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Badefreuden an der Ems
ОглавлениеDie Schattenseiten der Straßen nutzend, flitzten die Kinder in den heißen Sommertagen von 1949 barfuß durch die Stadt zur Ems. Unter den Arm geklemmt das Badetuch mit eingewickelter Badekleidung und eine Flasche Regina, damals eine beliebte Limonade. Vorbei ging es an der „Mili“, die Militärbadeanstalt, damals Lingens einzige städtische Badeanstalt. Obwohl dort die Tageskarte, wenn ich mich recht erinnere, nur 50 Pfennige kostete, wurde von den Wenigsten davon Gebrauch gemacht.
Denn ein Jahr nach der Währungsreform zählte für ein Millionenheer von Arbeitslosen, zu denen auch ich gehörte, jeder Groschen. Kein Wunder, dass deswegen das kostenlose Badevergnügen an der Ems gern genutzt wurde. Zumal das damals noch weitgehend naturbelassene Ufer, mit seinen zahlreichen Schatten spendenden Büschen, Platz für viele Badegäste bot. Auch mich trieb es in jenem Bilderbuchsommer täglich hinaus aus der kochenden Stadt, hin zum Erfrischung spendenden Fluss.
Ein schattiges Plätzchen fand sich schnell. Noch schneller entledigte sich ein jeder seiner Kleidung. Und dann nichts wie hinein ins Wasser. Herrlich, wie das kühle Nass die erhitzten Körper erfrischte. Sich von der Strömung wohlig treiben lassen oder zum gegenüberliegenden Ufer von Rheitlage schwimmen – jeder fand sein Badevergnügen.
Für geübte Schwimmer blieb die Ems ungefährlich. Vorausgesetzt, man überschätzte die eigenen Kräfte nicht und mied die allgemein bekannten Stellen, an denen Strudel vorkamen. Ein sicheres, flaches Ufer fand man in Höhe der Ems-Badeanstalt. Es wurde gern von Familien mit Kleinkindern angenommen.
Für die ganz Mutigen dagegen bot sich ein Sprung von der Brücke am alten Hafen in den nahe gelegenen Dortmund-Ems-Kanal an. Der einst rege Schiffsverkehr auf dem Kanal war, als Folge des Krieges, zu dieser Zeit erst in geringem Maße wieder aufgenommen worden. Ob nun am Kanal oder an der Ems, am Nachmittag brannte die Sonne unbarmherzig auf die ausgetrocknete Erde. Die Hitze machte schläfrig, lullte ein. Irgendwo dudelte leise ein Kofferradio, aus einem Kinderwagen meldete sich ein hungriges Baby und auf einer ausgelegten Decke hockten Karten spielende Kinder.
Sich behaglich räkeln, entspannen und zwischendurch Abkühlung suchen: Unaufgeregt verlief solch ein Badetag bis in den späten Nachmittag. Dann leerten sich allmählich die Uferwiesen. Eine Clique von Mädchen und Jungen zwischen 17 und 21, zu denen auch meine Freundin und ich gehörten, blieb zurück. Wir hatten uns im Verlauf der Sommertage gefunden und viel Spaß miteinander bekommen. Vor allem mit Ernst, dem Jungen aus dem Sudetengau, der nach der Vertreibung mit seinen Eltern in Lingen eine neue Heimat fand.
Er war unser Star. Ein Spaßvogel und Possenreißer, den jeder gern hatte. Dünn und fipsig, mit welligem Haar und tiefen Lachfalten im Schelmengesicht, entsprach er wahrlich nicht der Vorstellung vom Kraftprotz Tarzan, den er derart grotesk imitierte, dass wir uns vor Lachen bogen. Seine Urwaldnummer war einsame Klasse. Mit gespreizten Beinen und angewinkelten Armen sog er tief die Luft ein, bis die Rippen aus der hageren Brust drangen, um dann mit hohl vor dem Mund gehaltenen Händen wilde Schreie auszustoßen. Da hielt uns nichts mehr auf dem Boden. Wir wieherten und trampelten orgiastisch.
Später, als die sinkende Sonne die Spitzen des Buchenwaldes von Rheitlage erreichte, sich erste Schatten auf die Ems legten, setzte Ernst seine Mundharmonika an die Lippen. Mit „Sentimental Journey“ beginnend, blies er ein Potpourri der Schlager von einst. Die Jungen nahmen ihre Mädchen in die Arme und gaben sich ganz den Träumen einer warmen Sommernacht hin. So leben die jungen Leute zu allen Zeiten ihre Freiheit aus. Was Jugendliche heute jedoch oftmals von der gestrigen unterscheidet, ist der Verlust von Werten, resultierend aus den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre.
Viele Familien zog es in den Nachkriegssommern in Lingen an die Ems.