmacht oder ein Patiententestament existiert?‹

›Ein Testament? Das weiß ich nicht. Ich kann es mir kaum vorstellen, Holger hielt nichts von Zukunftsgedanken. Er benutzte stets den historischen Imperativ – Sieh in allem nur das Schöne.‹

›Ja, der übliche Fehler. Aber ich meine eigentlich kein Testament zur Regelung des Nachlasses, sondern eine Patientenverfügung. Ohne eine solche schriftliche Erklärung dürfte ich nicht mal die künstliche Ernährung einstellen im Fall, dass er das Bewusstsein nicht wiedererlangen sollte. Ich würde mich strafbar machen. Und wer weiß, vielleicht will er gar nicht wirklich sterben, sondern hat lediglich eine Kurzschlusshandlung begangen mit den Tabletten.‹

›So was gibt es?‹ Davon hatte ich nie ein Wort gehört.

›Ja‹, sagte der Arzt. ›Seit 1978, ich kann mich gut an den Fall erinnern. Da lag ein Patient bei uns in der Klinik und sollte operiert werden. Als meine Kollegin ihn über die Risiken aufklärte, reichte er ihr ein paar Blätter, worauf von ihm genauestens auf die anzuwendenden Verfahren im Falle eines unglücklichen Ausgangs der Operation hingewiesen waren, ach was hingewiesen, befohlen hat er das. Wir haben lange über das Papier im Kollegenkreis diskutiert und dann sind wir in sein Krankenzimmer und haben ihm das Testament zurückgegeben und gesagt, dass wir doch nicht wirklich von vornherein über das Misslingen eines solchen Eingriffes nachdenken könnten. Eine Oberärztin sagte ihm: Eigentlich dürften wir einen Mann mit Ihrem juristischen Hintergrund gar nicht mehr erwachen lassen. Gut, erwiderte er, gehen wir es an. Im Nachhinein habe ich in einem Kommentar der Neuen juristischen Wochenschrift gelesen, mein Bruder ist Richter in München, dass im Bayerischen Obersten Landesgericht auf den Bibelcharakter des Wortes Patiententestament hingewiesen wurde. Denn ein Testament verfügt ja für Dinge, die nach dem Tode zu geschehen haben. Eine Verfügung richtete sich aber auf die Zeit nach der Operation – wenn der Patient noch lebt. Seitdem heißt es Patientenverfügung. Hat Herr Lenz anscheinend nicht abgefasst? Schade, dann können wir kaum etwas tun als abzuwarten.‹

›Jetzt muss Holger also elend verrecken? Nur wegen irgendwelcher Scheißvorschriften und Sie waschen sich die Hände in sterilisierter Tugend?‹

Der Grünkittel erhob sich schroff. ›Wenn Sie so mutig denken, kann ich Sie nicht begreifen. Schließlich haben Sie ihn hierher bringen lassen. Guten Tag.‹

Er stand auf und ging ein paar Schritte. Auch wieder wahr, dachte ich, keine gute Tat bleibt ungestraft.

›Herr Doktor! Danke für die Aufklärung. Davon hatte ich keine Ahnung und ... und Entschuldigung.‹

Er blieb kurz stehen, schaute über die Schulter zurück zu mir, nickte und verließ den Gang durch eine Milchglastür.

Drei Tage lang durfte ich Holger nicht besuchen, der nach wie vor auf der geschlossenen Abteilung eingesperrt war. Zur Beobachtung, wie es hieß. Dann durfte ich in diese geschlossene Abteilung – ein sonderbares Gefühl, sich anmelden zu müssen und bis auf die Hosentaschen untersucht zu werden. Nicht mal Geld durfte ich mit hinein nehmen.

Holger war wach, sprach aber kaum, er wirkte stumpf und apathisch. Ich versuchte mehrmals, ihm zu erklären, warum ich ihn nicht so einfach hatte verrecken lassen können.

Er schaute mich sehr lange schweigend an und zwinkerte mir zu. ›Lass nur, Achim, vielleicht hast du ja recht. Möglicherweise wird der Tod noch trostloser als mein Leben als Kranker. Hat keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen. Überhaupt Sinn – was mag der Sinn des Lebens sein?‹

›Das fragst du mich? Du bist mehr als doppelt so alt wie ich und weißt es nicht. Woher soll ausgerechnet ich denn so was wissen, Holger? Meines Erachtens steckt überhaupt kein Sinn im menschlichen Leben. Ich zumindest halte diese Welt nicht ungeheuer wichtig und aufregend. Bisher finde ich alles nur ungeheuer blöde. Was meinst du?‹

Eine Schwester in Nonnentracht trat zu uns. Holger sprach sie für mich völlig überraschend in unterwürfigem Ton an. Wahrscheinlich hatte er Angst vor dem, was da kommt, dachte ich.

