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Auf nach Kanada

Inzwischen kam mir eine andere Idee. Es zog mich in die Ferne. Aus den Briefen meines Bruders Rolf konnte ich schließen, dass es ihm in seiner neuen Heimat Kanada sehr gut ging. Er war Vorarbeiter bei den Elektrizitätswerken der Provinz Manitoba mit einem guten Verdienst. Gemeinsam mit seiner Frau Friedel hatte er mit viel Eigenleistung in Winnipeg, Manitoba, ein Haus gebaut, tatkräftig unterstützt von Friedels Vater und ihrem Schwager Herbert.

Schon zwei Jahre vorher, im Jahr 1962, besuchten unsere Eltern ihren Sohn Rolf und ihre Schwiegertochter. Der kanadische Lebensstil, die noblen Häuser und die riesigen Straßenkreuzer beeindruckten sogar sie. Doch jetzt waren sie nicht glücklich darüber, dass auch ich als ihr letzter Sohn sie verlassen wollte. Ich versprach ihnen, dass es nur für ein Jahr sei. Daraufhin gaben sie mir ihren Segen. Mein Vater zahlte sogar den Flug nach Winnipeg. Kurz vor meinem 21. Geburtstag begann mein Kanada-Abenteuer.

Ich bezog ein Zimmer im Haus meines Bruders. Friedel kannte ich schon, da die beiden uns Ende der Fünfzigerjahre in Deutschland besucht hatten. Damals stand die Entscheidung an, ob sie eventuell nach Deutschland zurückkehren oder Kanadier werden wollten. Nach dem Besuch stand für sie fest: »Wir werden die kanadische Staatsbürgerschaft beantragen.«

Rolf hatte Friedel bei einer Tanzveranstaltung im Deutschen Club von Winnipeg kennengelernt. Ursprünglich stammte sie aus Ostpreußen. Nach der Flucht im Winter 1945 hatte die Familie noch einige Zeit im Westen Deutschlands gelebt. Anfang der 1950er Jahre bewiesen die Eltern den Mut, mit fünf Kindern nach Kanada auszuwandern. Sie lebten sich in der Neuen Welt gut ein. Auch Friedels vier Schwestern heirateten deutsche Einwanderer.

Nach zwei Wochen nahm Rolf mich zu einem Angelwochenende mit. Gemeinsam mit Kumpel George fuhren wir im Pickup hinaus zum Winnipeg River, etwa fünfzig Kilometer nördlich der Stadt. Das Fishing Camp lag auf einer kleinen Insel und bestand aus rot gestrichenen Holzhäuschen. Dort tummeln sich im Sommer meist Amerikaner, die zum Fischen im glasklaren Wasser nach Manitoba kommen. Doch jetzt war die Saison vorüber. Rolf und George kannten den Besitzer des Camps. Er händigte ihnen die Schlüssel aus. Außerhalb der Saison konnten wir uns völlig ungestört dem Fischfang widmen. Es war für mich ein starkes Erlebnis – einsam in purer Natur. In drei Tagen huschte nur einmal ein Trapper in seinem Boot an uns vorüber. Fische, vor allem Regenbogenforellen, gab es in Hülle und Fülle. Kaum hatten wir die Angel vom Boot aus ins Wasser geworfen, zappelte schon ein stattlicher Fisch an der Schnur. Damit sie frisch blieben, zogen wir die gefangenen Fische an Haken hinter dem Boot her.


Mit Rolf am Falcon Lake in Kanada, 1965

Einmal gab es ein Rascheln in der absoluten Stille. Ein Nerz war unbemerkt herangeschwommen und hatte sich am größten Fisch gelabt, nur noch Gräten blieben übrig. George wollte den Bösewicht mit seiner Knarre abschießen, doch schon war der schlaue Kerl im Wasser verschwunden. Auf dem Holzkohlengrill zauberten Rolf und George Delikatessen aus den frisch gefangenen Fischen. Dazu wurden etliche Bierdosen geleert. Die Sonne ging am wolkenlosen Himmel unter und reflektierte auf dem Wasser des Winnipeg River. Als Absacker gab es den guten kanadischen Whiskey Crown Royal. Das war Canadian Life pur.

