Читать книгу Darum in die Ferne schweifen - Werner Stilz - Страница 14
ОглавлениеDie Schulzeit
Im Herbst 1950, kurz vor meinem siebten Geburtstag, wurde ich eingeschult. Da ich nie im Kindergarten gewesen war, kannte ich kein Kind in meiner Klasse und war ein Außenseiter. Meine Schüchternheit trug auch nicht dazu bei, rasch Freundschaften zu schließen.
September 1950: Ich werde eingeschult.
Wie damals üblich, waren wir eine reine Bubenklasse. Der Klassenlehrer, ein alter Mann mit finsterem Blick, wandte etwas sonderbare Erziehungsmethoden an. Er sprach uns nur mit Nachnamen an. »Stilz, steh auf, setz dich Müller!«
Bald gaben wir Jungs uns Spitznamen. Ich war passenderweise der »Rumpel«. Der Lehrer liebte es zudem, uns »Tatzen« zu verabreichen, also mit seinem Lehrerstab auf die flachen Hände zu schlagen. Auch Hiebe auf den Hosenboden waren nicht unüblich, wenn wir uns seiner Meinung nach nicht anständig benommen hatten. Ein besonderes Vergnügen schien es ihm zu bereiten, mit seinem Stab an unseren Oberschenkeln entlang zu streifen, wenn wir in kurzen Hosen auf unseren Schulbänken saßen. Das empfanden wir als ziemlich eklig, doch keiner der Schüler erzählte davon etwas zu Hause. Nach zwei Schuljahren war dieser Spuk zu Ende. Wir bekamen einen jungen Klassenlehrer.
An der Hauswand des Schulgebäudes postierten sich vor der großen Pause zwei Bäckerfrauen mit ihren Weidenkörben, in denen sie köstliche Leckereien feilboten. Ich bekam von den Eltern genügend Geld mit, um Brezeln (damals zu sieben Pfennig das Stück) oder »süße Stückchen« wie Schneckennudeln kaufen zu können. Auch süßer Kakao wurde angeboten. Gab es in der Wäscherei wieder einmal viel zu tun, erwartete mich zuhause nicht immer ein Mittagessen. Dann schickte mich Mutter zum Metzger Winter, um Wurst für den Mittagstisch zu besorgen.
Auch für die Kontrolle der Hausaufgaben war so gut wie keine Zeit. Ich lernte schnell, diesen Umstand reichlich auszunutzen. An meinen Zeugnissen war es abzulesen.
Spaß auf der Straße
Die Schlachthausstraße war nicht besonders lang. An ihrem unteren Ende, wo sie in die Vorstadtstraße mündete, befand sich der eindrucksvolle, aus Klinkersteinen gemauerte Schlachthof. Zu ihm gehörten eine Schlachthausgaststätte, ein Veranstaltungssaal im Obergeschoss und darüber einem Türmchen als Krönung. Im langgezogenen Nebenbau machte das Schlachtvieh aus der ganzen Umgebung die letzten Zuckungen. Jeden Montag färbte sich das Wasser der Rems, die hinter dem Schlachthof gemächlich dahinzog, rot vom Blut der Tiere, die geschlachtet worden waren. An den Wochenenden davor hörte man oft, wie die Tiere vor Hunger und Durst erbärmlich schrien. Kein Anwohner wäre auf die Idee gekommen, sich über derlei zu beschweren.
Oberhalb des Schlachthofs befand sich ein dreistöckiges Haus mit einem großen Garten. Das war die Jugendherberge. Manchmal nächtigten dort auch junge Menschen aus anderen Ländern. Einmal war es sogar eine Gruppe aus Ceylon, wie Sri Lanka damals noch genannt wurde, die den Kontakt mit den Einheimischen suchte. Da in unserer Straße die älteren Kinder über ein paar Brocken Englisch verfügten, kam ein munterer Dialog zustande. Günther, unser Klügster, war unser Sprecher und Übersetzer. Die Schüler besuchten Großbritannien, das »Mutterland« des britischen Commonwealth, dem Ceylon angehörte. Zur Abwechslung unternahmen sie jetzt einen Trip durch Europa. Sie zeigten uns Schwarzweiß-Fotos, auf denen sie in den schicken Uniformen der Oberschule zu sehen waren, in der sie auf Englisch unterrichtet wurden. Die Jungs trugen weiße Hemden, kurze, dunkelgraue Hosen und Kniestrümpfe (die in Wirklichkeit blau waren), die Mädchen entsprechend weiße Blusen und dunkle Röcke.