›Ehrwürdige Schwester‹, sagte er, ›was ist Ihrer Erfahrung nach der Sinn des Lebens?‹

›Das ist eine sehr schwierige Frage, Herr Lenz. Für mich liegt der Sinn des Lebens in der Nächstenliebe, in der Hilfsbereitschaft und im festen Glauben. Und für Sie?‹

Holgers Mundwinkel zuckten beinahe belustigt. ›Ich bin gerade mal 43 Jahre alt und bin mir nicht ganz sicher. Fressen, Saufen und Ficken nehme ich an, was, Achim?‹

Ich schaute die Ordensfrau an, deren Miene gefror. ›Dieses Vokabular benutze ich nicht, Herr Lenz. Und auf eine solch primitive Stufe lasse ich mich nicht herab. Sie sind ein sehr undankbarer Mensch, danken Sie Gott, dass er Ihnen das Leben noch mal geschenkt hat.‹

Sie rauschte aus dem Zimmer.

›Musste das sein, Holger? Was hat sie dir getan?‹

›Nichts, aber gegen geheucheltes Mitleid kann man sich nur durch Beleidigungen wehren. Außerdem hasse ich sie und die verlogene Frömmigkeit wie die Pest. Bevor die heilige katholische Inquisition ihre zweifelnden Opfer lebendig verbrannte, zelebrierte sie feierlichste Gottesdienste und heilige Messen, die sie bis heute nicht beschämt um Vergebung betteln lässt. Diese Nonne ist stolz, nie ein Geschlechtsteil betastet zu haben – nicht mal ihr eigenes. Sie erwartet dafür dankbar den Lohn der Ewigkeit, der ihr gewiss scheint. Diese religiösen Fanatiker sind aus totem Holz, denn das Lebendige ist ihnen einerlei. Die gerade lebt nur für diesen blindwütigen Irrtum, den sie Glauben nennt, der bisher auf dieser Welt nur Ozeane von Blut gekostet hat. Vom Denken und Zweifeln dispensierte Gläubige sind um ein Vielfaches aggressiver und erbarmungsloser als wir skeptischen Ungläubigen – einen Zweifler ohne Toleranz kann es nämlich nicht geben. Komisch, jetzt geht es mir plötzlich etwas besser.‹

Nach der Schule besuchte ich Holger täglich. Eines Nachmittags saß ein Mann an Holgers Bett. Er war qualitätsbewusst gekleidet, trug eine filigrane Brille, schien mit sichtbar starkem Willen ausgestattet und strahlte sachliche Routine aus. Er sprach ruhig und langsam zu Holger, mit vorsichtigem Vokabular. Es wirkte, als spräche er zu einem naiven Studenten. Ich begrüßte Holger, dessen Gesprächspartner sich vorstellte.

›Sie müssen der einzig für ihn akzeptable Verwandte von Herrn Lenz sein, von dem er erzählte. Der häufig genannte Achim. Mein Name ist Göttlich.‹

›Ach du liebe Zeit‹, wunderte ich mich. ›Wie heißen Sie denn?‹

›Wie ich sagte, Göttlich, Ulrich Göttlich. Ich bin vom Amtsgericht mit der Betreuung von Herrn Lenz beauftragt. Ich werde mir Mühe geben, seine Interessen so gut wie möglich zu vertreten.‹

›Verwandter stimmt, aber einziger stimmt nicht. Es lungern noch einige Habgierige im Hintergrund, die scharf auf Holgers Nachlass sind. Vor denen müssen Sie sich in Acht nehmen, Herr Göttlich.‹

Er schmunzelte. ›Ich sagte akzeptabler. Ich tue hier außerdem nur meine Pflicht nach Recht und Gesetz.‹

›Ach, das habe ich zu Hause schon zur Genüge gehört. Ich habe nur Befehle ausgeführt! Da sind Kerle drunter, die werfen sogar im Keller dunkle Schatten. Kennen Sie Reinhold Lenz?‹

Herr Göttlich wirkte belustigt. ›Der Reinhold Lenz?‹

›Ja genau, Holgers Bruder. Der Mann, der seine Finger überall in der Kommunalpolitik drin hat, wenn es um Bestechung, Filz und Korruption geht.‹

›Natürlich kenne ich ihn und hatte beinahe erhofft, dass ich mit diesem Herrn zu tun haben werde. Vorsorglich habe ich mich deshalb umfassend abgesichert. Zum Glück ist der Rechtspfleger in dieser Sache ein sehr vernünftiger Mann.‹

›Rechtspfleger, was ist das?‹

›So wird ein Richter in Vormundschaftsfällen bezeichnet. Und Herr Richter Deutschmann ist ein ausgezeichneter Beamter.‹

›Was soll mit Holger geschehen?‹

›Zunächst muss er schleunigst hier heraus, nicht wahr, Herr Lenz? Ihn wieder in seine Wohnung zu verfrachten, halte ich für wenig empfehlenswert. Die Klinikärzte befürworten eine Verlegung in ein Hospiz. Ich kenne einige Einrichtungen der Aids-Hilfe, wo er intensive und liebevolle Pflege bekäme.‹

Er lächelte Holger sanft zu.