Zurück in Winnipeg, bekam ich über das Arbeitsamt einen Job. Dem für mich zuständigen Jobvermittler hatte ich von meiner Arbeit bei Birkel berichtet. Das brachte ihn auf die grandiose Idee, ich müsste der geborene Helfer für Campbell Soups sein, da dort Nudelsuppen hergestellt würden. Für die Firma Campbell Soups hatte Andy Warhol nur kurz zuvor, 1962, seine berühmte Grafik mit der rot-weißen Dose angefertigt.

Meine Aufgabe war es, die auf einem Band anrollenden Suppendosenkartons zu verschließen und auf Paletten zu stapeln. Das war gar nicht so einfach, die Kartons kamen in rascher Folge. Nach etwa sechs Wochen wurde ich ins Büro bestellt, wo man mir meine Entlassung verkündete. Für mich war das völlig unverständlich. Schließlich erfuhr ich, dass ich nur ein Ersatz für einen erkrankten Arbeiter gewesen war. So lernte ich zum ersten Mal das amerikanisch-kanadische Prinzip von »Hire and Fire« kennen.

Auf einen Bürojob hatte ich mit meinem rudimentären Schulenglisch zunächst keine Chance. Ich blieb zunächst ein Gelegenheitsarbeiter, was mich aber nicht störte, weil ich schnell eine neue Beschäftigung fand.

Toronto

Nach einem halben Jahr bei Rolf und Familie packte ich meine Habseligkeiten und zog weiter nach Toronto. Mit der Canadian Pacific Railway dauerte die Bahnfahrt zwei Tage und eine Nacht. In einem bequemen Vier-Bett-Abteil war es angenehm zu reisen, der Service im Zug exzellent. In östlicher Richtung ging es in die Provinz Ontario, zunächst durch die topfebene Prärie mit riesigen Getreidefeldern, die jetzt im Frühjahr nach dem Pflügen in sattem Braun schimmerten, dann durch lichte Wälder, die nicht enden wollten. Zahlreiche Seen mit tiefblauem Wasser glitten vorüber.

In einer deutschsprachigen Zeitung hatte ich von einem Jobangebot gelesen: Expedient in einer Molkerei. Dort arbeitete auch Jan, ein junger Holländer, der mich in seine Wohnung aufnahm, bis ich eine eigene Bleibe finden würde. Jan war ein gutaussehender Kerl, der auf die Damenwelt offensichtlich unwiderstehlich wirkte. Sein »Hobby« war der One-Night-Stand. Stolz zeigte er mir die Blutflecken auf seiner Bettdecke, wenn es ihm wieder einmal gelungen war, einem jungen Ding die Unschuld zu rauben. Ich blieb nicht lange in seinem Appartement, doch pflegten wir unsere Freundschaft weiter. Vermutlich war ich ein ruhender Pol in seinem sonst so anstrengenden Leben.

In Toronto hatte ich verschiedene Jobs, in keinem blieb ich lange. Dafür genoss ich als Junggeselle die schöne Stadt und die Vorzüge des kanadischen Lebens. Wie es in Kanada fast die Regel ist, suchte ich mir einen zusätzlichen Nebenjob, einmal als Kellner in einem Tanzlokal, bei dem das Trinkgeld mehr einbrachte als mein offizieller Lohn, das andere Mal als Platzanweiser im noblen O’Keefe Center, in dem große Künstler auftraten. Eine ganze Woche lang erlebte ich Harry Belafonte zusammen mit Nana Mouskouri live auf der Bühne. Außerdem wurden bekannte Musicals im O’Keefe Center aufgeführt. »My fair Lady«, »Hello Dolly«, »Half a Sixpence« und »The Sound of Music« gefielen mir ausgesprochen gut.

