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Die kaufmännische Lehre

Im Frühjahr 1961 endete meine Schulzeit. Auf eine Zeitungsannonce bewarb ich mich bei der Firma Birkel um eine kaufmännische Lehrstelle. Dazu musste ich einen handschriftlichen Lebenslauf einreichen. Die Graphologische Beurteilung lautete: »Fleißig, strebsam, hat Pflichtgefühl und Ausdauer. Ist mehr nach innen gerichtet. Beharrlich, sucht Impulse zu steuern. Gewissenhaft, genau und pünktlich, innerlich erregbar. Wenig geschmeidig und umstellungsfähig. Nicht ohne Ehrgeiz.«

So positiv hätte ich mich selbst nicht eingeschätzt.

Am 1. April 1961 trat ich meine Lehre zum Industriekaufmann bei den Schwaben-Nudel-Werken B. Birkel Söhne in Endersbach an. Als Absolvent der Höheren Handelsschule war meine Ausbildung auf zweieinhalb Jahre verkürzt. Neben mir gab es vier weitere kaufmännische Lehrlinge (das Wort Auszubildende kannte man damals noch nicht), darunter war auch Peter Ott, mit dem ich in der Mittelschule die Schulbank drückte. Ein Lehrling, der zur gleichen Zeit wie ich anfing, war Hermann Rühle.

Birkel war die unumstrittene Nummer Eins in der deutschen Teigwarenindustrie mit einem fortschrittlichen Marketing. So engagierte man damals schon Werbedamen, die in größeren Lebensmittelläden Birkel-Nudeln kochten und den Kundinnen zum Probieren anboten. Mehrmals pro Monat gab es Betriebsbesichtigungen für Einzelhändler. Ab dem zweiten Lehrjahr durften wir Lehrlinge die Leute in Gruppen durch die modernen Fertigungsanlagen führen und zeigen, wie Nudeln produziert werden. Anschließend wurden die Kunden in einem guten Gasthof mit Musik, Tanz und Trallala bewirtet. Es waren manchmal auch hübsche Töchter der Ladenbesitzer dabei, die wir gern zu einem Tänzchen aufforderten, ganz im Sinne des Kundenbindungskonzepts. Der Tag war für uns junge Spunde dann meist gelaufen.

Mein Vater hatte zu der Zeit in einem Anbau am Haus eine Ferkelaufzucht begonnen. Es fügte sich gut, dass es bei Birkel Nudelabfall gab, wenn bei der Produktion etwas auf den Boden fiel. Diesen Nudelabfall kaufte ich für ein paar Mark. Für den Transport der Papiersäcke mit den Nudeln durfte ich Vaters Goggomobil benutzen, nachdem ich mit 18 Jahren den Führerschein gemacht hatte. Für die fidelen Ferkel waren die Nudeln jedes Mal ein Festessen.

Die Firma Birkel gab sich große Mühe, eine gute Ausbildung zu gewährleisten. Alle Bereiche des Unternehmens mussten wir durchlaufen. Die ersten drei Monate waren wir Neuen im »Betrieb«, also in der Nudel-Presserei und Trocknerei, im Labor, im Gries-Silo, im Fertigwaren-Lager und beim Verladen eingesetzt, um den ganzen Herstellungsprozess kennenzulernen. Anschließend durften wir in den kaufmännischen Abteilungen »mitmischen«. Bits und Bytes hielten gerade Einzug in der Industrie. Bei Birkel standen im sogenannten Großmaschinenraum riesige Rechner der Marke Bull. Auf ihnen wurden Lochkarten verarbeitet, das unerlässliche Werkzeug für die verschiedenen Anwendungsgebiete der EDV. Rechnungen wurden mittels Lochstreifen automatisch erstellt.

Hinter der Verkaufsabteilung stand eine große Zahl von Mitarbeitern, die im Außendienst waren. Die Groß- und Einzelhandelsreisenden beackerten ganz Süddeutschland, einschließlich Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland. Die anderen Bundesländer wurden von den Birkel-Werken in Buxtehude und Schwelm versorgt. Auch im Außendienst sollten wir Lehrlinge Erfahrungen sammeln. Mit etablierten Reisevertretern waren wir unterwegs, um Einzelhändler zu besuchen und unser Nudelsortiment zu verkaufen. Die Einzelhandelsreisenden holten Überweisungsaufträge ein, die anschließend über die Großhandelsreisenden an den zuständigen Großhändler gingen. Die Verkaufsabteilung dachte sich ständig neue Verkaufsförderungsmaßnahmen aus, nicht nur mit den schon erwähnten Werbedamen, sondern auch mit dem Einsatz von allerlei Beigaben für Verbraucher und Einzelhändler zur Steigerung des Umsatzes.

