Читать книгу Lingen in Geschichten - Werner Tonske - Страница 8
Ein altes Haus erzählt
ОглавлениеEine nostalgische Anwandlung musste wohl über mich gekommen sein, die mich bewog, nach mehr als sechs Jahrzehnten das Anwesen meiner ehemaligen Wirtsleute in Lingen aufzusuchen. Es war nicht zu übersehen, der Zahn der Zeit hatte mächtig am Gemäuer genagt. Das Gebäude war unbewohnt, in einem desolaten Zustand. Nichts erinnerte mehr an die schmucke Doppelhaushälfte mit den sauberen Gardinen hinter blitzblanken Fensterscheiben, an die Blumenpracht auf den Fensterbänken und an die nach frischer Farbe duftende Haustür.
Irgendwann vor oder während des Krieges hatte die Familie Wieshard, aus Recklinghausen kommend, das Anwesen in Lingen erworben. Als ein Sohn im Krieg fiel, blieb das Ehepaar allein im Haus, bis im Sommer 1949 mein Bruder und ich uns ein möbliertes Zimmer bei ihnen teilten. Damals waren wir glücklich, nach unserer Flucht aus der damaligen Sowjetzone wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Zumal uns die beiden Endsiebziger wohlmeinend unter ihre Fittiche nahmen.
Frau Wieshard war, im Kontrast zu ihrem Mann, eine bestimmende Persönlichkeit: quirlig, beredsam und mit einem derben Humor ausgestattet. Dagegen wirkte die Ausgeglichenheit des Herrn Wieshard beruhigend. Sein heiteres Wesen, sein verstehendes Lächeln flößte Vertrauen ein.
Erstaunlich, dass die beiden doch so unterschiedlichen Charaktere großartig miteinander auskamen. Ich erinnere mich, was Herrn Wieshard betraf, an eine Begebenheit an einem sonnigen Sommermorgen. Als ich das Haus für eine Erledigung in der Stadt verließ, beschäftigte sich der Hausherr, im Hof auf der Bank sitzend, mit dem Fahrrad seiner Frau. Es hatte einen Platten.
Ohne Hast, mit ruhigen Bewegungen zu genussvollen Zügen aus der Tabakspfeife, tat er seine Arbeit. Ich blieb stehen, sah ihm ein wenig bei seinem Tun zu. Sein Anblick hätte einem Gemälde mit dem Titel „Der Zufriedene“ als Vorlage dienen können. Diese Ruhe, diese Gelassenheit - wie oft in meinem Leben habe ich sie mir gewünscht.
Als ich nach zwei Stunden zurückkehrte, hatte der Heimwerker soeben sein Tagewerk beendet. Er griff nach der Luftpumpe, um abschließend dem reparierten Schlauch Luft zu geben. Doch nicht, ohne vorher genüsslich einen Schluck aus dem auf dem Tisch stehenden, rosa schimmernden Glas Obstwein genommen zu haben.
Seine Frau beklagte sich einmal darüber, dass ihr Mann zwar auf den trockenen, selbst erzeugten Wein stehe, aber auch den ihren, mit dem milderen Geschmack, nicht verschmähe, wenn sein herber Johannisbeerwein meist zuvor zur Neige gegangen war. Ein wenig eitel war die kleine Frau mit den wachen, hellgrauen Augen schon. Denn allzu gern schwärmte sie von der Zeit, als sie, von der großen Stadt in das „Städtchen“ Lingen kommend, wegen ihrer modischen Kleidung die Aufmerksamkeit der hiesigen „Kleinbürger“ auf sich gezogen habe. Besonders ihr schicker Strohhut mit der breiten Krempe und der blauen Schleife hätte damals allgemeine Bewunderung erregt.
Frau Wieshard war eine propere Frau (ein häufig von ihr benutztes Wort), die auch von ihrer Umgebung Sauberkeit erwartete. Ohne vorher auf der Matte die Schuhe abgestrichen zu haben, durfte niemand das Haus betreten. Sonntags forderte sie spätesten zehn Uhr die „jungen Herren“ auf, aus den Betten zu steigen, bevor diese zu faulen begännen. Zur Belohnung fürs Aufstehen gab es anschließend in der Küche Kakao und frische Brötchen.
War unsere Ersatzmutter einmal besonders gut aufgelegt, kochte sie für uns den begehrten Vanillepudding. Überhaupt, es waren die kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen uns unsere Wirtsleute immer wieder überraschten, die den Aufenthalt bei ihnen so erfreulich machten. Ein Jahr lang ließ ich mich im Haus Wieshard verwöhnen und ich hätte diese Vorzüge gern noch länger genossen, wäre nicht ein verlockendes Angebot aus Düsseldorf gekommen, das mich zehn Jahre von Lingen wegführte. Nach meiner Rückkehr erfuhr ich, dass Frau Wieshard in der Zwischenzeit verstorben und ihr Mann nach Recklinghausen zurückgekehrt war.
Beim Ehepaar Wieshard teilten mein Bruder und ich uns 1949 ein möbliertes Zimmer.