Besuch aus Ceylon. Günther links außen, ich vierter von links neben der Lehrerin, Nachbarskinder
Sie waren sehr freundlich und luden uns ein, sie in Ceylon zu besuchen. Dabei hatten die meisten von uns keine Ahnung, wo dieses Land überhaupt ist. Ihrer Hautfarbe nach mussten sie aus Afrika stammen, doch da widersprachen sie aufs Heftigste.
»Unser Land ist eine Insel und befindet sich im indischen Ozean, südlich von Indien«, klärten sie uns auf. So bekamen wir nebenbei einen interessanten Geographieunterricht. (Ich konnte nicht ahnen, dass ich später in meiner beruflichen Tätigkeit mehrmals in dieses schöne Land reisen würde.)
In östlicher Richtung gleich hinter der Jugendherberge zog sich das Rems-Ufer dahin, gesäumt von hohen Pappeln. Die Wohnhäuser lagen auf der anderen Straßenseite. Unser umgebautes Bauernhaus war das älteste in der Straße. Ganz am Ende der Schlachthausstraße, wo sie in einen Feldweg zu den Schrebergärten überging, befand sich ein Sägewerk mit Zimmerei, das dem Vater meines Freundes Rolf gehörte. Seine Eltern hatten das vornehmste Haus in der ganzen Umgebung.
Die Straße war unser Spielplatz. Sie war nicht asphaltiert und es gab keine Bürgersteige. Wenn die Löcher im sandigen Grund zu groß wurden, kamen städtische Arbeiter und schaufelten Steine von ihrem Anhänger. Eine Straßenwalze machte anschließend die Straße wieder eben. Selten hat uns ein vorbeifahrendes Auto gestört. Wir hatten genug Platz für alle Ballspiele. Fußball war natürlich das liebste Spiel, auch wenn ich darin nicht besonders gut war. Beim Auslosen war ich meist als letzter an der Reihe, außer wenn Brunhilde mitspielte. Sie wäre gern ein Junge gewesen und versuchte, mit uns Buben mitzuhalten. Ähnlich beliebt war der Ballwurf, »Zurücktreiben« genannt, bei dem zwei Mannschaften versuchen, den Ball so weit als möglich ins gegnerische Feld zu werfen. Dort muss er aufgefangen und wieder zurückgeworfen werden. Gelingt es einer Mannschaft nicht, den Ball aufzufangen, muss sie drei Schritte zurückweichen. Es gibt Markierungen an beiden Enden der Felder. Wenn es einer Mannschaft gelingt, den Ball hinter die Markierung der gegnerischen Seite zu werfen, ist sie der Gewinner. Ein spannendes Spiel.
An warmen Sommertagen stiegen wir in die Rems und badeten darin. Auf dicken schwarzen Gummireifen ließen wir uns ein Stück mit der Strömung treiben – aber nur bis kurz vor dem Schlachthaus. Ab hier war das Wasser nicht mehr so appetitlich. Horst und Alfred, die Flüchtlingsjungen, hatten an der größten Pappel am Ufer ein langes Seil befestigt, und so entstand eine Riesenschaukel, auf der man wie Tarzan bis zur Mitte des Flüsschens schwingen konnte. Um ehrlich zu sein: Ich hatte oft Angst dabei.
Sonntags, wenn im Sägewerk nicht gearbeitet wurde, gaben wir den Holzkarren mit den Eisenrädern, die sonst für den Transport von Holzstämmen auf schmalen Schienen verwendet wurden, richtig Schwung und vollführten waghalsige Fahrten. Oder wir nahmen ein großes flaches Holzstück und stellten Holzböcke darunter – fertig war unsere Tischtennisplatte. Als Tischtennisschläger dienten uns runde Holzscheiben. Im Sägewerk gab es viele solcher Hilfsmittel. Im Herbst bastelten wir dort unsere Drachen.
