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14.

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Statt gestorben zu sein, habe ich vorhin unvermuteterweise nackt unter lauter anderen Nackten gestanden und mir in den Hintern schauen lassen müssen – Zustände sind das!

Jetzt ziehe ich mich wieder an. Was hier passiert, das passiert mir ganz offensichtlich zum zweiten Mal. Junge, Junge.

»Heh, Furzer!«

Damit bin ich gemeint. »Ja.«

»Du bist vielleicht eine Marke. Ich dachte, mich zerreißt es. Ich bin Peter. Peter aus Braunschweig. Ich sage immer, keiner macht’s der Meta, wie Peter. Hahaha.«

Ein anderer Nackter schlägt mir auf die Schulter. Den kenne ich nicht. Nie gesehen. »Wie wäre es, Jungs, wenn wir gemeinsam auf eine Stube kämen? Wir drei, das wäre ein echter Knaller.«

Also das ist mir jetzt völlig fremd.

»Na ja, warum nicht«, sage ich. »Ich bin der Achim, das ist Peter.«

»Hallo Achim, hallo Peter, ich bin Hartmut. Hartmut Göring.«

Mir kippt glatt die Kinnlade runter. »Bist du verwandt mit dem

»Nein, mein Großvater kommt aus der Gegend von Basel, da ist dieser Name weit verbreitet. Leider«, bedauert Hartmut.

»Wieso leider? Bist du ein bisschen bescheuert?«

»Nö, aber wenn ich mit dem Göring verwandt wäre, müsste ich hier und heute garantiert nicht den Schützen Arsch spielen, sondern würde eine dicke Pension kassieren oder wäre vielleicht sogar Feldmarschall.«

»Gibt es ja gar nicht mehr«, winkt Peter ab.

»Nein, jetzt nicht, aber dann gäbe es so einen Rang schon. Kannst du Gift drauf nehmen, wie mir die ganzen hohen Herren in den Hintern kröchen. Mit Hermann Göring als Ahnen wäre ich eine Glanznummer in Bonn beim Dicken.«

»Welchem Dicken?«, frage ich.

»Na, bei Birne! Dem Kanzler.«

Der Junge muss komplett bescheuert sein, denke ich.

»Der Sack ist doch längst traurige Geschichte, nachdem er ganz Deutschland zu Schrott vereinigt hat.«

Die Jungs sehen mich an, als wäre ich geistesgestört. »Wie meinst du das?«

Peter hält den Kopf etwas schief. »Unser fetter Kaspar, ähm, Kanzler sitzt so was von sicher im Amt, den wirft so schnell nichts um. Und was soll das Gesabbel von vereinigt – wer will sich mit dem denn vereinigen? Traurig ist das was er tut durchaus, nur leider nicht Geschichte.«

Verdammt, mir sind glatt die Pferde durchgegangen. Schön den Doofen vorgaukeln jetzt. »Ich habe nur so gemeint. Was wäre wenn?«

Peter und Hartmut werfen sich zweifelnde Blicke zu. »Bist du vielleicht so ein bisschen ballaballa?« Hartmut zeigt mir den Vogel.

»Ich habe keine Ahnung, was ihr von mir wollt, muss ein Blackout gewesen sein. Du hast irgendwas gesponnen, dass du ein Großkopferter sein würdest, wenn der dicke Hermann Göring dein Ahne wäre. Wie kommst du auf so einen Stuss?«

Na also, prima die Kurve gekriegt. Hartmut nimmt den Faden wieder auf. »Die Kaschperle in Bonn lieben große Namen. Guck dir die Kerle an und mische die verschiedenen politischen Färbungen, ergibt klebrig schmieriges Braun reinster Scheiße. Da wäre ein Göring doch bestens aufgehoben.«

Der ist richtig. Wieso habe ich den damals nicht gekannt? Was ein Furz zur rechten Zeit alles so ausmacht. An Hartmut kann ich mich überhaupt nicht erinnern, nur an Peter. Wir beide waren während der Zeit in Uniform beinahe unzertrennlich gewesen. Peter war einer der ganz wenigen, die ich beim Militär getroffen habe, die Grips hatten. Die Brille, die er trägt, ist allerdings genauso unmöglich wie damals.