Für mein erstes Auto, einen azurblauen Pontiac, zahlte ich nur 250 Dollar. Der Straßenkreuzer war in die Jahre gekommen, sah aber noch gepflegt aus. Jetzt brauchte ich nur noch den kanadischen Führerschein. Kein Problem, dachte ich, und meldete mich zur Fahrprüfung an. Fahrstunden waren zu der Zeit in Kanada nicht erforderlich. Der Prüfer saß stoisch auf dem Rücksitz und gab die Kommandos. Als die Fahrt beendet war und ich mich erwartungsvoll umdrehte, sagte er: »You’ve missed it!«

Ich war durchgefallen, weil ich an einem Stoppschild das Auto nicht komplett zum Halten gebracht hatte. Nun musste ich vier Wochen warten, bis ich einen neuen Anlauf für die Prüfung machen konnte. Diesmal klappte es. Mit dem neuen Führerschein in der Tasche, fuhr ich eine Zeit lang mit einem »Catering Truck« vor die Tore von Gewerbebetrieben, um Kaffee, Sandwiches und Salate zu verkaufen, wenn die Beschäftigten zur Arbeit gingen oder Mittagspause hatten. Dieser Job konnte mich gut ernähren. Doch ich musste verdammt früh aufstehen, mit meinem Auto zum Standort der Cateringfirma fahren und all die Sachen laden, die es später zu verkaufen galt. Eines Morgens kam ich vor Müdigkeit von der Straße ab und landete auf Straßenbahngleisen. Zum Glück passierte mir nichts.

Während der Weltausstellung 1964/1965 in New York unternahm ich mit Jan einen Abstecher in den Big Apple. Unser Quartier bezogen wir bei meiner Tante Mina und Onkel Christian, die einen schönen Bungalow auf Long Island bewohnten. Wir blieben ein paar Tage, genossen die schönen Strände oder fuhren mit der Long Island Railway ins aufregende Manhattan. Auf der Weltausstellung imponierte mir besonders das erste Bildtelefon, Vorgänger von Skype, jedoch als Telefon mit kleinem Bildschirm. Diese Technik konnte sich nicht durchsetzen.

Eine andere Reise, mit dem Greyhound-Bus, führte uns nach Chicago, wo mir besonders der Besuch im Original-Playboy-Club in Erinnerung blieb. Nicht nur wegen der Bunny Girls, sondern auch wegen eines umwerfenden Blicks auf den nächtlichen Michigansee, den man von der oberen Etage des Clubs aus genoss.

Weitere beliebte Ausflugsziele waren die Niagarafälle, die die Grenze zu den USA bilden, und der Ontariosee, an dessen Ufer die Stadt Toronto liegt. Von einer kleinen Insel aus genoss ich den beindruckenden Ausblick auf die imposante Skyline von Toronto. Moderne Hochhäuser, wie die kurz zuvor fertiggestellte City Hall mit zwei halbrunden, einander gegenüberstehenden Gebäuden beeindruckten mich genauso wie die supermodernen, sechsspurigen Highways über den Häusern, Flyovers genannt.

Keimte Sehnsucht nach Verwandtschaft auf, fuhr ich nach Hamilton, einer Industriestadt nicht weit von Toronto entfernt. Dort wohnten Friedels Schwester Erna und ihr Mann Henry. Sie betrieben einen kleinen Grocery Store, einen Lebensmittelladen, der ihnen auskömmliche Einkünfte für ihren Lebensunterhalt ermöglichte. Später sollte Henry umsatteln. Er wurde Häusermakler. Ich genoss die große Gastfreundschaft der beiden. Außerdem war mit Henry gut zu »politisieren«.