Auf der anderen Seite der Rems stand das Haus eines Alteisenhändlers, der allerdings nicht sehr sorgsam mit seinem erworbenen Warenbesitz umging. Das ganze Areal rund um sein Haus war voll mit unsortiertem Alteisen. Hin und wieder bedienten wir Jungs uns daraus und nahmen einige Gegenstände, um sie dem Händler anschließend wieder zu verkaufen. Er bemerkte nichts. Doch eines Tages kamen unsere Eltern dahinter. Mein Vater versohlte mir ordentlich den Hosenboden. Ich empfand diese Strafe als gerecht. Ganz anders verhielt es sich, als der Vater eines Nachbarjungen unerwartet in unserer Haustür erschien. Er behauptete, ich hätte seinen kleinen Sohn geschlagen. Mein Vater fragte mich nicht lange, ob das stimmt, sondern gab mir gleich eine kräftige Ohrfeige im Beisein des Dritten. Das empörte mich.
Eines Tages, es muss ein Samstag gewesen sein, schwangen mein Kumpel Rolf und ich uns heimlich und übermütig auf den Anhänger des Bauern Hinderer, der gegenüber vom Schlachthaus seinen Hof hatte. Er war mit seinem Gesellen und zwei Pferden auf dem Weg zu seinem Wald, um von dort Langholz zu holen. Als der Bauer uns unterwegs entdeckte, schimpfte er uns gehörig aus. Doch wir waren schon zu weit gefahren, als dass er uns zu Fuß nach Hause hätte schicken können. Also waren wir fast den ganzen Tag mit den beiden im Wald, während die Pferde die Baumstämme auf den Wagen zogen. Das war eine mühsame Arbeit für die Kaltblüter, aber auch für den Bauern und seinen Knecht. Uns plagte derweil ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil unsere Eltern nicht wussten, wo wir steckten. Ob sie sich um uns sorgten?
Wie unseren Eltern zumute war, als Rolf und ich den ganzen geschlagenen Tag nicht nach Hause kamen, ist leicht vorstellbar. Unsere Väter hatten bereits die Polizei gerufen. Sie stand kurz davor, eine Suchaktion zu beginnen. Als wir endlich auf dem Fuhrwerk den Bauernhof erreichten, war es schon längst dunkel. Die Schläge, die mir mein Vater auf das Hinterteil verabreichte, konnte ich nach Tagen noch spüren. Doch sie waren angebracht. Ich nahm mir vor, nie mehr so leichtsinnig zu sein und meine Eltern so zu ängstigen.
Ein Stück aufwärts der Rems war ein Wehr. Dort zweigte der Mühlbach zur Hahnschen Mühle ab, einer großen Getreidemühle in der Vorstadt. Das gestaute Wasser gefror im Winter zu einer dicken Eisschicht – ideal zum Schlittschuhlaufen. Jeder von uns Jungs hatte sich irgendwelche alten Schlittschuhe besorgt, die man unter die Winterstiefel klemmen konnte. Wir spielten Eishockey. Ein gerader Holzstock als Schläger und ein geeigneter Stein als Puck genügten uns völlig. Die Fähigkeit, auf Schlittschuhen zu laufen, waren bei den meisten sehr eingeschränkt. Doch wir hatten unseren Spaß.
Im März des Jahres 1957 ereignete sich eine absolute Sensation: Eine Schneeschmelze in Ostwürttemberg brachte so viel Wasser, dass unser kleines Flüsschen zu einem Riesenstrom anschwoll und über die Ufer trat. Alle Häuser in unserer Straße waren für ein paar Tage völlig von Wasser umgeben. Wir mussten sämtliche Hühner aus dem Stall auf den Boden des Hauses tragen. Plötzlich gab es sogar einen kleinen Kahn. Mein Vater, in hohen Gummistiefeln, setzte mich und die Nachbarkinder hinein und zog uns die Schlachthausstraße entlang bis zur Vorstadtstraße, die etwas höher lag und nicht überschwemmt war. Von dort gingen wir unseren üblichen Weg zu Fuß zur Schule. Von wegen schulfrei nur wegen eines Hochwassers!
Hochwasser auf der Rems, am 3. März 1957, vom Elternschlafzimmer aus fotografiert.
Daheim beobachtete ich vom Fenster aus, was für interessante Dinge die Rems hinunterschwammen. Holzteile von Schuppen und Ställen, Strohballen, sogar ein totes Schwein war darunter. Zum Glück blieben die Wohnungen vom Wasser verschont. Der völlig überflutete Gewölbekeller aber bot nach der Flut einen traurigen Anblick. Er war verwüstet. Große und kleinere Wein- und Mostfässer dümpelten dort herum. Als das Wasser langsam wieder zurückwich, hinterließ es eine riesige Schlammmasse. Es kostete meinen Vater viele Wochen harte Arbeit, um seinen Keller sauber zu bekommen. Ob Wein und Most nachher noch genießbar waren? Für uns Kinder war es das Ereignis des Jahrhunderts: Hochwasser in der Schlachthausstraße.