Mittwochs kam der ehemalige Berufsschullehrer Dr. Biesinger als externer Ansprechpartner ins Haus. Unter seiner Aufsicht führten wir die Scheinfirma »Endersbacher Teigwarenfabriken ETF«. Was um Himmels Willen macht eine »Scheinfirma« im ehrwürdigen Haus Birkel? Um es gleich klarzustellen: Unsere Scheinfirma war kein Unternehmen, das in betrügerischer Absicht undurchsichtige Geschäfte tätigte, im Gegenteil, sie war ein hervorragendes Mittel für eine besonders praxisnahe Ausbildung der kaufmännischen Lehrlinge. Träger war die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft, die Scheinfirmen-Zentrale überwachte die Geschäftsbeziehungen der Übungsfirmen untereinander. An einem Nachmittag in der Woche betätigten wir uns im Wechsel als Buchhalter, Einkäufer, Werbeleiter oder Verkaufsleiter. Jeder war der Chef seiner Abteilung und konnte sich schöpferisch austoben und Entscheidungen treffen, trug dafür aber auch die Verantwortung. Am Jahresende wurden die Gewinn- und Verlustrechnung und die Bilanz in Schein-Mark erstellt. Die Korrespondenz mit anderen Übungsfirmen, mit denen wir Geschäftsbeziehungen unterhielten, lief über die Scheinfirmen-Zentrale in Hamburg.

Ein Höhepunkt war die Scheinfirmen-Messe in Karlsruhe. In wochenlanger Arbeit bauten wir mit tatkräftiger Unterstützung der gewerblichen Lehrlinge einen Messestand. Die linke und rechte Seite war der Werbung für ETF-Teigwaren vorbehalten, auf der Längswand wurde der Ablauf des Produktionsprogramms mit elektrischem Antrieb nachgebildet.


Scheinfirmenmesse in Karlsruhe, 1963. Von links: Karl Jakubowski, Peter Ott, Kurt Ruoff, Werner Stilz, Hermann Rühle. Daneben unser Ausbilder Dr. Biesinger und Peter Birkel.

In unserem Übereifer kam uns die Idee, den Schirmherrn und Chef der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Rolf Spaethen, per Telegramm explizit zum Besuch auf unseren Stand einzuladen. Bei seiner Ansprache am anderen Tag erwähnte er die »cleveren Kaufleute aus Endersbach«, die ihm mitten in der Nacht im Hotel den Schlaf raubten, als der Nachtportier mit unserem Einladungstelegramm an der Tür geklopft hatte. Spaethen zeigte Humor und war nicht nachtragend. Auch der baden-württembergische Wirtschaftsminister Dr. Leuze besuchte unseren Stand. Als zuständiger Verkaufsleiter konnte ich ihm eine Bestellung über 1.000 Kilogramm Teigwaren abluchsen. Kurz zuvor gab es das schreckliche Erdbeben in Skopje, Mazedonien, dorthin sollten die Nudeln – »scheinbar« – geliefert werden, als Spende des Landes.

Für unseren Messestand erhielten wir den Ehrenpreis, eine Reise nach Straßburg mit Besuch des Europaparlaments. Zu fünft im Firmen-VW-Käfer verlängerten wir den Aufenthalt in Frankreich für einen Besuch in Nancy und eine Tour durch die Vogesen.

Die Lehrzeit endete im Herbst 1963. Ich war Industriekaufmann. Die Firma spendierte uns Absolventen Karten für einen Besuch im Kleinen Haus in Stuttgart. Aufgeführt wurde »Die Heirat« von Nikolai Gogol, mein erster Besuch in einem richtigen Theater.

Ich blieb noch ein halbes Jahr bei Birkel in der Verkaufsabteilung. Dort übernahm ich unter anderem die Aufgabe, den Außendienst der Firma mit den ungefähr sechzig angestellten Reisevertretern mit zu steuern. Eigentlich gefiel mir die Arbeit gut. Doch dann erhielt ich ein Angebot, als künftiger Geschäftsführer einer kleinen Strickwarenfabrik auf der Schwäbischen Alb einzusteigen. Nach einer Besichtigung des mittelständischen Unternehmens, das sich auf die Herstellung hochwertiger Strickwesten für Damen und Herren spezialisiert hatte, sagte ich spontan zu. Ich sollte mich als rechte Hand des derzeitigen Stelleninhabers einarbeiten, um später sein Nachfolger zu werden. Herr Heßmann hatte aber offensichtlich gar keine Lust, so schnell seinen Posten zu verlassen. Aus diesem Grund, und auch wegen der Abgeschiedenheit des Standortes auf dem Land, zog ich die Konsequenzen und kündigte.

Darum in die Ferne schweifen

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