Wieder in Winnipeg

Nach einem Jahr in Toronto machte ich mich zusammen mit Jan wieder auf den Weg Richtung Winnipeg. Kurz vor dem Ziel, nahe der Stadt Kenora, gab mein schöner Pontiac seinen Geist auf. Wir schafften es gerade noch in die Werkstatt. »Kolbenfresser«, sagte der Mechaniker, »da ist nichts mehr zu machen.«

Also mussten wir unsere Reise im Greyhound-Bus fortsetzen.

Jan fuhr weiter in den Westen nach Calgary. Ich blieb in Winnipeg und fand eine Anstellung im K-Mart, vergleichbar mit den hierzulande bekannten Walmart-Läden. Als Trainee war ich verantwortlich für eine Verkaufsabteilung, zunächst die Schreibwaren- und später die Zoo-Abteilung. Dort ging es manchmal chaotisch zu, wenn zum Beispiel ein Kunde einen kleinen Affen kaufen wollte und dieser sich mit Kräften wehrte, aus seinem Käfig zu kommen und aus lauter Angst Durchfall bekam. Hin und wieder entwischte uns auch ein bunter Vogel und flog im Laden herum. Einmal organisierte ich die Verkaufsaktion »Goldfische zum Sonderpreis«. Dazu wurde ein Kinder-Plastikbad mit Wasser gefüllt, in dem die kleinen Fische schwammen. Ein Bösewicht schüttete aber unbemerkt Seifenpulver ins Wasser. Die Aktion war damit schnell beendet. Bei K-Mart hatte ich einen netten Kollegen namens Will, der ebenfalls als Trainee eine Abteilung leitete.

Ich wohnte im Stadtteil St. Boniface in Untermiete bei Denise Vanderdonckt, einer Witwe mit drei halbwüchsigen Kindern. Ich fand rasch Anschluss an diese nette Familie. Mit meinem inzwischen erworbenen zweiten Auto unternahmen wir schöne Ausflüge in die Umgebung, zum Beispiel zum Winnipeg Lake oder Winnipeg River mit seinem glasklaren Wasser und kleinen Sandstränden. Denise war Zeugin Jehovas. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie mich nie missionieren wollte.

An Wochenenden war ich oft im Haus meines Bruders Rolf und seiner Familie zu Gast. Samstagabends war »Hockey Night in Canada« angesagt. Wir saßen, wie wahrscheinlich die Mehrzahl aller Kanadier, gebannt am TV, wenn die besten Eishockeyspieler der Welt in der National Hockey League aufeinandertrafen. Dazu gab es traditionell Rum mit Coke oder Whisky mit Ginger Ale zu trinken. Friedel stellte ihre köstlichen gegrillten Sandwiches bereit. Es war typisch kanadisches Leben, wie es bei den meisten deutschen Einwanderern in dieser Zeit üblich war. Man wollte sich schnellstmöglich assimilieren, die kanadische Staatsbürgerschaft erwerben und ein guter Kanadier sein.

Bei meinem Bruder Heinz lief es leider nicht so gut. Als er in Kanada ankam, arbeitete er zunächst, wie auch Rolf, im Wald als Holzfäller. Im abgeschiedenen Camp gab es wenig Abwechslung. Alle vier Wochen konnten die Waldarbeiter in die nächstgelegene Stadt gehen, um sich von der schweren Holzfällerarbeit zu entspannen. In der Stadt gab es ausreichend Bars mit Alkohol und schönen Damen. Ich muss es leider sagen: Heinz entspannte sich etwas zu extrem, er sprach zu sehr dem Alkohol zu. Nach einigen kleinen Delikten wurde er nach einem Jahr ausgewiesen. Er ging nach Deutschland zurück.

