Читать книгу Darum in die Ferne schweifen - Werner Stilz - Страница 15
ОглавлениеParkinson 2
Herbst 2018
Sommer im Herbst 2018. An meinem 75. Geburtstag, dem 5. Oktober, klettern die Temperaturen auf 25 Grad Celsius. Einen Tag später, am Samstag, lade ich einige Freunde zu einem Frühstück »Deluxe« in ein schönes Café ein. Wir sitzen gemütlich auf der Terrasse und genießen die Sonne und das gute Essen.
Unter den Gästen ist auch Manfred, ein Kumpel, der schon einiges an Krankheiten erlebt hat. In jungen Jahren erkrankte er an einem Nierenleiden. Jahrelang musste er sich der Dialyse unterziehen. Als er eines Tages eine Spenderniere erhielt, verbesserte sich seine Lebensqualität erheblich. Inzwischen aber bereiten ihm seine Beine so starke Probleme, dass er nicht mehr gehen kann. Nach etlichem Hin und Her mit seiner Krankenkasse besitzt er jetzt einen Rollstuhl mit Elektroantrieb. Bei unserer Wanderung um den See kommt dieser Rollstuhl erstmals zum Einsatz. Manfred ist also ein Leidensgenosse, wenn auch unter ganz anderen Begleitumständen.
Werde ich gefragt, wie es mir geht, antworte ich mit einer Lüge: »Wenn es nicht schlimmer kommt, bin ich zufrieden.«
Natürlich bin ich überhaupt nicht zufrieden mit meiner Situation. Außerdem weiß jeder, dass die Krankheit fortschreitet. Sie wird auf jeden Fall schlimmer und niemals besser. Klagen hilft bekanntlich auch nicht. So versuche ich, den Geburtstag so entspannt wie möglich anzugehen. Meinen Freunden jedenfalls gefällt es. Die Enkel Jonathan und Samuel und drei andere Kinder haben auf dem großen Spielplatz ihren Spaß.
Mein Untermieter Morbi macht sich in meiner Wohnung immer breiter. Er beansprucht mein Schlafzimmer, wo er mich fast stündlich aufweckt und auf die Toilette schickt. Mein Neurologe, den ich letzte Woche zur vierteljährlichen Visite aufgesucht habe, will mit dieser Sache nichts zu tun haben. Er verweist auf den Urologen, der für den Harndruck zuständig ist. Der Urologe seinerseits verweist auf die Nebenwirkungen bei den Medikamenten, die ich wegen Parkinson einnehmen muss. Um gerecht zu sein, muss ich allerdings zugeben, dass meine Prostata dreimal so groß ist wie sie sein sollte. Dafür kann ich Morbi nicht verantwortlich machen.
Das andere große Problem, das mich beschäftigt, ist meine eingeschränkte Sehfähigkeit. Meine Augenärztin stellt fest: »Die Sehstärke stimmt.«
Vor einigen Wochen ließ ich mich am Grauen Star operieren, eine Besserung trat jedoch nicht ein. Jetzt will sie den Nach-Star lasern, um auf dem rechten Auge den entstandenen Schleier zu entfernen. Ich bin gespannt, ob es besser wird. Der Neurologe verneint einen Zusammenhang zwischen der Sehfähigkeit und Parkinson. Doch in einigen Beipackzetteln wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Einnahme des jeweiligen Medikaments eine Sehschwäche herbeiführen kann. Wenn dem so ist, kann auch der Augenarzt nichts daran ändern.
Meine Aussprache ist stetig schlechter und leiser geworden. Es ist schwierig, mich zu verstehen. Viele Leute fragen nach, was ich gesagt habe. Das ärgert mich besonders, denn ich gehe regelmäßig zur Logopädin und mache auch daheim fleißig meine Hausaufgaben, die vor allem darin zu bestehen, Texte nicht zu sprechen, sondern zu rufen, und schwere, lange Wörter schnell auszusprechen. Außerdem mache ich täglich die »Tube-Water-Resistance« -Übungen, bei denen man einen Schlauch in eine zu einem Viertel gefüllte Wasserflasche hält und leicht hineinbläst, um einen gleichmäßigen Wasserwirbel zu erzeugen. Dann variiert man die Stimmlagen von ganz tief nach ganz hoch und umgekehrt. Zunächst wusste ich damit nicht viel anzufangen. Doch inzwischen habe ich die Hoffnung, dass diese Übungen dazu beitragen, mein Sprechvermögen wenigstens zu erhalten.
Es scheint, als stürzte alles gleichzeitig auf mich ein. Meine Stimmung ist im Keller. Parkinson bestimmt inzwischen zu weiten Teilen mein Leben. Jeder, der mich beobachtet, bemerkt meine Beeinträchtigung. Einer Nachbarin, mit der ich mich kurz auf der Straße unterhalte, berichte ich von meiner Krankheit. Ihre Antwort: »Ich habe es mir schon gedacht, sie gehen anders als früher.«
Beim Einkaufen dauert es, bis ich mein Portemonnaie aufbekomme, das richtige Geld finde, und wieder schließe. Daher habe ich mir angewöhnt, nur noch mit EC-Karte zu zahlen. Die habe ich schon in der Hand, wenn ich an die Kasse komme. Beim Autofahren werde ich unsicherer. In der Parklücke steht mein Auto meist schief. Ich fürchte, dass es nicht mehr sehr lange dauert, bis ich das Steuer aus der Hand geben muss und nur noch meine Frau Margret hinter dem Lenkrad sitzt.
Doch dann geschieht dies: Am 14. Oktober fahre ich mit Margret nach Stuttgart zum Cannstatter Volksfest. Die Stimmung auf Deutschlands zweitgrößtem Volksfest ist prächtig. Danach suchen wir in Obertürkheim, einem Stuttgarter Weinort, eine Besenwirtschaft auf, essen vorzüglichen Rostbraten und trinken ein Glas Spätburgunder. Wie in alten Zeiten! Es ist ein Tag, an dem ich Parkinson einfach vergesse. Und noch etwas: Ich buche eine zweiwöchige Reise nach Teneriffa. Ätsch, Morbi!