Meine Brüder sagen Adieu
Wenn ich im ersten Schuljahr Hilfe bei den Hausaufgaben benötigte, fragte ich meine Brüder. Ich kam gerade in die zweite Klasse, als mein großer Bruder uns verließ. Rolf wanderte im Jahr 1951 mit 20 Jahren nach Kanada aus. Heinz folgte ihm ein Jahr später.
Rolf und Heinz hatten zuvor beide eine Elektriker-Lehre absolviert, Rolf in Stuttgart bei der Firma Bauknecht, Heinz in einem Elektrogeschäft am Ort. Für Rolf war der Weg zur Arbeit beschwerlich. Er musste früh aufstehen, zum Bahnhof war es schon mal ein strammer Fußmarsch. Mit der Bahn ging es nach Bad Cannstatt. Von dort überquerten die Fahrgäste zu Fuß auf einem Steg den Neckar, um auf der Stuttgarter Seite in einen anderen Zug zu steigen. Die Eisenbahnbrücke war zum Ende des Kriegs gesprengt worden. Vom Hauptbahnhof ging es schließlich mit der Straßenbahn zu seiner Arbeitsstelle im Westen von Stuttgart. Samstags sollten meine Brüder unserem Vater zur Hand gehen. Bei diesen Gelegenheiten kam sein eigener strenger Vater Gottlob Stilz in ihm zum Vorschein!
Auch sonst hatten meine Brüder es zu Hause nicht leicht. Eines Tages hatte Rolf seine Freundin mit nach Hause gebracht, um sie den Eltern vorzustellen. Sie war sehr hübsch. Vater und Mutter waren jedoch unfreundlich zu ihr. Was war geschehen? Sie hatte Lippenstift aufgetragen und sich die Nägel rot lackiert. Das passte nicht in das konservative Weltbild der Eltern. Vor allem meine pietistisch angehauchte Mutter war schockiert. Das war einer der Gründe, dass Rolf von zu Hause weg und in Kanada sein Glück suchen wollte.
In der Mittelschule
Nach der vierten Klasse stand die Entscheidung an, ob ich auf eine weiterführende Schule gehen kann. Der Lehrer empfahl meinen Eltern, mich auf die Mittelschule zu schicken. Die dafür erforderliche Aufnahmeprüfung schaffte ich. Ich wurde aber kein besserer Schüler, im Gegenteil: Das neue Fach Englisch machte mir zu schaffen. Sport hasste ich. Auch mit Physik und Chemie tat ich mich schwer. Umso mehr bewunderte ich meinen Schulfreund Uli Schatz, der zu Hause gerne chemische und auch physikalische Experimente durchführte. (Er wurde später ein erfolgreicher Bauingenieur und Inhaber einer großen Bauträgerfirma. Nach ihm wurde vor einigen Jahren in seiner Heimatstadt ein Sportleistungszentrum benannt.)
Mutter und ich vor der Rückseite unseres Hauses, 1955
Eine Zeit lang spielte ich mit dem Gedanken, Lehrer zu werden. Als dies mein Vater bei einem Elternabend dem damaligen Klassenlehrer, der gleichzeitig Musiklehrer war, mitteilte, sagte dieser spontan: »Dann muss er aber ein Instrument lernen.«
»Was empfehlen Sie denn?«, fragte mein Vater.
»Entweder Klavier oder Geige«, meinte der Lehrer.
Die Entscheidung fiel meinen Eltern als sparsamen Schwaben nicht schwer. Und so kam es, dass ich mich zwei Jahre lang mit einer Violine im Einzelunterricht beim Geigenlehrer Gaiser herumplagte. Zu dieser Zeit gab es noch keine Musikschule in Schorndorf und auch kein Schulorchester. Geige solo zu spielen machte mir aber keinen Spaß, und damit endete die Musikerkarriere, noch bevor sie begonnen hatte. Nicht nur deshalb wurde es nichts mit dem Wunschberuf Lehrer. Ich hätte es nicht bis zum Abitur geschafft.