In Kanada herrschten zu dieser Zeit aber auch ganz besondere, für mich sehr eigenartige Gesetze für den Ausschank und Verkauf von Alkohol. Manchmal ging ich mit Kumpels in Hotels mit angeschlossenen Bierkneipen, die sogenannten Beer Parlors. Diese waren strikt getrennt in Parlors für Männer und solche für »Ladys with Escorts «, also für Paare! In den Parlors für Männer gab es nur Bier, meistens stand man an runden Stehtischchen. Anfangs wunderte ich mich darüber, dass auf jedem Tischchen Salzsteuer standen. Die Kanadier hatten damals die Angewohnheit, Salz in ihr Bier zu streuen. Verrückt wurde es, wenn es im Saal hieß: »Last Call!«

Die Gäste bestellten schnell etliche Biergläser auf einmal, da sie anschließend die Kneipe verlassen mussten. Wenn ich mich recht erinnere, war das bereits gegen 19 Uhr. Der Grund: Die Zecher sollten zum Abendessen nach Hause gehen. Zwei Stunden später machte der Beer Parlor wieder auf.

Im Freien war der Alkoholkonsum überall strikt verboten. Wenn junge Leute im Park beim Picknick oder am Strand ein Bierchen trinken wollten, mussten sie die Bierdose unter Papier oder einem Handtuch verstecken. Fernsehwerbung für Bier war grundsätzlich erlaubt. Doch durfte die betreffende Biermarke im Gespräch zwar gelobt, das Produkt selbst aber nicht gezeigt werden.

Die meisten Restaurants hatten keine Lizenz für den Ausschank von alkoholischen Getränken. Wer dennoch auf ein Glas Wein zur Mahlzeit nicht verzichten wollte, musste in besondere BYO einkehren – »Bring your Own«. Dort war es möglich, gegen ein Korken-Geld den selbst mitgebrachten Wein zu verzehren. Bis heute sind Wein und andere alkoholische Getränke nur in staatlichen Läden, den Liquor Stores, erhältlich. Damals musste man mindestens 21 Jahre alt sein, wenn man dort einkaufen wollte. Inzwischen wurde das Mindestalter auf 18 oder 19 reduziert – das ist in den einzelnen Provinzen unterschiedlich. Bier gibt es mittlerweile auch im Supermarkt.

Faszinierend fand ich die Drive-In Restaurants von A&W, den Vorläufern von McDonalds. Im Auto sitzend gab man über die Lautsprecher-Anlage seine Bestellung auf und parkte dann auf dem Restaurantgelände. Hübsche junge Mädchen in adretten Uniformen brachten das Bestellte – meistens Hamburger – direkt ans Auto. Das Tablett wurde einfach an der Fensterscheibe eingehängt. Etwas Bequemeres konnte ich mir nicht vorstellen. Auch die Drive-In-Kinos waren sehr beliebt. Leider hatte ich zu der Zeit keine Freundin, mit der ich dabei hätte schmusen können.

Eindrücklich waren auch die Winter. In Manitoba kann es verdammt kalt werden. Bei klarem Himmel sinken die Temperaturen häufig auf bis zu minus dreißig Grad Celsius. Daher waren an Parkplätzen vor den Supermärkten Steckdosen für Autos und LKWs installiert. Durch ein Kabel stellte man die Verbindung zu einer Heizspirale her, die das Öl direkt im Ölbehälter aufwärmte, damit es nicht einfrieren konnte. Einmal, als ich morgens zu Fuß auf dem Weg ins Geschäft war, hatte ich vergessen, meine Ohrmuffen aufzusetzen. Die Ohren schmerzten so sehr vor Kälte, dass ich nicht wusste, ob ich weiterrennen oder besser umkehren sollte. Zum Glück trugen die Ohren keine bleibenden Schäden davon.

Inzwischen ging mein Aufenthalt in das dritte Jahr. Meinen Eltern hatte ich aber versprochen, nur ein Jahr wegzubleiben. Ich bekam langsam ein schlechtes Gewissen und nahm mir vor, bald die Heimreise anzutreten.

