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Die Nachkriegsjahre

Großvater Gottlob starb im Jahr 1946 an Kehlkopfkrebs. Ich habe keine eigene Erinnerung an ihn, doch es gab ein Foto, auf dem ich als Zweijähriger auf seinem Schoß sitze. Er hatte einen prächtigen Schnauzer.

Nach seinem Tod begann das Gezerre um das Erbe. Paul, der jüngste Sohn, der den Hof übernehmen sollte, war im Krieg gefallen. Friedrich hatte sich schon längst anders entschieden. Damit blieb nur noch mein Vater Robert übrig. Da er keinen anderen Beruf erlernen hatte dürfen, hätte er den Hof vermutlich gern übernommen – allein, es fehlte das Geld, um die Geschwister auszuzahlen. So wurde das Erbe nach schwäbischer Sitte aufgeteilt. Mein Vater erhielt das Haus, die anderen Geschwister teilten den Grundbesitz – Äcker, Wiesen und Weinberg – unter sich auf. Doch wie es in schwäbischen Familien eher die Regel als die Ausnahme ist, kam es zu heftigem Streit um das Erbe. Von den Einzelheiten dieser unerquicklichen, jahrelangen Auseinandersetzung, die sogar gerichtlich ausgetragen wurde und viele Wunden aufgerissen hat, möchte ich den Leser gern verschonen.

Bereits 1948 begann mein Vater mit dem Umbau des alten Bauernhauses. Über Scheune und Stall richtete er eine Wohnung ein, im Dachgeschoss darüber später noch eine kleinere, die er vermieten wollte. Es kam ihm zugute, dass er nebenher auf dem Bau gearbeitet hatte. So konnte er vieles, wie die Maurerarbeiten, in Eigenarbeit selbst verrichten.

Meine Kindheit in der Schlachthausstraße

Im Jahr darauf konnten wir in unsere neue Wohnung in der Schlachthausstraße 20 einziehen. Möbel und das sonstige Einrichtungsgut wurden im Heu-Leiterwagen, gezogen von zwei Kühen, von der Ziegelei in die Schlachthausstraße befördert. Ich saß ganz oben auf dem Wagen und fühlte mich wie ein Cowboy. Unsere Wohnung bestand aus Wohnzimmer mit Kohleofen, das jedoch nur sonntags benutzt wurde, dem Schlafzimmer, dem Zimmer für die zwei großen Jungs und einer geräumigen Wohnküche. Am Ende des Flurs befand sich das Plumpsklo. Mein Kinderbett stand im Elternschlafzimmer.

Ein weiteres Zimmer und eine kleine Küche, die später unser Bad werden sollte, bezogen 1952 Kurt und Lissy Bergmann, ein junges Ehepaar aus Thüringen, das ein Jahr zuvor aus der »Ostzone« über die grüne Grenze geflüchtet war. Später wechselten sie in die kuschelige Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss. Kurt war Orthopädie-Meister und fand schnell eine angemessene Anstellung im Orthopädie-Geschäft Berg in Schorndorf. Der Bedarf an Prothesen war nach Kriegsende gewaltig, der Branche ging es prächtig. Seine Frau Lissy, Schneiderin von Beruf, arbeitete in der örtlichen Hutfabrik.

Wir verstanden uns gut. Ich vergötterte Lissy, die unbeschwert und lustig war, ganz anders als meine »alten Eltern«. Sie konnte keine Kinder bekommen, auch deshalb war sie mir zugeneigt. Wann immer sich die Gelegenheit bot, ging ich zum Mittagessen zu Bergmanns. Lissys Rouladen mit Rotkraut und Knödel nach Thüringer Art waren das beste Gericht, das es für mich gab. Auch waren ihre Kuchen und Torten köstlicher als die meiner Mutter, die in meiner Erinnerung immer nur Apfelkuchen mit Streusel und Hefezopf buk.