He, halt! Was heißt damals? War damals nun wirklich damals oder ist das, was hier gerade abläuft, heute? Irgendwie blicke ich nicht so recht durch. Das gibt es doch gar nicht. Kann es nicht geben.

»Ist mir nur so rausgerutscht, vorhin.«

Schallendes Gelächter im Umkleideraum, während Peter Näheres von meinem ›Scharfschießen‹ berichtet. Es stehen bestimmt dreißig Männer herum. Die einen kleiden sich wie wir an, die anderen bereiten sich auf die Untersuchung (!) vor. Ein ständiges Kommen und Gehen.

Als ich meinen Slip hochziehe, fällt mein Blick auf meinen Bauch und ich muss mich ganz schnell setzen. Weg! Wieso ist mein Bauch weg? Ein paar Kilogramm Fett sind rund um meinen Nabel glatt verschwunden! Was hat das jetzt zu bedeuten?

Als wir auf dem Gang sind, flüstert Peter hinter vorgehaltener Hand: »Magst du diesen sonderbaren Tag nachher mit mir begießen? Ich bin aus der Gegend und kenne einen Superladen. Aber das muss unter uns bleiben, Achim.«

Das hatte er mir damals schon vorgeschlagen.

»Ich weiß, dort gibt es ein paar hübsche Schnecken«, verplappere ich mich. Verdammt!

Peter starrt mich an, als käme ich vom Mond. »Woher weißt du denn das? Das ist ein Geheimtipp. Wissen nur Insider!«

Tja, woher weiß ich das? Soll ich ihm vielleicht erklären, dass ich diese Situation kenne? Ich muss viel mehr aufpassen, was ich sage. Wie komme ich nun aus diesem Schlamassel heraus? Das wird ja immer haarsträubender. Ach, ich stell mich einfach wieder blöd, das hat zu allen Zeiten geholfen.

»Na hör mal, wenn ich dich so anschaue, dann muss es sich um Frauen handeln. Du siehst nicht gerade aus wie einer, der sich nur besaufen will!«

Jetzt strahlt er mich an. Kleine Komplimente gingen ihm bereits damals runter wie Öl. Auf jeden Fall kann ich auf diese Weise meine Erfahrung nutzen und mich relativ überzeugend herausreden.

Seinerzeit war ich Peter nur äußerst skeptisch gefolgt. Das Lokal lag einst in einer wenig erbaulichen Gegend mit Krankenhausgelände und nahe liegendem Friedhof. Die wenigen Tische waren – trotz des angeblichen Geheimtipps – komplett besetzt. Wir hatten in jenen Tagen nur mühsam Platz gefunden, weil mehrere junge Frauen sich von einer Gruppe lärmender Männer mit blaugelben Fahnen und ebenso farbigen Hemden verabschiedeten, die zu irgendeinem Fußballspiel wollten. Zunächst freuten die Mädchen sich gar nicht darüber, als wir die Plätze kurzerhand belegten, hatte mir die Blondine mit dem glatten, langen Haar im späteren Verlauf des Abends erzählt.

Sie hieß Henrike, ich erinnere mich genau, und hätte so gerne Elisabeth geheißen, hatte sie mir gestanden.

»Henrike«, hatte sie sich beschwert. »Was mögen sich meine Eltern nur bei dem Namen für mich gedacht haben?«

Was war mir damals ihr Name egal gewesen.

Jetzt bin ich mal gespannt. So schrecklich sieht die Gegend eigentlich gar nicht aus. Komisch, wieso hat die Erinnerung solch einen Eindruck bei mir hinterlassen? Das Lokal ist ähnlich eines bayerischen Festzeltes, rechts und links mit Bänken und Tischen, eingerichtet.