Jetzt noch nach Vancouver

Allein wegen der strengen Winter war Winnipeg kein Ort zum Verweilen. Doch bevor es zurück nach Deutschland gehen sollte, wollte ich mir noch Vancouver in British Columbia anschauen. Als ich meinem Kollegen Will vorschlug, dorthin zu ziehen, war er gleich einverstanden. Mit unseren Autos machten wir uns auf dem Trans-Canada-Highway auf den Weg gen Westen. Der Verkehr war zu dieser Zeit nicht sehr stark, so dass kaum Gefahr bestand, dass wir uns verlieren konnten. Außerdem betrug die Höchstgeschwindigkeit 90 Meilen pro Stunde. Die Fahrt war unvergesslich schön. Zuerst ging es durch die kanadische Prärie, topfeben, links und rechts riesige Getreidefelder, ab und zu ein rot gestrichenes Farmhaus. Dann erreichten wir die Rocky Mountains. Die Fahrt dauerte drei Tage. Wir übernachteten in Motels, die es überall am Straßenrand vor den Ortschaften gab. Am dritten Tag bogen wir vom Highway ab und nahmen die südliche Route entlang der amerikanischen Grenze. Wir passierten herrliche Seen und mächtige Berge. Auf dem Highway kurz vor Vancouver passierte es dann doch: Will machte eine Pinkelpause, wir verloren uns aus den Augen. Erst in der Stadt, im Kaufhaus Hudsons Bay, trafen wir uns schließlich wieder. Die Hudsons Bay Company gab es in jeder großen Stadt. Unabhängig voneinander hatten wir die gleiche Idee: Das ist der beste Ort, um uns wieder zu finden.

Wer einmal in Vancouver war, wird mir Recht geben: Es ist eine bezaubernde Stadt. Allein die Lage ist überwältigend. Hier der Pazifische Ozean, dort die Berge der Grouse Mountains. Nicht weniger bezaubernd ist die Umgebung. Da ist zum Beispiel der Fraser River, wo jedes Jahr Millionen von Lachsen ihre anstrengende Wanderung zu ihren Laichplätzen machen und für die Bären zur leichten Beute werden. Außerdem gibt es, nur ein paar Stunden mit dem Fährschiff entfernt, das wunderschöne Vancouver Island mit der Landeshauptstadt Victoria.

Als Will und ich uns wiedertrafen, galt es zunächst, eine Unterkunft und einen Job zu finden. Ich landete zunächst im Straßenbau. Mit einem Pressluftgerät planierte ich im Bau befindliche Straßen. Diese Arbeit war anstrengend und daher sehr gut bezahlt. Die frische Luft tat mir gut – bis zu dem Zeitpunkt, als der Regen kam. Es regnet häufig in Vancouver. Ich kündigte und fand eine Anstellung als Vertreter für Lebensversicherungen bei der Zurich Insurance Company. Der Erfolg in dieser neuen Tätigkeit hielt sich allerdings in Grenzen, vor allem, weil ich selbst vom Produkt und vom Nutzen für die Kunden nicht voll überzeugt war. Die hohen Gewinne für die Versicherungsgesellschaft aber blieben mir nicht verborgen.

Will indes war wieder bei K-Mart eingestiegen. Er war ein Gutmensch und Mitglied der Heilsarmee, die in Kanada traditionell viele Anhänger hat. Eine seiner Aufgaben bestand darin, abends in Bierkneipen die Spendenbüchse herumzureichen. Mit den Einnahmen wurden Speisen für die ganz Armen finanziert. Eines Tages traf er auf Sylvi, wie er Mitglied der Heilsarmee. Später heirateten die beiden und zogen in den kalten Norden, nach Flin Flon, wo Will Leiter eines K-Mart-Stores wurde. Wir blieben lange in Briefkontakt. (Viele Jahre später, ich wohnte damals mit Frau und Kindern in Leonberg, lag ein Zettel der beiden im Briefkasten. Sie waren auf Europareise und wollten uns besuchen, doch wir waren gerade für ein paar Tage verreist. Da wir nur unsere Heimatadressen kannten und nicht die Telefonnummern, kamen wir leider nicht zusammen.)