Ob der vielleicht wie Holger auch ein von ist?, grübelte ich. Einer von hinten?

›Und darüber habe ich mit Herrn Lenz gerade diskutiert. Wir wollen das doch beide, nicht wahr, Herr Lenz? Es handelt sich wirklich um das beste Hospiz der Stadt.‹

Herr Göttlich redete noch eine Weile mit wahren Engelszungen. Wenn der Tantiemen von den Einrichtungen bekommen würde, könnte er kaum überzeugender argumentieren, dachte ich. Man bekam beinahe Lust, selbst in eine solche Einrichtung zu ziehen.

Nachdem Holger von einem Krankenpfleger zum Abendessen abgeholt wurde, verließ ich mit Herrn Göttlich die Klinik. Direkt vor dem Eingang auf dem Notfallparkplatz parkte ein offensichtlich nagelneues weißes Porsche Cabriolet, das Herr Göttlich ansteuerte.

›Und Sie bestimmen nun, was mit Holger geschieht, Herr Göttlich?‹

›In der Tat, ich bin vom Amtsgericht als gerichtlich bestellter Betreuer eingesetzt, mit umfassenden Aufgabenkreisen. Gut, dass Sie mich fragen, Herr Hofmann. Herr Lenz wünscht nicht, dass irgendjemand aus seiner Familie in seinem Privatleben herumstöbert. Außer Ihnen. Er hat mir einige der Dinge benannt, die er gerne aus seiner Wohnung ins Hospiz mitnehmen möchte. Auf den Rest legt er nach seinen Ausführungen offenbar keinen Wert. Ich würde seinem Wunsch gerne entsprechen. Natürlich habe ich einen Entrümpler an der Hand, der so was für mich erledigt. Aber ich glaube, dass es ihm lieber wäre, wenn Sie die persönlichen Gegenstände, die Herr Lenz wünscht, sondieren und ins Heim liefern.‹

›Klar, nur wie soll das gehen? Ich habe weder Führerschein noch ein Auto.‹

›Wie gesagt, ich habe den Entrümpler, der den Transport erledigt. Ich bitte Sie, dabei ein wenig aufzupassen. Denn meine Zeit erlaubt es leider nicht, ihn zu beaufsichtigen. Und unter uns, bezahlt bekäme ich es auch nicht, es handelt sich schließlich nicht um eine Betreueraufgabe.‹

›Das sehe ich ein. Solch einen Wagen muss man zudem erst mal bezahlen können. Geht ja nicht mit Gottes Lohn.‹

Er blickte mich belustigt an. ›Ach so. Mein Auto verwirrt Sie, und nun glauben Sie ... Da muss ich Sie enttäuschen, Geld bedeutet mir nichts. Ich übernehme nur Fälle, die mich menschlich interessieren. Als der Richter mir den Fall Lenz vorlegte, ahnte ich instinktiv, um welche Familie Lenz es sich vermutlich handeln würde. Und, wir sind ja unter uns, jenem Reinhold Lenz, um den es sich wohl handelt, möchte ich aus tiefstem Herzen schaden, so viel es geht. Und wenn dieser Herr nicht an das Geld seines Bruders kommt, wird er schraubenförmig aus dem Anzug sausen. Hoffe ich zumindest. Wenn Sie wollen, können Sie das gerne weitergeben – ich weiß von nichts und habe auch nichts gesagt.‹

›Glauben Sie wirklich, dass ich dem Pack irgendetwas weitergebe? Halten Sie mich für so einen ...‹

›Nein, deswegen rede ich so offen mit Ihnen, Herr Hofmann. Der Mensch da drinnen‹, er wies zum Hospiz, ›der scheint Sie bedingungslos zu lieben. Und ich möchte gerne wissen, ob Sie das wert sind.‹

›Das wert bin? Was für ein Quatsch, selbstverständlich mache ich das für Holger. Die Mischpoche wird in die Luft gehen, wenn nichts zu holen sein wird.‹

›Hier ist meine Karte, rufen Sie mich an, wenn Sie so weit sind, oder kommen Sie vorbei. Je schneller, desto besser. Da gibt es nämlich noch etwas, was Sie dann erfahren werden.‹

Mit Kavalierstart und unter Zurücklassen erheblichen Gummistaubes hetzte der Wagen vom Klinikgelände, Sonja.«

»Was ist ein Hospiz?« Sonja war stehen geblieben.