Es ist genauso wie früher, die Mädchen sind da. Auch die lautstarken Kerle. Wenn das so weitergeht, glaube ich vielleicht auch wieder irgendwann an den Weihnachtsmann.

Schnurstracks gehe ich auf den Tisch zu und schaue Henrike fest an. Jede Nuance ihres Aussehens ist mir präsent. Beinahe wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte gerufen ›So sieht man sich wieder! Nach all den Jahren.‹ Ich beherrsche mich gerade rechtzeitig und nicke in die Runde.

»Hallo. Dürfen wir uns zu euch setzen?«

Meine Frage wird von den Mädchen ignoriert und die Jungs neben ihnen am Tisch schmollen. Ich quetsche mich wie seinerzeit zwischen Henrike und den Jüngling im durchgeschwitzten Nylonhemd. Ein übler Geruch in meinem Traum. Sonderbar!

»Ich heiße Achim«, stelle ich uns vor. »Der da wird Peter gerufen.«

Peter sitzt auch heute neben der Rothaarigen, von der er mir einst tagelang vorgeschwärmt hatte. Henrike scheint an mir genauso wenig interessiert zu sein wie damals.

Seinerzeit hatte ich stundenlang das Maul nicht aufgekriegt, weil ich ungarisches Letscho zu Mittag gegessen hatte, mit viel Knoblauchwurst darin. Habe ich heute aber nicht! Vorsichtshalber. Mir ist nämlich etwas sehr Sonderbares durch den Kopf gegangen. Wenn das, was ich jetzt träume, kein Traum ist, wo zum heiligen Heinz habe ich heute vor 20 Jahren gewohnt? Fällt mir partout nicht ein. Hat mich Sonjas Pillchen derart umgehauen, dass ich in einer Klapsmühle bin und alles nur träume? Dann wäre die Wohnfrage erledigt.

Beim Hinsetzen neben Henrike habe ich mich heftig am Tischbein gestoßen. Der Schmerz war äußerst realistisch. Wenn ich mal davon ausgehe, dass ich hier in irgendeiner unbegreiflichen Weise eine Art Déjà vu erlebe, möchte ich erreichen, dass ich zumindest in dieser Nacht in einem Bett liegen werde – und zwar bei Henrike. Anders als damals, und ich jahrelang dieser verpassten Gelegenheit nachgetrauert habe. Also werde ich mich jetzt ungeniert mit ihr unterhalten und meine Erfahrung nutzen. Und zwar so trivial wie nur möglich.

»Lass mich deinen Namen raten.«

Sie zuckt mit den Schultern, wirkt beinahe wurschtig. Ich schaue sie genau an. Mein Gott, ich hatte sie viel aufregender in Erinnerung. Aber der Duft ihres Parfums macht mich heute noch genauso nervös wie damals. Ich nehme eine Strähne von ihrem Haar in die Hand und schnuppere daran. Ich erinnere mich deutlich, wie gut dieses Mädchen gerochen hatte. An Gerüche habe ich mich von jeher am besten erinnern können, und sie duftet wie in meiner Erinnerung. Ich werde jetzt einfach mal versuchen, ob ich mein Wissen um die Zukunft nicht spontan nutzen kann.

»Elisabeth würde sehr gut zu dir passen.«

Beinahe hätte ich gesagt, dass sie Henrike heißt. Wäre aber garantiert ein Patzer gewesen.

Sie staunt Bauklötze. Die leuchtenden dunkelgrünen Augen scheinen eine Spur dunkler zu werden. Dunkles Dunkelgrün.

Mir scheint, als ob ich in meinem neuen Leben glatt drei Stunden schneller bin als in meinem alten. Macht ja irgendwie Spaß zu wissen, was passieren wird. Damals hatte ich mich wie gesagt geniert. Und mich jahrelang über mich selbst geärgert. Heute nicht. Henrike schaut mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. Die Brust hebt und senkt sich schnell. Welch ein Anblick.

