Читать книгу Darum in die Ferne schweifen - Werner Stilz - Страница 10

Оглавление

Meine schwäbische Herkunft

Am 5. Oktober 1943 wurde ich in Schorndorf geboren, einer Kleinstadt 30 Kilometer östlich von Stuttgart. Mein Vater war im Kriegsdienst, meine Mutter schon 39 Jahre alt und ich eine schwierige Geburt. Die Hebamme benötigte ein Zangeninstrument, um mich auf diese Welt zu zerren. Größere Schäden trug ich offenbar nicht davon.

Mein Bruder Rolf war schon zwölf Jahre alt. Wie ich später hörte, kümmerte er sich fürsorglich um mich, den Nachzügler. Zur Familie gehörte außerdem der zehnjährige Heinz. Er war der uneheliche Sohn von Anne, der jüngeren Schwester meiner Mutter. Meine Eltern nahmen ihn zu sich und behandelten ihn wie ihr eigenes Kind. Seine leibliche Mutter verkraftete die »Schmach«, ein uneheliches Kind zu haben, nicht. Viele Jahre war sie Patientin in der Nervenheilanstalt in Winnenden. Erst nach der Menopause konnte sie ein normales Leben führen. Sie fand ihren inneren Frieden als Helferin in einem Altenheim.

Unsere Wohnung befand sich im Obergeschoss eines Backsteingebäudes, das zu einem weitläufigen Ziegeleigelände gehörte. Im Erdgeschoss verfügte es über zwei Garagen. Dort waren Lastwagen und Anhänger der Ziegelei untergebracht. Unweit von unserem Haus standen große Stallungen für Pferde und Kühe, sowie Scheunen für Heu und Stroh. Es war damals nicht unüblich, dass größere Firmen neben ihrem eigentlichen Gewerbe auch eine Landwirtschaft betrieben.

Die Ziegeleibesitzer Arnold und Groß besaßen auch Weinberge am Schorndorfer Grafenberg. Mein Vater war als ihr Weingärtner beschäftigt. Nebenher bewirtschafte er auch einen eigenen kleinen Weinberg von 20 Ar. Während er an der Front war, kümmerte sich meine Mutter darum. Rolf und Heinz halfen mit, wenn sie schulfrei hatten. Mit dem Handleiterwagen ging es zu Fuß zum etwa anderthalb Kilometer entfernten Weinberg. Klein und leicht korpulent, war der Weg zum Weinberg für meine Mutter eine Strapaze, schließlich ging es stetig bergauf. Die schweren Arbeiten, wie das Schneiden der Reben im Winter oder das Spritzen gegen allerlei Blattkrankheiten im Sommer, übernahmen Weingärtner, die wegen ihres Alters oder aus anderen Gründen nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Alle Weingärtner, ob im Vollerwerb oder Nebenerwerb, waren Mitglieder der örtlichen Weingärtnergenossenschaft. Es war selbstverständlich, dass man sich gegenseitig in den schwierigen Kriegszeiten unterstützte.

Da wir abseits vom Städtchen wohnten, gab es keine Kinder in meinem Alter, mit denen ich hätte spielen können. Rolf und Heinz dagegen waren mit den etwa gleichaltrigen Fabrikantensöhnen befreundet. Doch die ledigen Knechte im landwirtschaftlichen Betrieb trieben ihren Spaß mit mir. Sie prägten mir ein, dass ich, wenn man mich nach meinem Geburtstag fragt, antworten sollte: »Wenn die Trauben reif sind.« Wenn dann die Frage kommt: »Ja, wann sind sie denn reif?«, sollte ich sagen: »An meinem Geburtstag!«

Wenn sie arbeitsfrei hatten, waren die Knechte meine »Spielkameraden «. Meine Spielplätze waren die Heuschober und die Stallungen mit den Kühen und Pferden, letztere wurden als Zugpferde gehalten.

Gegen Ende des Krieges geriet mein Vater zuerst in französische, später in amerikanische Gefangenschaft. 1946 kehrte er zu seiner Familie zurück. Wie mir erzählt wurde, stand er eines Tages vor der Tür, abgemagert, mit Vollbart und in einen alten dreckigen Armeemantel gehüllt. Meine Mutter erkannte ihn nicht und fragte: »Was wollen Sie?«

Doch Heinz, der zur Tür kam, rief: »Das ist doch der Vater!«

Wie muss er sich da gefühlt haben, nach den Gräueln von Krieg und Gefangenschaft – als Fremder vor dem eigenen Haus, vor der eigenen Frau?

Nach einem ausgiebigen Bad in der Zinkbadewanne, die in der Küche aufgestellt wurde, konnte er seine Familie, um einen Stammhalter vergrößert, so richtig in die Arme nehmen.

Darum in die Ferne schweifen

Подняться наверх