»Die Ärztin Cicely Saunders hat 1967 in einem Londoner Vorort die erste Sterbeklinik, das St. Christophers Hospice gegründet. So eine Art Sterbehaus. Sie nannte es Hospiz, weil im Mittelalter sogenannte Hospize Herbergen waren, die Pilgern auf ihrer Reise Unterkunft, Verköstigung und Gemeinschaft anboten. Und das St. Christophers sollte die Menschen am Ende ihrer irdischen Reise in Würde sterben lassen können. Solange du krauchen kannst, bist du darin nahezu relativ frei. Aber dennoch unter, na sagen wir mal, freundlicher Beobachtung. Wenn es dem Ende zugeht, brauchst du gar nicht erst mehr umzuziehen und erhältst palliative Sterbebegleitung.«

»Was für eine Begleitung?«

»Palliative Sterbebegleitung. Dabei steht die medikamentöse Schmerzunterdrückung im Vordergrund. Weiß ich alles von den Leuten, die im Hospiz arbeiten. War eigentlich eine spannende Zeit.«

»Warum hast du diesen Beruf nicht ergriffen?«

»Nein, Sonja. Nachdem Holger gestorben war, habe ich meine Zeit bei meinem Alten zu Hause abgesessen. Kurz darauf kam der Unfall mit dem Auge. Danach bin ich durchgesackt, oder besser gesagt, ich habe mich fallen lassen. Stimmt nicht ganz, eine Weile habe ich sogar recht bürgerlich gelebt. Und dann kam das Übliche. Pleite, Scheidung, Alkohol und Sozialhilfe. Fertig aus! Du siehst ja selbst, wie ich lebe. Es gibt Tausende solcher Karrieren wie meine. Du bist sozusagen der erste Lichtblick in den letzten zwanzig Jahren.«

»Hui, nun wirst du ja richtig galant. Musst jetzt nur noch behaupten, du hättest bis zum heutigen Tag auf mich gewartet.«

»Nein, die letzten Jahre habe ich eigentlich nur auf den Tod gewartet.«

»Du spinnst total!«

»Keineswegs. Ich stehe mittags auf, latsche in den Großmarkt und kümmere mich ein paar langweilige Stunden um leere Kisten und Kartons. Anschließend mache ich mich auf den Heimweg, esse irgendwas, warte darauf, dass ich müde werde und gehe ins Bett. Am nächsten Morgen stehe ich wieder auf. Ist ungeheuer prickelnd, mein Leben.«

»Unfug, du musst nur irgendwas unternehmen. Warum schreibst du nicht die Geschichte von Holger auf? In einem Buch.«

»In Deutsch hatte ich nur eine knappe Vier, das Buch würde bestimmt miserabel. Außerdem würde sich kein Mensch dafür interessieren.«

»Doch, ich zum Beispiel. Ich finde es sehr spannend. Übrigens, was haben eure Leute gesagt? Wussten die von Holgers Situation?«

»Man vermied in der Familie, über Holger auch nur ein Wort zu verlieren. Von dem Suizidversuch wusste keiner – hätte ich das erzählen sollen? Na also. Aber Reinhold bekam von irgendeiner Seite einen Hinweis und ging wütend an die Decke. Berief den Familienrat ein. Vorsitz und Wortführer Reinhold Lenz, einziges Mitglied der Familie, Oskar Hofmann, mein Alter. Die zwei waren seit ewigen Zeiten dicke Kameraden – meine Anwesenheit wurde großzügig hingenommen, denn niemand wusste von meiner innigen Beziehung zu Holger. In Holgers Wohnung hatte ich seine Wunschdinge gesucht. Die sind ins Heim gebracht worden. Dreitausend Mark hatte ich in bar gefunden und Herrn Göttlich übergeben. Dann hat er mich ins Hospiz gefahren und Holger das Geld gezeigt.

›Der ist es wirklich wert‹, hat er gesagt, dass ich rot bis in die Haarwurzeln geworden bin.

Onkel Reinhold verfügte über beste Beziehungen zu diversen Beamten in sämtlichen Behörden. Verkehrte mit Bankangestellten verschiedener Häuser, mit Privatunternehmern und Juristen der Stadt. Im Familienrat dozierte er nun: ›Mein Bruder, der schwule Hund, war zu allem Übel an einem Sexladen für abartige Männer in der Frankfurter Straße beteiligt. Dieses unsägliche Homo-Kabinett neben einem Laden für Damenwäsche. Beide Läden gehören offiziell einer Laura Sowieso. Deswegen habe ich auch nie erfahren, wovon mein sauberer Bruder lebt, oder wo. Er hauste unangemeldet in einer Wohnung im Industrieviertel, die gehört ebenfalls dieser Laura. Hat mein Bruder sich klug ausgedacht – dort wird so gut wie nie kontrolliert. Zum Glück habe ich meine Leute. Ihr habt recht, darauf hätte ich eher kommen können, aber ich wollte überhaupt nicht wissen, wo dieser Schandfleck unserer Familie abgeblieben ist. Da ich vor ein paar Tagen durch einen puren Zufall erfahren habe, dass der einen Selbstmordversuch unternommen hat und nun in einem Hospiz untergebracht ist, was einen Haufen Geld im Monat kostet, habe ich meine Leute losgeschickt und alles herausbekommen. Gegen diese Laura wird schon ermittelt. Ich habe einen findigen Staatsanwalt an der Hand. Wir wollen doch mal sehen, ob dort nichts zu holen ist. Immerhin bin ich der nächste Verwandte – kein Mensch weiß, wo Renate ist, Gott sei Dank. Wenn Holger (hätte nie gedacht, wie angewidert man einen Namen aussprechen kann) tot ist, bin ich der Erbe und du, Oskar, mein Schwager, mit mir. Zunächst will ich herausfinden, ob der Vermögen hat und wenn, wie viel. Und als zweites muss er sofort aus diesem sündteuren Hospiz heraus. Da sehe ich keine Probleme.‹«

