Читать книгу Lingen in Geschichten - Werner Tonske - Страница 10
Karneval in Lingen
ОглавлениеKostümiert als Harlekin mit Narrenkappe, begegnete er mir am Rosenmontag. Bei seinem Anblick rieb ich mir die Augen, befürchtete ich doch, dass er vom rechten, rheinischen Weg abgekommen sei, und sich in unserem abseits vom Karnevalstreiben befindlichen Emsstädtchen verlaufen habe. Narretei und Possenreißen lag den Emsländern in den sechziger Jahren noch nicht. Nur vereinzelt waren Mütter und Väter mit ihrem Nachwuchs, als Trapper, Indianer, Seeräuber, Clowns oder Hexen und Feen verkleidet, auf den Straßen zu sehen. Begegneten sich die Straßenkarnevalisten in der Stadt, dann krachten die Knallpistolen der Trapper und Indianer. Seeräuber fuchtelten mit Holzschwertern bedrohlich vor erschreckten Kindergesichtern herum, und Clowns mit roten Pappnasen fanden es lustig, Fliegenklatschenhiebe auf Po und Rücken anderer zu verteilen.
Laut plappernd zog die kleine Narrenschar mit ihren gute Miene machenden Eltern, und von nachsichtig lächelnden Passanten begleitet, durch die Stadt. Bis irgendwann Langeweile aufkam, und die Kinderschar sich auflöste. Die Kleinen quengelten, wollten, müde geworden, nach Hause. Sie hatten genug vom Karneval. Ich blieb aber noch.
Meine Familie und ich waren, nach zehn Jahren Aufenthalt in Düsseldorf, vor einigen Wochen nach Lingen zurückgekehrt. Nun war ich neugierig, wollte wissen, ob sich inzwischen auch hier so etwas wie Karnevalsfieber eingestellt hatte. So machte ich mich am Rosenmontag auf den Weg zur Innenstadt und war am Ende doch etwas enttäuscht von dem, was mir begegnete. Es dämmerte bereits. Ich mochte noch nicht den Nachhauseweg antreten. Vielmehr zog es mich in die damals wohl gemütlichste Kneipe von Lingen, zu Oma Schröder in die Bauerntanzstraße.
Drei ältere Männer beim Skatspiel am Stammtisch starrten angespannt auf ihre Spielkarten. Sie sahen nicht auf, als ich eintrat. Am Tresen klönten zwei Eisenbahner vom Ausbesserungswerk, bei Korn und Bier, auf Plattdeutsch. Ich verstand nicht viel davon, bestellte aber Wacholder und Pils und gesellte mich zu den beiden. Einmischen ins Gespräch vermochte ich nicht. Trotzdem gab ich mir Mühe, etwas vom Plausch mitzukriegen. Hin und wieder gelang es mir, dann wandte ich mich fragend an die Männer und bekam zwar eine Antwort auf Hochdeutsch, aber keine Möglichkeit, an der Unterhaltung teilzunehmen.
Resignierend bestellte ich noch einen Kurzen und ein Pils. Irgendwann hatte ich aber genug. Ich verließ die Kneipe. Draußen empfing mich Dunkelheit, die vom schwachen Licht der damaligen Straßenbeleuchtung kaum aufgehellt wurde. Auf meinem Heimweg, in Höhe des alten Rathauses am Marktplatz, löste sich plötzlich aus dem Dunkeln eine von mir hier dort nicht erwartete Figur - ein Harlekin – ein Karnevalsjeck! Verblüfft entfuhr mir umgehend ein übermütig schallendes „Helau!“. „Alaaf!“, tönte es spöttisch und nicht weniger lautstark zurück. Der Schlachtruf von der Konkurrenz aus Köln. Er wurde umgehend zum Auftakt einer dreiminütigen Frotzelei, wie üblich, wenn Kölner und Düsseldorfer aufeinander treffen. Danach klopften wir uns gegenseitig auf die Schulter.
Ich erfuhr, dass der Fremde in Lingen Freunde aus Köln besucht hatte. Im Krieg waren zahlreiche, durch die Luftangriffe der Alliierten obdachlos gewordene Großstädter, vor allem Kölner, nach Lingen evakuiert worden. Manch einer von ihnen blieb hier hängen. Mit denen hatte er an diesem Rosenmontag eine zünftige Sause hingelegt. Ganz wie Zuhause in „Kölle“ am Rhein. Gemeinsam mit Jupp Schmitz und Willy Schneider aus dem Radio, schunkelten und sangen sie die beliebten Karnevalslieder: Vom treuen Husar, den kornblumenblauen Augen der Frauen und vom Dom in „Kölle“, der dorthin gehört. Seine Augen leuchteten, als er davon schwärmte.
Nun aber musste er zum Bahnhof. Sein Zug fuhr in wenigen Minuten. Ich schloss mich ihm an. Wir hatten uns ja noch so viel zu erzählen. Wenig später setzte sich, von unseren Helau- und Alaafrufen begleitet, der Schnellzug nach Köln in Bewegung.