Einer der wenigen Höhepunkte der Mittelschule war der Schullandheim-Aufenthalt auf der Schwäbischen Alb im Herbst 1957. Auf dem »Vogelhof« verbrachten wir Schüler der Klasse 4a achtzehn unbeschwerte Tage in einer tollen Natur mit vielen schönen Ausflügen und Geländespielen, Nachtwanderungen und Lagerfeuer. Mit dem Bus ging es einmal bis zum Federsee in Oberschwaben und nach Zwiefalten mit seinem Kloster und der schönen Barockkirche.
In der Nacht zum 5. Oktober, meinem 14. Geburtstag, ereignete sich etwas ganz Außergewöhnliches: Ein von Menschen gemachter Himmelskörper, genannt Sputnik, kreiste um die Erde. Voller Hochachtung vor diesem technischen Wunder starrten wir in den Nachthimmel. Herr Joos, unser Klassenlehrer, versuchte uns zu erklären, wie das funktioniert, doch für mich, der in Physik über ein Ausreichend selten hinauskam, war das alles nicht zu begreifen. Wie war es möglich, dass dieser Satellit sich da oben halten konnte und sich gleichmäßig um die Erde drehte? Auf jeden Fall begann damit das Zeitalter der Raumfahrt. Im Wettlauf der politischen Systeme, der als »Kalter Krieg« die Menschheit über 40 Jahre in Atem hielt, verbuchte die Sowjetunion einen beachtlichen Etappensieg.
Wir interessierten uns aber nicht nur für das, was sich am Himmel ereignete. Es war auch eine Mädchenklasse im »Vogelhof« einquartiert. Einige Mutige versuchten, sich den Schlafräumen der Mädchen zu nähern. Doch mit 13 oder 14 Jahren war das alles nur Spielerei. Ich war nicht unter den Mutigen, ich gehörte zur Kategorie »Ängstlich« dem anderen Geschlecht gegenüber. Das sollte noch eine ganze Weile so bleiben.
Auf großer Fahrt
Es gab noch ein anderes »Highlight«. Ich muss wohl 16 gewesen sein, als ich mit meinen Klassenkameraden Lothar Nimmer und Richard Schneider den Beschluss fasste, während der Sommerferien eine Radtour an die Ostsee zu unternehmen. Zuvor allerdings verdienten wir uns das Reisegeld als Ferienarbeiter in einer Lederfabrik. In der Fabrikhalle, in der ich Rohleder durch eine Walze schieben musste, stank es gehörig. Außerdem war es dort sehr heiß. Doch der Lohn reichte für unsere geplante Fahrt. Kurz vor unserem Start verboten Richards Eltern ihrem Sohn leider, mitzukommen. Lothar und ich machten uns allein auf den Weg. Es ist erstaunlich, was man alles auf ein gewöhnliches Tourenrad packen kann: Neben unserer Kleidung hatten wir ein Zweimann-Zelt dabei, Luftmatratzen und andere notwendige Utensilien. Sogar für Federballschläger war noch Platz. In aller Herrgottsfrühe brachen wir von Schorndorf in Richtung Norden auf. Am ersten Tag schafften wir es bis nach Würzburg, eine gewaltige Strecke für uns und unsere Räder, die nur eine Dreigangschaltung hatten.
Am dritten Tag erreichten wir sehr spät die Stadt Kassel. In der Dunkelheit suchten wir nach einem Campingplatz. Wir fanden schließlich ein großes Gelände, auf dem schon viele Zelte standen. Uns fiel auf, dass es sich um keinen gewöhnlichen Zeltplatz handeln konnte. Doch das war uns egal. Am Rand schlugen wir rasch unser Zelt auf und gingen hundemüde schlafen. Am nächsten Morgen stellten wir erstaunt fest, dass alle Zelte weiß waren und in Reih und Glied dastanden. Wir waren in ein Zeltlager der Zeugen Jehovas geraten, die in Kassel ihr Jahrestreffen veranstalteten. Plakate klärten uns darüber auf. Einige böse Blicke verfolgten uns, als wir unser bescheidenes grünes Zelt abbauten und von dannen zogen. Zuvor nutzten wir aber in aller Ruhe die Annehmlichkeiten sauberer Toiletten und Duschen auf dem Gelände.
Auf der Weiterfahrt amüsierten wir uns köstlich über diesen Vorfall. Lothar und ich kamen gut voran, wenn auch zweimal ein Schlauch geflickt werden musste. Entlang der Weser erwies sich die Route als sehr erholsam und abwechslungsreich. Wir fuhren durch schöne Fachwerkstädtchen wie Hann. Münden oder Höxter. Außerdem war die Landschaft angenehm flach.