Auch in Vancouver genoss ich mein ungebundenes Leben. Ich fand einen netten Freundeskreis und bändelte mit einem hübschen Mädchen philippinischer Abstammung an. Meist in Gruppen mit anderen Filipinos zogen wir zum Picknick und zum Camping hinaus in die Wildnis oder an einen Fluss. Es waren sorglose Tage. Irgendwann aber wollte die junge Dame mehr als nur Picknick machen. Sie wollte eine feste Beziehung und dachte bereits an eine Heirat. Dazu war ich noch nicht bereit. So kamen drei Gründe zusammen, dass ich mich nach einem Jahr in Vancouver entschloss, dieses schöne Land endgültig zu verlassen: Der Job, der mich nicht wirklich befriedigte, das Mädchen, das mich zu sehr bedrängte, vor allem aber das Versprechen an meine Eltern, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Schließlich waren die beiden nicht mehr die Jüngsten. Sie hatten es verdient, dass ich mich um sie kümmere.

Aus einem Jahr in Kanada wurden vier. Vier Jahre, in denen ich beruflich nicht vorankam. Doch war das auch nicht mein Ziel. Ich lernte ein Land mit freundlichen Menschen, grandiosen Landschaften und einer gut funktionierenden Demokratie kennen. (Der damalige Premierminister hieß übrigens Pierre Trudeau und war vor allem bei Frauen wegen seines guten Aussehens beliebt. Heute ist sein Sohn Justin Trudeau Kanadas Premierminister. Auch er gibt, meistens, eine gute Figur ab.)

Eines hatte ich versäumt: In die Provinz Quebec zu gehen, um neben der englischen Sprache auch Französisch zu erlernen. Das hätte mir später in meinem Beruf sehr genützt. Doch dafür war es nun zu spät.

Die Heimreise

Da ich in Kanada stets möbliert wohnte und auch sonst bescheiden lebte, passten meine Habseligkeiten in zwei Koffer. Mit diesen reiste ich per Bus nach Kelowna im Okanagan Valley in British Columbia, wo sich inzwischen mein Bruder Rolf mit Friedel und den damals zwei Kindern, Jeff und Rod, niedergelassen hatte. Auch ihnen war das raue Klima in Winnipeg auf Dauer zu lästig geworden. Ich verbrachte noch zwei Wochen bei ihnen, bevor ich mich mit dem Flugzeug in Richtung New York verabschiedete. Von dort aus wollte ich den Atlantik mit dem Schiff überqueren.

Nach einem letzten Besuch bei Tante Mina und ihrem Christian auf Long Island, logierte ich mich auf der »United States« ein, damals der schnellste Dampfer, ausgezeichnet mit dem blauen Band. Am 10. Oktober 1968 begann die viertägige Reise nach Le Havre, Frankreich. Dieses Luxusschiff begeisterte mich. Doch zuerst wurde ich seekrank. Mir war furchtbar übel, ich konnte mich nur noch ins Bett legen. Dieser Zustand dauerte einen ganzen Tag und eine Nacht. Als ich erstmals an der Bar saß und einem anderen Passagier von meiner Not berichtete, riet er mir, Whisky zu trinken. Ob es wirklich half, weiß ich nicht, doch die Seekrankheit verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Danach konnte ich den Luxus dieses Schiffes voll genießen. Die Speisen waren vom Allerfeinsten. Den Swimmingpool nutzte ich gern, wobei man entweder bergauf oder bergab schwamm, gerade so wie draußen der Wellengang war. An den Bars traf ich interessante Gesprächspartner. Abends an der Reling zu sitzen und die Sonne untergehen zu sehen, war ein schönes Erlebnis.

Bei der Ankunft in Le Havre wartete mein Freund Hermann auf mich, der mit seinem Citroën 2CV den weiten Weg auf sich genommen hatte, um mich abzuholen. Vier Jahre lang hatten wir uns nicht gesehen. Immerhin waren Briefe hin- und hergegangen. Dennoch gab es viel zu erzählen. Hermann hatte bereits seinen Dienst bei der Bundeswehr absolviert und es bis zum Oberleutnant der Reserve gebracht. Inzwischen studierte er Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Pforzheim.