Die Bergmanns gingen mit der Zeit. Lange vor meinen Eltern schafften sie sich ein Fernsehgerät an. Manches Mal, wenn wir Samstagabends unser Bad in der Zinkwanne in der Küche genommen hatten, stiegen wir fein gekleidet zu ihnen hinauf, um zuerst die Tagesschau und dann die Quiz-Shows mit Hans-Joachim Kulenkampff oder amüsante Sendungen mit Peter Frankenfeld anzuschauen. Dazu tranken die Erwachsenen Likörchen aus bunt bemalten, trichterförmigen Gläschen und aßen kleine Salzbrezeln. Kurt besaß auch schon früh ein eigenes Auto, einen formidablen Opel Rekord in hellgrün, mit allem Komfort, einschließlich den damals schicken Reifen mit weißen Seitenwänden.

Der kleine Werner

Großmutter Martha wohnte im alten Teil des Bauernhauses. Sie hatte laut Testament und Kaufvertrag Nutznießrechte bis zu ihrem Tod. Inzwischen eine alte, von der vielen Arbeit gezeichnete Frau, wurde sie zunächst von meiner Mutter, später von ihrer Tochter Anna, die drei Häuser weiter wohnte, betreut. An die wohlige Wärme, wenn ich als kleiner Junge in ihr Bett krabbeln durfte, erinnere ich mich noch gut.

Als Kind war ich ängstlich und scheu. Nachts weckten mich oft schlimme Träume. Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch, das nicht endete, weinte bitterlich und stand zitternd am Gitter meines Bettchens. Zum Glück war meine Mutter in der Nähe, um mich zu trösten.

Außerdem hatte ich Probleme mit den Bronchien. Ich muss etwa fünf oder sechs gewesen sein, als der Hausarzt verfügte: »Werner muss in ein Kindererholungsheim!«

Ich kam nach Bad Friedrichshall zur Therapie und blieb dort für drei oder vier Wochen. Ich fühlte mich sehr unwohl und hatte großes Heimweh. Sonst kann ich mich an fast nichts erinnern, weiß aber noch, wie ängstlich ich war, wenn es mit einem eisernen Schachtaufzug unendlich weit in die Tiefe des Salzbergwerks ging. Dort unten herrschte ein Klima, das gut für die Heilung der Bronchien sein sollte.

Ein paar Jahre später wurden mir im Kreiskrankenhaus Schorndorf nach mehreren Mandelentzündungen die Rachenmandeln entfernt. Die Narkose unter der Äthermaske fand ich grausig. Dafür schmeckte das Vanilleeis als erste Nahrung nach der Operation. So etwas Köstliches kannte ich von Zuhause überhaupt nicht.

Nach nur wenigen Tagen wollte ich unbedingt heim. Ostern stand vor der Tür. Dem Drängen meiner Mutter gaben die Ärzte nach, ordneten aber an, dass ich daheim weiter das Bett hüten sollte. Ich fing an, Blut zu spucken, weil die Wunde wieder aufbrach, worauf mir meine Mutter viel Milch mit Honig zu trinken gab. Sie war der Meinung, damit den Blutverlust ausgleichen zu können. Erst als sie im Milchladen davon erzählte, wiesen andere Frauen sie darauf hin, wie gefährlich diese »Therapie« war. Meine Mutter holte den Arzt, der sofort die Überweisung ins Krankenhaus veranlasste. Dort erhielt ich schnellstens eine Bluttransfusion, die mir vielleicht das Leben rettete.

Bei der Verwandtschaft in Wallhausen

Mein Vater erwarb ein BMW-Motorrad mit 250 Kubikzentimeter Hubraum. Den erforderlichen Führerschein Klasse 4 hatte er schon in der Tasche, ohne jemals eine Prüfung abgelegt zu haben. Das hatte sich wie folgt zugetragen: Für den Weinberg der Ziegelei war einmal ein neues motorisiertes Ackergerät angeschafft worden. Um es fahren zu dürfen, benötigte man den besagten Führerschein Klasse 4. Für die Verwaltung der Ziegelei war es kein Problem, für den Mitarbeiter Stilz das Papier auch ohne Prüfung zu bekommen. Später gönnte sich mein Vater sogar das Vergnügen, ein Goggomobil mit 250 ccm Hubraum anzuschaffen.