»Wie kommst du auf Elisabeth?«

Na also. Ein Glück, dass ich weiß, was sie hören möchte.

»Dieser Name passt hervorragend zu dir. Keine Ahnung, was es ist. Ich kann es dir nicht erklären. Es ist halt nur ein Gefühl. Sag bloß, ich habe recht?«

Die andern Menschen im Lokal existieren für uns kaum.

»Nein, es stimmt nicht, nicht ganz. Ich heiße Henrike. Aber ich habe mir immer gewünscht, Elisabeth zu heißen.«

»Henrike. Au ja, der Name gefällt mir auch sehr gut. Komm, Henrike – Elisabeth, lass uns Freunde sein vor aller Welt.«

Wir unterhalten uns beinahe wie früher, trotzdem ist es anders. Seinerzeit hatten wir nur belangloses Zeug geredet, Allgemeinplätze ausgetauscht, ich hatte den Kopf voll gestopft mit nichts. Und nun berichten wir von Erfahrungen. Und das ist einerseits hoch interessant, andererseits gefährlich. Besonders, weil ich höllisch aufpassen muss, mich nicht zu verplappern.

Gegen zehn Uhr waren wir damals aufgebrochen und hatten uns getrennt. Peter hatte seine Gisela nach Hause gebracht und ich meine Henrike. Als wir vor dem Haus angekommen waren, in dem sie lebte, küssten wir uns lange. Henrike hatte mich schließlich keck gefragt, ob ich nicht mit hinaufkommen mochte. Sie lebe zwar nur in einem kleinen Zimmer in einer Wohngemeinschaft, aber die Kommilitonen seien prima Leute. Und ich Hanswurst hatte tatsächlich abgelehnt. Das an sich wäre ja durchaus okay gewesen, denke ich. Aber ich hatte idiotischerweise von zu Hause erzählt, von meiner Freundin und so weiter. Henrike hatte mir kurzerhand eine gescheuert und die Haustür hinter sich ins Schloss geworfen.

Und dann hatte mir am andern Tag meine Freundin Ulrike zu Hause den Laufpass gegeben. Damals fühlte ich mich im falschen Film. Heute ist es mein Film, das spüre ich.

Peter und Gisela wandern genau wie einst eng umschlungen ins Dunkel. Ich begleite Henrike nach Hause. Einmal biege ich selbstständig um eine Ecke. Henrike stutzt und bleibt stehen.

»Wieso biegst du hier ein? Woher kennst du den Weg?«

Man sollte mich nicht Achim nennen sondern ... Jetzt hilft nur noch eine überzeugende Ausrede.

»Ich hatte das Gefühl, dass du hier abbiegen wolltest. Es war keine Absicht. Sind wir falsch?«

Gott sei Dank, sie schüttelt nur leicht den Kopf und wir gehen weiter. Vor dem Haus angekommen, küssen wir uns lange. Diesmal behandle ich Henrike direkter, fordernder. Endlich stellt sie noch einmal die Frage, an die ich so viele Jahre denken musste. Und an die verfluchte verpasste Gelegenheit, von der ich gestern Sonja erzählt habe.

»Magst du vielleicht auf ein Glas Wasser mit mir hinaufkommen? Mein Zimmer in der WG ist zwar nicht sehr groß, aber die anderen sind echt nette Leute.«

Heute bin ich kein vermeintlicher Ehrenmann mehr, und so blöde wie früher erst recht nicht.

»Hast du wirklich nur ein Glas Wasser für mich?«

Ich spüre ganz andere Dinge als damals. Ich fühle intensiver, empfinde stärker. Ich mag nicht mehr abwägen, zumindest heute Abend nicht. Mein ganzes Leben lang hatte ich einiges bedauert, nicht nur die Nacht mit Henrike nicht verbracht zu haben. Lange Zeit habe ich mir vorgestellt, wie es wohl gewesen wäre, wenn? Ich folge ihr nun die ausgetretenen Holzstufen der Treppe in den ersten Stock hinauf. Hinter der Wohnungstür empfängt mich anheimelnde Unordnung. Die Räume wirken auf mich beeindruckend, ganz anders, als ich es mir in vielen Träumen vorgestellt hatte.