An der Ostsee angekommen, suchten wir nach einem schönen Platz für unser Zelt und fanden ihn beim Ort Hohwacht, östlich von Kiel. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen, sprich Geldmangel, konnten wir es uns nicht leisten, die Gebühren für einen Campingplatz aufzubringen. Wir zelteten daher »wild« irgendwo im Gras zwischen den Dünen. Als Konsequenz mussten wir bei jedem starken Wind bangen, dass unser Zelt weggeblasen wurde. Im sandigen Untergrund fanden die Heringe keinen guten Halt. Für Hohwacht hatten wir uns entschieden, weil wir einen Abstecher nach Malente unternehmen wollten. In der berühmten Sportschule hatten sich unsere großen Fußballidole Fritz Walter, Helmut Rahn, Horst Eckel, Max Morlock und Co. auf die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 vorbereitet, die bekanntlich mit dem »Wunder von Bern« endete.
Das Baden im Meer machte anfangs viel Spaß. Doch dann kamen plötzlich die Quallen. Wer sie zu spät bemerkte, wurde von ihnen ordentlich gestochen. Von jugendlicher Neugierde getrieben und beflügelt von unserer Fantasie, wollten wir auch einem nicht weit entfernten FKK-Badestrand einen Besuch abstatten, wurden aber am Eingang von einem älteren Aufpasser schroff zurückgewiesen.
Nach ein paar Tagen Ostsee radelten wir weiter nach Hamburg. Erster Anlaufpunkt für uns junge Burschen war die weitbekannte und viel besungene Reeperbahn in St. Pauli. Tief beeindruckt von den Leuchtreklamen, gleichzeitig aber ziemlich gehemmt, liefen wir dort auf und ab. Verschiedentlich wurden wir von Türstehern in bunten Uniformen aufgefordert, in ihr Etablissement einzutreten, weil hier die »geilste« Show in der ganzen Straße lief. Lothar und ich zierten uns, bis unsere Neugierde und die innere Anspannung obsiegte. In einer der Bars wurden Schaumbäder hübscher Damen dargeboten. Das klang reizvoll. Wir ließen uns vom Türsteher hineinführen und wurden nicht enttäuscht. Förmlich elektrifiziert blieben wir ziemlich lange. Die Flasche Pilsener Bier, die jeder von uns bestellte, musste lange halten. Sie kostete unverschämte fünf Mark.
Nachdem wir noch in der Herbertstraße die Damen in den Schaufenstern begutachtet und bewundert hatten, war unser Reeperbahn-Abenteuer beendet. Wir fühlten uns großartig und nun endlich als Experten in Sachen Sex.
Natürlich besichtigten wir auch den »Michel«, die Michaeliskirche, die Landungsbrücken sowie die Speicherstadt mit den alten Kaufmannskontoren und den Kanälen. So viel Interessantes sieht man nicht alle Tage.
Unser nächstes Ziel war Münster in Westfalen. In der Nähe lebten Lothars Verwandte auf einem stattlichen Bauernhof. Drei Tage übernachteten und erholten wir uns dort. In Duisburg beendeten wir unsere Radtour und stiegen um auf die Rheinschifffahrt mit einem Lastschiff, das Schrott geladen hatte. So tuckerten wir gemächlich gen Süden. Von Karlsruhe aus ging es dann radelnd vollends nach Hause.
Die Höhere Handelsschule
Meine Schulnoten wurden so schlecht, dass eine Nichtversetzung in die letzte Klasse der Mittelschule drohte. Ich schlug deshalb meinen Eltern vor, ein Jahr vor Abschluss der mittleren Reife auf die zweijährige Höhere Handelsschule zu wechseln, wo es keinen Chemie-, Physik- oder Sportunterricht zu ertragen gab. Der Unterricht bereitete mir dort mehr Spaß, meine Noten wurden etwas besser. In der neuen Schule mit gemischten Klassen führte ich mich gern als Klassenclown auf und störte den Unterricht. Wahrscheinlich wollte ich damit mein fehlendes Selbstbewusstsein und meine Schüchternheit gegenüber Mädchen übertünchen. Es gelang mir nur mangelhaft. Doch ich hatte dafür jetzt die Mittlere Reife in der Tasche.
