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ОглавлениеVorwort
Im August 2018 bekomme ich Post von meinem alten Freund Hermann Rühle. Der Inhalt: sein neuestes Buch mit dem Titel »Was bin ich? Wie bin ich? Wozu bin ich?«
Hermann ist Diplom-Psychologe und war als Trainer für große Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig. Seine Schwerpunkte waren Zeitmanagement und kreative Entfaltung. Wir kennen uns seit unserer gemeinsamen kaufmännischen Lehrzeit in einem Industriebetrieb in der Nähe von Stuttgart. Das war Anfang der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.
In seinem Buch ermuntert er seine Leser, die eigene Identität zu finden. Als Mittel dazu empfiehlt er, den »Roman ihres Lebens« zu schreiben. Eine solche Autobiographie sollte nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sein, sondern allein für die Familie, vielleicht ein paar Freunde und für sich selbst – als Versuch, sich selbst zu hinterfragen und mit sich ins Reine zu kommen. Diese Idee ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Aktuellen Stoff habe ich für so eine Niederschrift: Ich bin an Morbus Parkinson erkrankt. Mein neuer Lebensgefährte und Untermieter begleitet mich jeden Tag und sagt mir, wo es langgeht. Er nimmt sich allerhand Rechte heraus, verbietet mir das Schreiben, in dem er meine Schrift kleiner und unleserlicher werden lässt, schickt mich wegen Sprechschwierigkeiten zur Logopädin, hält mich von der Gartenarbeit fern, in dem er mich beim Bücken schwindelig macht, und verweigert mir die Nachtruhe, weil er mich ständig auf die Toilette schickt.
Eine Gelegenheit, mit Hermann über meine Krankheit und das Buch zu sprechen, ergab sich beim jährlichen Treffen der etwa sieben Weinfreunde, mit denen wir durch Weinberge wandern, Weingüter besuchen und den einen oder anderen Wein verkosten. 2018 fand unsere Zusammenkunft – die vierzigste – Ende August an der Obermosel statt. Als Hermann und ich für eine Weile unter uns waren, ergriff ich das Wort. Er hörte mir lange zu und ermunterte mich, alles aufzuschreiben, was mich umtreibt. Obwohl wir uns seit fast 60 Jahren kennen, tauschten wir uns nie zuvor so offen aus. Hermann hätte mir als Diplom-Psychologe sicher in der einen oder anderen Situation meines Lebens einen Ratschlag geben können, doch diese Chance nutzte ich nie (und der Andere drängt sich dann auch nicht auf). Ist es jetzt, da ich unheilbar krank bin, nicht zu spät? Nicht ganz. Wir redeten über Leben, Krankheit und Tod. Angst vor dem Sterben, versicherten wir uns gegenseitig voller Überzeugung, haben wir nicht. Unsere Leichname sollen verbrannt, die Asche entweder in einer Urnenwand auf dem Friedhof, oder unter einem Baum im Friedwald beigesetzt werden. Wir kehren zurück in das Nichts, dem wir entstammen. Unsere Gene aber werden in unseren Nachfahren weiterleben.
Auf manchen Leser werden meine Erfahrungen mit »Morbi« trostlos wirken. Doch es gibt Tage, an denen ich ihm ein Schnippchen schlage. Zum Beispiel, wenn ich mit meiner Frau in ein Konzert oder ins Restaurant gehe oder donnerstags mit einem Bekannten Schach spiele. Beim Nachdenken über mein Leben – in dem so einiges unrund lief – und bei der Niederschrift vergesse ich eine Zeit lang die Niederträchtigkeit von »Morbi«. Es ist befreiend, abends am PC zu sitzen und meine Erinnerungen aufzuschreiben. Und tröstlich ist es, auf diese Weise mit dem Leser in Kontakt zu treten, ihm von meinen Erlebnissen zu erzählen, von den Menschen, die mich auf meinem Lebensweg begleiteten,* und von den weit über den Globus verteilten Orten, an denen ich Station machte, manchmal länger, manchmal kürzer. Ohne den (vermessenen) Anspruch zu erheben, vollständig zu sein, ist so im Laufe vieler Monate ein umfangreiches Buch entstanden.
Um die Lektüre zu erleichtern, möchte ich meinen Lesern vorab einige knappe Hinweise an die Hand geben: In einer Art Rahmenhandlung erzähle ich die Geschichte meiner Erkrankung – vom ersten Verdacht und der Diagnose über die zahlreichen Klinik- und Reha-Aufenthalte bis in die Gegenwart. Diese Rahmenhandlung ist fortlaufend in die Schilderung meiner Lebensgeschichte eingebettet, die ich in sieben große Teile gegliedert habe: Kindheit und Jugend, berufliche Ausbildung, die Familiengründung und der Beginn meiner (bescheidenen) Karriere bei Bosch, die (im fünften Teil) in der ausführlichen Schilderung meines größten »Abenteuers« gipfelt – meine Zeit in China. Die beiden letzten Teile des Buches (Teil 6 und Teil 7) knüpfen daran an, wollen aber keine fortlaufende Erzählung mehr bieten. Sie stellen eine Art »Lebens-Album« dar, in dem ich in lockerer Folge von vielen schönen und manchen traurigen Momenten aus meinem Leben im Ruhestand erzähle. So lädt dieses Buch jeden Leser zu einer ganz individuellen Lektüre ein. Man kann es von Anfang bis Ende lesen oder es durchblättern, um dort, wo das eigene Interesse geweckt wird, zu verweilen. Man kann es als Autobiographie lesen oder als einen Versuch, sich gegen eine fortschreitende, den Alltag mehr und mehr bestimmende Krankheit zu behaupten. Ich möchte jeden, der dieses Buch in die Hand nimmt, ausdrücklich dazu ermuntern, sich seinen eigenen Weg durch die Seiten zu bahnen.
Waldbronn im November 2020, Werner Stilz
*Zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte änderte ich bei einigen dieser Menschen den Namen