»Drei Leute wohnen hier mit mir zusammen. Babsi, Sandra und Herbert.«

»Ein Hahn im Korb? Fabelhaft. Teilt ihr ihn euch?«

»Da ist nichts zu machen, Herbert ist absolut schwul, trotzdem unheimlich nett.«

Die Mitbewohner sind nicht da. Wir betreten Henrikes Zimmer. Ein runder Strohteppich liegt auf dem Boden. Ein dreieckiger schwarzer Plastiktisch steht darauf und zwei dunkelblaue Plastikklappstühle dabei. Ein Kleiderschrank, eine Truhe und eine Matratze auf dem Boden mit richtigem Bettzeug darauf bilden das spärliche Mobiliar. Henrike ist bei einer Selbsthilfegruppe tätig und der Verdienst ist karg. Natürlich, das hatte sie mir doch damals schon erzählt und mich hatte es fasziniert, wenn sie von der Arbeit mit Kranken und sozial Schwachen erzählte. Heute hat sie mir sogar eine ganze Menge mehr erzählt, und ich habe von meinen Erfahrungen berichtet.

»Was möchtest du?«

Und jetzt werde ich das tun, wovon ich seit Langem geträumt hatte. Ich ziehe Henrike zu mir, meine Arme unter ihren hindurch, spüre tastend ihren Rücken durch den Stoff. Kein BH-Verschluss, Gott sei Dank. Meine Hände haben freie Erkundungsfahrt zu ihren rasierten Achseln, die Handballen und die Daumen fühlen auf dem Weg zur Hüfte hinab feste Brüste. Schlanke Taille und ein wenig Bauch. Meine Hände gleiten zu Henrikes Po, und ich drücke sie fest an mich.

»Dich will ich.«

Ich schaue ihr in die Augen und nehme ihre Hände dort wahr, wo ich sie seit Jahren spüren wollte. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Wenn dies kein Traum ist, sondern tatsächlich irgend so etwas wie mein Déjà vu, dann habe ich eine wesentliche Änderung vorgenommen. Außerdem werde ich ja auch Henrikes Leben vermutlich ein wenig verändern. Sehr viele Jahre habe ich von dieser Situation geträumt und sie mir in allen Möglichkeiten ausgemalt. Ich sage ihr die Wahrheit, nichts als meine Wahrheit.

»Dich will ich. Dich wollte ich mein ganzes Leben lang haben.«

Mein Gott, was tun mir die Knochen weh. Und ich muss dringend mal zur Toilette. Mein Arm liegt unter Henrikes Nacken, ihr Kopf an meiner Brust. Sie liegt nicht nur auf der Seite, sondern zum Überfluss auch halb auf mir und ihr Bein klemmt meinen Schoß ein. Wie kann ein so zartes Mädchen bloß derartig Druck ausüben? Meine Blase platzt gleich, wenn ich mich nicht schleunigst befreie.

Henrike schläft wie ein Stein. Komisch, so anstrengend war es doch gar nicht. Eher enttäuschend anspruchslos. Jahrelang hatte ich mir in allen Variationen vorgestellt, was ich mit Henrike hätte auskosten können. Mir war durchaus klar, wie unfair ich handelte, wenn ich ein Mädchen traf, das ihr äußerlich glich. Da war dem Erfindungsreichtum keine Grenze gesetzt. Und jetzt liege ich hier praktisch unter ihr begraben und bin enttäuscht. Von wegen heiße Spiele. Sie lag steif wie auf einer Opferbank. Typischer Fall von versauter Nummer. Das hätte ich mir sparen können.

Na endlich, sie rollt sich schmatzend von mir.

Wie war das? Wenn du musst, zweite Tür links.

