Читать книгу Lingen in Geschichten - Werner Tonske - Страница 6

Das erste Kivelingsfest nach dem Krieg

Оглавление

Das Schicksal pustete kräftig, als es meine Brüder und mich aus den angestammten Wurzeln riss und über das Land verstreute. Den Älteren über das von Krieg überzogene Europa und den Jüngeren und mich durch das zerrissene Nachkriegsdeutschland in eine fremde Stadt im Westen, die sich anschickte, ihr historisches Kivelingsfest wieder aufleben zu lassen. In dieser Stadt Lingen fanden wir uns nach jahrelanger Trennung wieder.

Kivelingsfest? Wir konnten uns darunter nichts anderes vorstellen, als ein Heimatfest wie in unserer Geburtsstadt, ein Jahr vor Kriegsbeginn. Der Anlass war die soundsovielte Wiederkehr unserer erworbenen Stadtrechte. Alles was Beine hatte, war damals unterwegs. Musikkapellen, Fahnen und Vereine bewegten sich in Uniformen und bunten Trachten durch die Straßen zum Stadtpark. Dort erwarteten die froh gestimmten Menschen Riesenrad, Karussells sowie Nasch- und Spielbuden. Und am Abend ein Feuerwerk.

Was also sollte dieses Kivelingsfest von unserem Heimatfest unterscheiden? Ich wollte es wissen und recherchierte. Im Gegensatz zu einem schlichten Volksfest verfügt das Kivelingsfest über eine jahrhundertealte Tradition. Die Kivelinge fanden ihren Ursprung in einer Wehrmannschaft unverheirateter Bürgersöhne, die 1372 zur Verteidigung der Stadt Lingen gegründet wurde. Traditionsgemäß findet daher alle drei Jahre zu Pfingsten, dem Gründungstag ihrer Vereinigung, der Bürgersöhne-Aufzug statt. Eine zwölfjährige Unterbrechung erfuhr das historische Geschehen durch den zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende, am 19. November 1945, genehmigte der hiesige Kommandant von der Britischen Besatzung die Wiederaufnahme des Vereinslebens der Kivelinge.

Im Verlauf ihrer Geschichte bewiesen die Kivelinge oftmals ihre Verbundenheit mit der Heimat, auch wenn es nicht um die Verteidigung der Stadt ging. So im Jahr 1948, als Übergriffe und Diebstähle die Bürger verunsicherten und die Kivelinge aus eigenem Antrieb die Bewachung ihrer Stadt erfolgreich übernahmen.

Vom ersten Kivelingsfest nach dem Krieg berichtete der Niederdeutsche Kurier am 8. Juni 1949. Die Kivelinge bewirteten am Pfingstsonntag im Kolpinghaus 200 Flüchtlingskinder mit Kakao und Kuchen. Zur Unterhaltung der Kinder führte der unvergessliche Jochem Hamann Puppenspiele auf, bei denen die kleinen Gäste begeistert mitgingen. Für verdiente Mitglieder fand am selben Tag im vollbesetzten Saal der Wilhelmshöhe ein Festkonzert statt.

Pfingstmontag 12 Uhr. Bei strahlendem Sonnenschein und unter den Klängen des Kivelingsmarsches erfolgte auf dem Marktplatz die Königskrönung. Satzungsgemäß darf nur ein gebürtiger Lingener auch König werden.1949 war es Friedel Seemann, ein Lingener Kaufmann, der Gertrud Schulte als Königin an seiner Seite erwählte. Bürgermeister Landzettel überreichte dem König die Throninsignien und schmückte ihn, wie seit altershehr üblich, mit dem silbernen Vogel.

Danach die Riesenüberraschung. Unter dem Beifall der zahlreichen Besucher vor dem Alten Rathaus übergab der amtierende Kommandeur Karl-Heinrich Goosmann dem Bürgermeister eine vom Lingener Goldschmied Hans Wichmann hergestellte goldene Amtskette, mit dem Wappen der Stadt und dem der Kivelinge. Anschließend händigte Stadtdirektor Mainka im Auftrag des Stadtrates den zu jedem Fest fälligen Betrag an die Kivelinge aus.

Als am Nachmittag die Majestäten zum großen Umzug eintrafen, empfing sie eine jubelnde Menschenmenge. Mit den drei Sektionen der Kivelinge und dem Musikzug der Reichsbahndirektion Münster begleiteten Tausende begeisterte Menschen den Umzug durch die mit Birkengrün und unzähligen Fahnen geschmückten Straßen der Stadt zur Wilhelmshöhe, zum Kaffeekonzert. Dieser zweite Festtag endete am Abend mit dem traditionellen Festball im Saal der Wilhelmshöhe.

Festzuhalten ist, dass dieses erste Kivelingsfest nach Kriegsende für alle, die dabei sein konnten, ein unvergessliches Erlebnis war. Viele weitere Bürgersöhne-Aufzüge folgten, die sicher prunkvoller ausgestattet waren und Lingen weit über die Region populär machten. Dennoch war das Kivelingsfest 1949 etwas Besonderes, weil es den daran Beteiligten nach jahrelangem Leid innig herbeigesehnte Lebensfreude bescherte.


Auf zum ersten Kivelingsfest nach dem Krieg. Rechts: Werner Tonske.

Lingen in Geschichten

Подняться наверх