Mit dem BMW fuhren wir jeden Herbst nach der Weinlese zur Verwandtschaft nach Wallhausen. Meine Großmutter hatte ein paar Jahre nach der Geburt von Rösle geheiratet und vier Kinder großgezogen. Mit ihrer Mutter und ihren Halbgeschwistern pflegte Rösle inzwischen regen Kontakt. Als kleine Aufmerksamkeit brachten wir süße Trauben aus unserem Weinberg mit. Bei der Fahrt, immerhin rund 120 Kilometer, saß ich auf dem Tank des Motorrads. Jedes Mal, wenn mein Vater mich auf den Boden stellte, sackte ich zusammen. Meine Füße waren eingeschlafen.


Bei der Weinlese, 1949. Heinz mit vollem Butten, ich stehe vor meiner Mutter, Vater hinten rechts. Im Hintergrund das Wengerthäusle.

Mit den Cousins und Cousinen in Wallhausen, alle etwas jünger als ich, verstand ich mich gut. Mir gefiel das einfache Leben auf dem Land. Der Hohenloher Dialekt, in dem die Menschen dort sprachen, erheiterte mich. Zum Beispiel sagten sie »Hos«, wenn sie einen Hasen meinten. Auf Hochschwäbisch aber ist die »Hos« eine Hose. Manchmal durfte ich eine oder zwei Wochen meiner Schulferien in Wallhausen verbringen. Den ganzen Tag hielten wir uns draußen auf. Spielkameraden gab es genug. Fast alle im Dorf bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft. Ich wohnte bei der Großmutter im selben Häuschen, in dem meine Mutter aufgewachsen war. Die Verhältnisse waren einfach. Zwar gab es fließendes Wasser im Haus, aber kein Waschbecken. Es wurde durch einen Eimer ersetzt, den man einfach unter den Wasserhahn stellte. Wollten wir warmes Wasser haben, mussten wir es im Schiffchen des Küchenherds erhitzen. Wir befeuerten ihn anständig.

Mietwaschküche Robert Stilz

Mein Vater war zunächst weiter als Weingärtner bei den Ziegelwerken beschäftigt, hatte aber jetzt einen wesentlich weiteren Fußweg zu den Weinbergen. Daneben war sein eigener kleiner Weinberg zu bearbeiten, und so war wenig Freizeit. Meine Mutter half so gut sie konnte im Weinberg mit. Er war, trotz fehlender Schulbildung, ehrgeizig und hatte immer den Wunsch, selbstständig zu sein.

Eines Tages entschloss er sich, den ehemaligen Kuhstall in eine große Waschküche umzugestalten. Er kaufte drei große Waschmaschinen und zwei Schleudern und ließ einen Heizkessel einbauen. An den Wänden wurden Terrazzobecken angebracht. Fertig war die Mietwaschküche Robert Stilz. Es war eine Marktlücke, die er entdeckte, denn zu dieser Zeit, in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts, konnten sich nur wenige Haushalte eine eigene Waschmaschine leisten. So kamen die Hausfrauen nun mit Handleiterwagen, gefüllt mit Körben voller Schmutzwäsche, und ließen bei Robert Stilz ihre Wäsche reinigen. Zunächst wurde die Wäsche aber für eine Nacht in den großen Terrazzobecken eingeweicht. Im Garten baute er noch überdachte Holzgerüste zum Aufhängen und Trocknen der Wäsche. Das Geschäft lief richtig gut. Natürlich war auch meine Mutter eingespannt, vor allem was die kaufmännischen Dinge anbelangte wie Schriftverkehr mit Waschmittellieferanten und die Rechnungsführung. In dieser Hinsicht wäre mein Vater überfordert gewesen. Er musste dafür jeden Morgen gegen 4: 30 Uhr aus dem Bett, um den großen Wasserkessel anzuheizen. Auch meine Mutter stand jeden Tag früh auf, denn es gab viel zu tun in der Mietwaschküche.

Vier Jahre lang ging alles gut. Dann erlitt meine Mutter eines Nachts einen schweren Nervenzusammenbruch. Ich sehe sie heute noch vor mir, wie sie im Nachthemd im Flur stand und am ganzen Körper zitterte und schrie. Sie musste für längere Zeit ins Krankenhaus und kam später zur Rehabilitation in ein Elly-Heuss-Müttergenesungsheim. Der Arzt machte meinem Vater klar, dass er die Waschküche aufgeben muss, »wenn Sie es gut mit Ihrer Frau meinen «. So kam im Jahr 1954 das plötzliche Aus für Vaters Geschäft.

Darum in die Ferne schweifen

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