Ich raffe leise meine Sachen vom Boden und schleiche mich auf den Flur. Erste Tür. Zweite Tür, hier bin ich richtig. Ich setze mich auf die Klobrille und laufe aus wie ein Bergsee. Vorsichtig spülen. Ich ziehe mich an und werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Kämmen fällt aus. Und dann nichts wie weg hier ...

Das gibt es nicht! Das Gesicht dort im angeschlagenen Spiegel ist mein Gesicht und glotzt mich aus weit aufgerissenen Augen fassungslos an – aus beiden Augen! Aus zwei Augen!

Dabei weiß ich genau, dass mein rechtes Auge seit Langem nicht mehr existiert.

Übung am Maschinengewehr. Jeder bekam einen Gurt mit zwanzig Schuss scharfer Munition. Wir bildeten Gruppen zu je fünf Mann. Wenn man an der Reihe war, hieß es hinlegen, Klappe auf, Gurt einlegen, spannen, entsichern, losballern und möglichst die Zielscheibe treffen. Ich hatte den Zeigefinger kaum gekrümmt, schon ratterte es los. Ich spürte einen fürchterlich harten Schlag im Gesicht und war sofort weg. Aufgewacht bin ich dann im Lazarett. Die Ärzte machten mir nach und nach vorsichtig klar, dass mein rechtes Auge wohl nicht mehr zu gebrauchen wäre, ein Teil der Munition sei vermutlich schadhaft gewesen. Rohrkrepierer direkt vor der Schnauze.

Und jetzt glotze ich in meine eigene Fresse und kann es kaum glauben. Ich habe beide Augen. Nix mehr einäugiger Krüppel! Die drei kostbarsten Dinge im Leben sind Jugend, Tugend und Unschuld – einmal verloren, für immer vorbei. Mein Auge war auch für immer vorbei – und nun ist es wieder da. Mir wird schlecht. Ein Radio beginnt zu plärren und eine Stimme jault blödsinnige Liebesverse. Egal, ich schaue unentwegt mein verlorenes Auge an und kapiere nichts.

Okay, die Nacht, der ich mein Leben lang als verpasste Gelegenheit nachgetrauert hatte, ist sozusagen in die Hose gegangen. Aber mein Auge ist da, das entschädigt für tausend verbockte Nummern. Jetzt nix wie weg hier.

Nahezu zwanzig Jahre bin ich einäugig durch die Gegend gestolpert. Man gewöhnt sich an alles, aber schön war es nicht. Und seit ich in Henrikes Spiegel auf dem Klo geschaut habe, bin ich fassungslos, dass ich wieder zwei gesunde Augen habe, du liebes bisschen.

Natürlich habe ich damals etwas Geld als Entschädigung bekommen, weil es sich um einen Dienstunfall gehandelt hatte. Das macht allerdings ein Auge nicht wett. Schon als kleiner Junge wollte ich Weltraumfahrer werden. Als Einäugiger war nicht mal im Traum mehr daran zu denken.

Mein Gott, was hat das Arbeitsamt mir nicht alles für vorteilhafte Jobs vermitteln wollen. Einmal habe ich mich sogar bei einer Bank vorstellen sollen, ehrlich. Nicht als Schalterkraft, versteht sich. Stellen Sie sich mal vor, als Bankkunde gehen Sie in Ihre Bank, um was weiß ich zu tun, und Ihnen gegenüber steht ein Einäugiger. Da gehen die Leute stiften. Nein, ich sollte die Schließfachbesitzer oder heißen die Benutzer? – in den Keller führen und auf sie aufpassen. Acht Stunden täglich. Eine Stunde Pause. Ich wäre mir ja schlimmer vorgekommen als ein Schließer im Knast. Nie Sonnenlicht, bloß Neonröhren. Auch wenn ich nur ein Auge habe – nein, hatte – habe ich das Sonnenlicht immer so sehr geliebt.

Déjà vu eines Versagers

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