»Du hast das alles ruhig mit angehört, Achim? Ich glaube, ich wäre wild geworden.« Sonja schaute mich wütend an.

»Dazu bestand kein Grund. Nachdem die Sachen von Holgers Wunschzettel ins Hospiz transportiert worden waren, bin ich doch zu Herrn Göttlich gegangen und habe ihm Holgers Geld gegeben. Ich habe erzählt, dass ich rot geworden bin, als Herr Göttlich dies Holger sagte. Danach sind wir in das Betreuerbüro gefahren und Herr Göttlich zog einen Aktenordner aus dem Büroschrank.

›Ich werde das Geld auf das Treuhandkonto einzahlen, das ich für Herrn Lenz führe und auf dem bereits das Geld seiner ehemaligen Konten, die ich aufgelöst habe, eingezahlt ist. Ferner möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Herr Lenz in einem Testament bestimmt hat, dass Sie, Herr Hofmann, der Erbe seines Vermögens sein werden. Allerdings – zur Sicherheit vor der Familie, wie er sich ausdrückte – erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres darüber verfügen können. Ich nehme an, dass Sie akzeptieren, wenn ich für Sie als Treuhänder agiere? Sehr schön. Der Laden und die Wohnung gehören sowieso offiziell jener Laura, seiner Geschäftspartnerin. Ich habe dennoch einen Notarvertrag diesbezüglich anfertigen lassen, der die Dame vor allen Repressalien schützen wird. Herr Lenz wünschte dies so. Warum lachen Sie, Herr Hofmann?‹

›Wenn die Familie das erfährt, besonders Reinhold Lenz, gibt es Bürgerkrieg. Sind Sie sicher, dass der Ihnen nicht ans Bein pinkeln kann?‹

›Das darf er sehr gerne probieren. Wenn ich ihm dabei auch nur die kleinste Unregelmäßigkeit nachweisen kann, dann ist es ganz schnell vorbei mit ihm.‹

›Na, ich weiß nicht, der hat ziemlich gute Beziehungen und er kennt Gott und die Welt, Herr Göttlich.‹

Er hauchte die Fingernägel der rechten Hand an und rieb sie am Revers des Jacketts.

›Davon stimmt weder das eine noch das andere. Selbst wenn Reinhold Lenz dies gerne behauptet. Ich dagegen kann auf Unterstützung von ganz oben bauen. Nein, nicht der liebe Gott, Herr Hofmann. Mein Schwager ist Ministerpräsident in diesem schönen Land und im Gespräch für Schloss Bellevue. Es ist schon göttlich, einen möglichen Bundespräsidenten zum Schwager zu haben. Sie würden mir übrigens eine Freude bereiten, wenn Sie diese private Information für sich behielten, Herr Hofmann.‹

›Selbstverständlich, Herr Göttlich. Etwas wüsste ich aber zu gerne.‹

›Und das wäre?‹

›Sie wissen vermutlich von Holger, dass ich im September erst siebzehn Jahre alt werde. Sie reden hingegen mit mir, als wäre ich bereits erwachsen.‹

›Das ist nur verständlich, denn Herr Lenz hat mir von Ihnen und Ihrem Umfeld erzählt. Er hält große Stücke auf Sie. Nach seiner Einschätzung stellen Sie eine löbliche Ausnahme in einer dümmlichen Familie dar. Um Himmels willen, das sind seine Worte, nicht meine. Wenn ich mir anschaue, wie Sie sich geben, glaube ich, er liegt nicht ganz falsch ... Wenn Sie über das Testament bitte ebenfalls mit niemandem reden, auch nicht mit Herrn Lenz selbst. Er möchte nicht, dass in der Familie irgendeine Information über seine Nachlasswünsche vor der Zeit bekannt wird.‹«

»Wie kommt es denn dann«, fragte Sonja, »dass du so abgerutscht bist? Wenn die Menschen dich doch für clever gehalten haben, das passt irgendwie nicht zusammen.«

»Das habe ich dir vorhin schon mal erläutert. Es gibt Männer, die gehen den Bach runter, wenn ihnen die Frau wegläuft. Andere verzweifeln am beruflichen Misserfolg und so mancher am finanziellen. Und bei mir ... ich hatte einfach die Schnauze voll von allem. Mit sechzehn und siebzehn hatte ich ziemlich große Zukunftshoffnungen – der Anfang vom Ende kam rund zwei Jahre später. Jetzt lass mich weiter von Holger erzählen.