Tanzkurs »Take it easy«
Meine Schüchternheit legte ich erst ab, als ich neunzehn war. In diesem Alter war es höchste Zeit, eine Tanzstunde zu besuchen, um endlich dem anderen Geschlecht etwas näher zu kommen. Die meisten Jungs, die sich zum Tanzkurs angemeldet hatten, kannte ich mehr oder weniger. Ganz anders die jungen Damen. Umso aufgeregter war ich. Wie würden sich die Dinge entwickeln? Welche Pärchen würden sich finden? Ich empfand die Atmosphäre als prickelnd.
Wie üblich fand der Tanzunterricht in einem großen Saal statt, in unserem Fall war es der Festsaal der Schlachthausgaststätte. Männlein und Weiblein saßen weit voneinander entfernt an den Seitenwänden. Sobald von der Tanzlehrerin ein Pfiff kam, rasten die Jungs auf die andere Seite, um möglichst als erster bei der Auserkorenen anzukommen. Nach und nach fanden sich die Tanzpaare.
In dieser Zeit war es üblich, den Tanzkursen einen Namen zu geben. Wir nannten uns »Take it easy«. Mit Margret, die eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin machte, verstand ich mich von Anfang an recht gut. Ich musste sie nicht groß bitten, dass sie mit mir den Abschlussball macht. Sie hatte mich ebenfalls gewählt. Am liebsten tanzten wir Wiener Walzer, doch auch neumodische Tänze wie Boogie oder Rock’n’Roll fanden wir schick. Zwischenzeitlich war ich zum »Take it easy« -Präsidenten gewählt worden. Zu meinem Amt gehörte es, beim Abschlussball, zu dem auch die Eltern eingeladen waren, eine Rede zu halten. Es war meine erste Rede überhaupt! Und dann noch mit Mikrofon! Mit schlotternden Knien unter meiner neu erworbenen Anzugshose hielt ich eine eher kurze Ansprache. Da ich meinen Blick meist auf meine Margret gerichtet hielt, verging die anfängliche Aufregung schnell. Dann übereichte ich unserer Tanzlehrerin, Ruth Sauber, für ihre Mühe und Ausdauer einen reichlich bestückten Geschenkkorb.
Als junge Helden versuchten wir, so oft sich Gelegenheit bot, der Damenwelt zu imponieren. Einer von uns besaß schon einen VW Käfer. Vollgepackt mit einigen Damen und Herren aus der Tanzstunde ging es samstags hinauf auf den Schurwald. Unglaublich, wie viele Leute in einen Käfer passen, wenn es sein muss! Dort gab es ein bekanntes Tanzcafé namens Schurwaldhöhe, wo wir uns austoben konnten. Die Musik kam aus der Jukebox, der Alkohol floss. Am begehrtesten war, zumindest für die Jungs, der Wodka Puschkin mit einer Kirsche obendrauf. Dass wir danach im Käfer immer heil den Berg herunterkamen, grenzt an ein Wunder.
Margret war meine erste, zarte und noch platonische Liebe. Doch überheblich, wie ich war, verdarb ich mir bald schon alles. Als »Präsident« verschickte ich einen Rundbrief an die Tanzschüler mit der Einladung zu einem Nachtreffen und einer Busfahrt ins mittelalterliche Rothenburg ob der Tauber. Ich wollte wohl besonders originell sein, indem ich zum Spaß schrieb: »Übrigens: Margret und ich müssen nicht heiraten!«
Dabei gab es außer flüchtigen Küsschen keine einzige intime Berührung. Wie dumm und eingebildet war ich! Den Brief bekamen auch ihre Eltern zu lesen. Dass Margret den Kontakt mit mir abbrach, war nahezu unvermeidlich. Dass ich aber nicht nachhakte, um sie für mich zurückzugewinnen, worauf sie vielleicht wartete – das war das Allerdümmste. Da kam ganz bestimmt mein Minderwertigkeitsproblem vermengt mit falschem Stolz durch.
Weil bei Tanzkursen regelmäßig Frauenüberschuss herrschte, nahm ich noch an zwei weiteren Kursen teil, ohne dafür bezahlen zu müssen. Ein Mädchen wie Margret fand ich leider nicht mehr. Margret und ich sind uns nie mehr begegnet.
(Übrigens: Die Frau, die ich 15 Jahre später heiratete, heißt zufällig auch Margret. Doch das ist eine andere Geschichte.)