Wir fuhren zunächst bis nach Paris, wo wir für zwei Tage Station machten, um uns die schöne Stadt anzuschauen. Leider wurde in der Nacht aus dem auf der Straße geparkten Auto mein Aktenkoffer mit etwas Bargeld gestohlen. Das konnte unsere Laune aber nur kurzfristig dämpfen.

Als mich Hermann bei meinen Eltern in der Schlachthausstraße ablieferte, war auch hier die Freude groß, wenngleich meine Mutter mit großem Bedauern feststellte, dass von meinen blonden Locken nicht viel übriggeblieben war. Inzwischen hatte ich ziemlich lichte Haare.

Heinz’ weiterer Lebensweg

Wie erwähnt, kam Heinz nach seiner Ausweisung aus Kanada nach Deutschland zurück. In Hamburg-Finkenwerder fand er eine Anstellung auf einer Ausbesserungswerft. Er hielt den Kontakt mit unseren Eltern auf Sparflamme. Offensichtlich schämte er sich. Später zog er nach Oberfranken, verdingte sich als Zimmermann-Gehilfe und lernte seine spätere Frau Monika kennen. Als die beiden in Wallhausen heirateten, war die ganze Verwandtschaft mütterlicherseits dabei. Auch sein gestrenger Pflegevater Robert versöhnte sich mit ihm. Kurz hintereinander wurden ihre beiden Kinder, Susanne und Hartmut, geboren.

In einer alten Dokumentenmappe fand ich die Abschrift eines Übertragungsvertrags zwischen Karoline Lang, geborene Häberlein, Witwe in Wallhausen, vertreten durch Robert Stilz, und Heinz Lang mit Ehefrau Monika Lang, geborene Heilemann. Mit dem Vertrag erwarben Heinz und seine Frau von der Oma ein Haus in Faurndau bei Göppingen, das ursprünglich einer Cousine von Oma Karoline gehörte. Diese kinderlose Cousine hatte in ihrem Testament verfügt, dass Karoline Lang das Haus erben soll. Die alte Frau wollte es nun an ihren Enkel Heinz weitergeben. So kam Heinz und seine Familie 1966 in den Besitz des schönen alten Backsteinhauses.

Nach meiner Rückkehr aus Kanada lernte ich Monika und die beiden kleinen Kinder kennen. Heinz hatte ich seit seiner Auswanderung nicht gesehen, er machte einen etwas verbrämten Eindruck auf mich. Er war bei einem Bauunternehmen in Göppingen angestellt, Monika arbeitete bei der Salamander-Schuhfabrik in Faurndau in der Produktion.

In der Zeit, als Susanne und Hartmut eingeschult wurden, verletzte sich Heinz bei einem Sturz vom Dach eines Neubaus tödlich. Es konnte nie einwandfrei geklärt werden, ob es ein Unfall oder Suizid war. Monika schaffte es als junge Witwe, ihre Kinder gut zu erziehen. Beide gingen in die Realschule und erlernten gute Berufe. Susanne wurde Krankenschwester und Hartmut, der schon immer gern malte und zeichnete, wurde Grafiker. Heute lebt Monika in einem Pflegeheim in Göppingen und fühlt sich dort sehr wohl. Tochter Susanne, die in der Nähe wohnt, kommt sie oft besuchen und versorgt die Wäsche für sie.

Kurz vor Weihnachten 2019 besuchte ich die Verwandten in Susannes Haus. Monika machte auf mich einen munteren Eindruck, ebenso wie Hartmut, den ich schon einige Jahre nicht mehr gesehen hatte. Er ist geschieden, während Susanne und ihr Mann Werner zwei erwachsene Töchter haben, die mit ihren Freunden zusammenleben.

Darum in die Ferne schweifen

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