Ich fühlte mich natürlich sehr geschmeichelt. Und als nach und nach immer mehr Hintergründe über Holger herauskamen, tagten die beiden Familienoberhäupter permanent. Reinhold Lenz bekam unter Umgehung des Bankgeheimnisses sehr schnell heraus, wie viel Geld Holger mit seinem Laden verdient und welch erhebliche Summe er davon gespart hatte. Das waren begeisternde finanzielle Aussichten. Leider ließ Holger sich regelrecht hängen, ohne den geringsten Lebenswillen zu zeigen. Er wurde recht bald ins sogenannte Sterbehaus umgebettet. Die Aussichten für ein baldiges Ableben schienen gewiss, wie Reinhold bei dem Träger des Hospizes in Erfahrung brachte. Darüber rieb er sich zwar die Hände, aber dass er keine Chance hatte, Holger in eine andere und vor allem billigere Einrichtung zu bringen, brachte ihn und meinen Alten um den letzten Rest Verstand. Wenn sie zusammensaßen und sich berieten, schwelgten sie in Hoffnungen, bald kassieren zu können. Holger enttäuschte sie sogar noch auf dem Sterbebett. Der Winter kam, Weihnachten verging, und selbst den Jahreswechsel erlebte Holger. Er dämmerte einfach nicht schnell genug dahin.

Aufgrund der herzlichen Pflege und der umfassenden Medikation im Sterbehaus bäumte sich Holgers Lebenswille ein wenig auf. Der nahende Frühling bewirkte, dass Holger oftmals am Fenster sitzen wollte, um die knospenden Pflanzen zu beobachten.

Das Unfassbare trat ein. Holger nahm wieder normale Nahrung zu sich. Wirkte kräftiger und begann leichtes Interesse für die Umwelt zu zeigen. Bei meinen Besuchen willigte er immer häufiger ein, wenn die Sonne schien, ein wenig im Hospizgarten spazieren zu gehen. Bloß auf die Straße, in die Öffentlichkeit wollte er auf gar keinen Fall.

›Meinst du, ich will, dass mir alle Leute hinterher starren wie einem Gespenst – selbst wenn ich so aussehe? Kommt ja überhaupt nicht in die Tüte.‹

Zu Hause haderte man mit dem Schicksal, denn jeden Monat erhielt das Pflegeheim einen erheblichen Batzen von Holgers Vermögen als Pflegekosten. Holger war weder krankenversichert, noch sonst etwas in der Art. Er glaubte nun mal nicht an die Zukunft. Das zehrte bitter an den Rücklagen. Nicht mehr lang, und das Erbe wäre vertan. Man zeigte sich rasend vor Wut, besonders Reinhold Lenz. Wenn ich Holger davon berichtete, lebte er förmlich auf.

Wenn wir nicht im Garten spazieren gingen, erzählte mir Holger von früher oder wir pokerten. Holger spielte begeistert Poker. Früher habe er allerdings ausnahmslos Strip-Poker mit seinen Jungs gespielt, berichtete er mir mit lüsternem Augenaufschlag. Wenn er gewonnen hatte, mussten die Jungs einen Teil der Kleidung ablegen. Wenn er verlor, zahlte er einen Betrag in den Jackpot, den die Jungs sich hinterher teilen durften. Ab und zu schilderte er seine diesbezüglichen Erinnerungen, und obwohl mir dabei ein wenig unappetitlich zumute war, ließ ich Holger erzählen. Die Erinnerung schien ihn aufzubauen. Wir spielten natürlich nicht um Geld, sondern um geröstete Sonnenblumenkerne – Holgers Lieblingsnascherei.

An jenem Tag im Juni 1986 pokerten wir im Garten unter den ausladenden Ästen des Kirschbaums.

›Ich habe gerade ein Blatt auf der Hand‹, lachte er, ›das hat mir mal drei wunderbare Nächte beschert. Mit einem Bengel wie aus dem Bilderbuch. Ich setze alles und ziehe dir die Hosen aus.‹

›Das könnte dir wohl so passen, was?‹

Holger schmatzte und ich überlegte unvermittelt, ob sich bei ihm eigentlich in der Beziehung noch irgendetwas tat. Ihn zu fragen traute ich mich nicht. Holger schmatzte erneut.

›Eine gute Idee, lass uns doch mal darum spielen. Schon ewig lang keinen hübschen Arsch mehr in den Händen gehabt.‹

Ich tippte mir an die Stirn. ›Vergiss es einfach. Arschlecken, Rasieren, Dreifuffzig, aber nicht mit mir.‹

Holger lehnte sich zurück. ›Seit Kurzem hast du einen Ton am Leib wie ein Landsknecht.‹

Ich schaute ihn an und musste unwillkürlich schmunzeln. ›Werde ich ja bald sein.‹

Holger legte die Karten verdeckt auf den Tisch. ›Was wirst du bald sein?‹

›Soldat. Dauert nur noch ein Vierteljahr. Anfang Oktober geht es los. Ich habe mich freiwillig gemeldet.‹

›Du hast dich freiwillig zu denen ... in Oliv gemeldet?‹ Holger schloss die Augen und wirkte, als müsse er sich selbst zur Ruhe aufrufen. ›Ich fass es nicht.‹

›Wozu regst du dich auf, hin müsste ich sowieso.‹

Holger rieb sich das unrasierte Kinn. ›Militär ist was für Volltrottel. Früher erbte der klügste und tüchtigste Sohn Haus und Hof – der dümmste wurde Offizier. Ich kenne keinen einzigen Uniformierten, der eine Leuchte ist, dafür viele Armleuchter. Mann! Achim, dich habe ich für vernünftig gehalten.‹

›Sieh es mal von meinem Standpunkt aus, Holger. Unsere Väter haben jedem Anführer geglaubt, statt selbst zu denken, haben immer wieder gehorsam Pleite gemacht und begreifen nicht, dass wir sie belächeln. Seit Jahren warte ich darauf, dass ich endlich achtzehn werde und weg kann. Mom ist seit einer Ewigkeit fort – hat mich prima im Stich gelassen mit dem. Ich will auch nur weg. Aber wohin? Wo finde ich Ruhe, mir zu überlegen, was ich tun möchte? Beim Bund, habe ich mir gedacht. Dort habe ich Zeit, mir etwas einfallen zu lassen. Den Führerschein kann ich da kostenlos machen und vielleicht sogar einen Beruf erlernen. Auf jeden Fall kann ich von zu Hause weg und werde versorgt sein. Zusätzlich bekomme ich etwas Geld in die Finger und hinterher eine kleine Abfindung.‹

Holger wirkte nicht überzeugt. ›Wie du meinst. Einen Tipp will ich dir auf jeden Fall mitgeben, Achim. Wenn irgendwer, egal wer, egal wann und egal wo – nicht nur beim Militär – sich einbildet, wichtiger zu sein als du und dir Vorschriften oder Schwierigkeiten machen will, weil er sich für etwas Besseres hält, stell ihn dir in Unterhosen vor. Oder noch besser beim Kacken, da sind wir nämlich alle gleich, Männer und Frauen, Könige und Bettler. Die Vorstellung hat mir stets geholfen, niemanden mehr ernst zu nehmen. Das wird dir ebenso gehen, man muss nämlich automatisch lachen.‹

Die Vorstellung gefiel mir tatsächlich sehr.

›Stimmt, nicht wahr? Wenn ich an die ganzen Bengel denke, die in einer Kaserne herumlaufen. Hach, eigentlich müsste ich dich geradezu beneiden.‹

Unweigerlich überflog mich eine Gänsehaut. ›Macht mich nicht an. Finde ich wirklich nicht im Mindesten erregend.‹

Holger nahm die Karten auf. ›Denkst du noch manchmal an Lauras Mädchen? Ist jetzt fast zwei Jahre her‹, fragte er und schaute mich über die Karten hinweg an.

›Und ob. Das war supergeil. Dafür kann ich mich nur immer wieder bedanken.‹

›Das trifft sich gut. Wie gesagt, ich setze alle Kerne, muss meine verlorenen schließlich zurückhaben. Was denn, du gehst mit? Wirst es nie lernen, ich habe vier Asse. Zahlen, junger Freund!‹ Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

Ich legte mein Blatt auf den Tisch. ›Der Pott gehört mir, eine Straße in Herz, ein Royal Flush ist doch wohl mehr als ein lächerlicher Vierer, oder?‹

Ich strich die Kerne auf meinen Vorratshaufen. Holger hatte seinen Einsatz sowieso schon langsam knabbernd verringert.

›Das hat man davon, wenn man kleinen Jungs das Leben zeigt. Das ist also der Dank!‹, schimpfte Holger gespielt beleidigt. ›Frische Luft macht hungrig. Wie wäre es mit einer schönen feinen Pizza?‹

›Kein Problem, lassen wir zweimal Pizza kommen. Hast du diesbezüglich irgendeinen besonderen Wunsch?‹

›Ja, nicht kommen lassen. Ich möchte, dass du mich in die Trattoria an der Ecke der Berliner Straße begleitest. War früher mein Lieblingslokal. Ich möchte noch einmal dort draußen sitzen. Ein Glas Prosecco vorneweg. Dann einen Insalata mista vielleicht. Und meine Lieblingspizza. Pizza con Wurstl.‹

›Was soll denn das sein, Wurstpizza?‹

›Genau, gibt es eigentlich nur in Süditalien. Habe ich in Neapel gegessen. Carlo hat mir das in der Trattoria zubereitet – er kommt aus der Gegend. Pizzateig wie üblich, Tomatensoße mit Knoblauch und Gewürzen al Gusto. Eine feine Bratwurst gut braten und dann in dünne Scheiben schneiden. Carlo hat das immer mit einer Schere gemacht, sonst zerfleddert sie zu leicht. Reibekäse drüber und ab in den Ofen – ein Gedicht, sage ich dir. Dazu ein Glas Taurasi, abgefüllt von Seveso.‹

›Was ist los?‹, fragte ich. ›Mit Dioxin, oder was?‹

›Wieso Dioxin?‹

›Hast Seveso gesagt. Ich habe gelesen, dass dort am 10. Juli vor zehn Jahren eine Dioxinkatastrophe war. Die füllen auch Wein ab? Bäh!‹

›Muss eine Art Aids-Verkalkung sein, ich meine Vesevo, ein Superrotwein aus Avellino zur Pizza. Keine Sorge, ich bezahle. Der Göttlich hat mir heute mein Taschengeld ausgezahlt.‹

Holger hatte in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit partout gemieden. Deshalb wunderte mich sein plötzlicher Wunsch.

›In ein Restaurant?‹, fragte ich nach. ›Habe ich dich richtig verstanden?‹

›Ja, mein Herr. Oder schämst du dich, mit mir gesehen zu werden?‹

›Blödmann, dann hätte ich nicht so oft versucht, dich hier aus dem Loch zu locken. Ich wundere mich nur ein bisschen. Ist irgendetwas Besonderes los?‹

›Nein, Achim. Aber ich fühle mich heute blendend in Form.‹ Holger schwieg einige Zeit. ›Und ich möchte einmal hier raus. Noch einmal unter Menschen sein. Selbst auf die Gefahr hin, dass einige sich vor mir ekeln. Mir ansehen, was mit mir los ist. Jugend sehen, Leben spüren, Stimmen hören, den Atem der Welt schmecken.‹

Ich lachte. ›Nun wirst du richtig poetisch.‹

Holger grinste gelangweilt. ›Stimmt nicht, Poesie ist nichts für meinen Geschmack, Liebesgedichte und so. Ich habe außerdem nie verstanden, deutsche Tiefe für ein echtes Gefühl zu halten. Wenn mir ein Kerl gefallen hat, habe ich ihm das gesagt und direkt gefragt, ob oder ob nicht. Basta. Also keine poetischen Anwandlungen, ich will einfach einmal raus hier und mir alles ansehen. Noch einmal rastloses Feierabendgedränge erleben.‹

›Du sagst, noch einmal erleben. Was würdest du tun, wenn das ginge?‹

›Wenn was ginge?‹

›Na, wenn du dein Leben noch mal ...‹, mit den Händen machte ich eine hilflose Geste, ›... leben könntest?‹

Holger lächelte schwach. ›Wenn du wüsstest, wie oft ich mir in letzter Zeit diese Frage gestellt habe. Wenn ich ehrlich sein soll, ich würde alles genau so machen. Vielleicht würde ich mich hier und da besser beraten lassen. Apropos Tipp. Kleiner, tu mir einen Gefallen. Wenn du irgendwann – egal wobei, eine Chance siehst, einen tollen Gewinn einzustreichen, dann greife zu. Und denke erst hinterher nach, ob es legal sein wird oder nicht. Ich habe immer zugegriffen, ob bei Geld oder süßen Bengels und wozu sollte ich irgendetwas ändern? Ich habe einen Haufen dummer Fehler gemacht. Wenn ich, vorausgesetzt ich hätte diese zweite Chance, nun diesen Haufen dummer Fehler nicht mehr begehen würde, sondern andere? Vielleicht sogar dadurch von einem unbekannten Schlamassel in den nächsten stolperte? Das machte doch überhaupt keinen Sinn. Mein Leben ist das Schönste, das ich mir vorstellen kann. Ich hatte von allem gehörig. Gutes wie Schlechtes. Und das jetzt‹, er wies mit einer lässigen Handbewegung über seinen morbiden Körper, ›ist nicht halb so schlimm, wie du denkst. Die Schmerzen, unter denen ich gelegentlich leide, sind wahrhaftig unangenehm, zum Glück kann man die betäuben. Früher sind die Menschen mit dreißig zufrieden gestorben. Heutzutage quält mancher sich bis siebzig, achtzig, neunzig Jahren durch. In Amerika habe ich Greise gesehen, die waren so fit geblieben und sahen im Sarg aus – unmittelbar vor dem Verbrennen, wie das blühende Leben. Ich bin ausgemergelt. Ich bin krank, halb verfault – und genau so wollte ich sterben. Wenn das denn partout nicht zu vermeiden ist. Aber ich habe auch gelebt, jeden Tag genossen – und besonders jede Nacht.‹ Er ließ die Worte ein wenig wirken. ›Und jetzt möchte ich mit meinem Lieblingsdingenskirchen noch mal Pizza futtern gehen. Was ist nun, gehen wir oder nicht?‹«

Déjà vu eines Versagers

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