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Damals war’s Als die Lok beim „Tooor“-Schrei tönte
ОглавлениеViele Bürger, nicht nur aus Lingen, haben schon einmal das Weltkindertheater–Fest in den Anlagen der Wilhelmshöhe besucht. Ebenso kann man davon ausgehen, dass fast jeder Bewohner dieser Stadt einem Fremden den Weg zum Theater an der Wilhelmshöhe bzw. dem daneben befindlichen Filmpalast Cine-World weisen könnte. Wer aber weiß, dass sich an diesen Örtlichkeiten dereinst ein Sportplatz befand, auf dessen Schlackeboden die Sportvereine und Schulklassen ihre Wettkämpfe austrugen und die Feldhandballer vom TuS Lingen (in der damals höchsten Klasse, der Oberliga Nord, hochkarätigen Handball spielten?
Davon dürften wahrscheinlich nur unsere älteren Mitbürger Kenntnis haben. Wo heute die breite, stark frequentierte Straße des Willy-Brandt-Rings verläuft, trennte damals eine langgezogene, grasbewachsene Böschung einen unbefestigten Fußweg von der Straße und dem Schienenstrang der Kleinbahn, die zu dieser Zeit noch in der Stadt verkehrte. Vom Kleinbahnhof kommend, beförderte sie Güter zur Papier- und Holzfabrik an der Meppener Straße. Den Sportplatz selbst grenzte zu dieser Zeit eine Betonwand längsseits ein. Die Tribüne befand sich gegenüber vor einem Hügel, den ein Maschendraht abschloss.
Doch zurück zum Handball.
Die verträumte kleine Beamten-Stadt Lingen war Ende der vierziger und fünfziger Jahre eine Handball-Hochburg, in welcher der TuS Lingen neben prominenten Gegnern wie THW Kiel, Polizeisportverein Hamburg, auch die Feldhandballer aus Bremen, Flensburg, Rheinhausen, Münster oder Osnabrück empfing. Auf allen Positionen gut besetzt, behauptete sich diese Kleinstadtelf in der Liga der Großstädter erfolgreich und war überwiegend auf den vorderen Plätzen der Tabelle zu finden. Einer wie ich, der 1949 in Lingen ansässig wurde und sich vorher nicht sonderlich für Handball interessierte, wurde augenblicklich von dieser schnellen Sportart gepackt und nicht mehr losgelassen.
Mit 300 bis 4000 Lingener Fans (mehr fasste der Platz nicht) zitterte ich - begeisterte ich mich - litt und jubelte ich für unseren TuS. Eine unbeschreibliche Stimmung kam auf, wenn die wieselflinken Außenstürmer Kurt und Günther Köster mit blitzschnellem Ballwechsel über das Spielfeld wirbelten und ihre Tore machten oder zum Abschluss ihren wurfgewaltigen Mittelstürmer Herbert Meyer anspielten. Der beherrschte neben harten Torwürfen einen damals einmaligen Trick, mit dem er seinen Abwehrspieler, kurz links oder rechts ausweichend, täuschte, um nach einer Halbdrehung, mit dem Rücken zum Tor stehend, mit voller Wucht einen Rückhandwurf abzuziehen, der jedem Torhüter Probleme bereitete. Man könnte diese Wurftechnik mit einem Fallrückzieher im Fußball vergleichen. Die Stimmung schwappte über, wenn nach einem Tor vom TuS das Pfeifsignal der Kleinbahn-Dampflok wie eine Siegesfanfare in den Jubel der Lingener einfiel. Der Lokomotivführer muss wohl ein wahrer Lokalpatriot gewesen sein, dass er am arbeitsfreien Sonntag seine Lok unter Dampf setzte und mit einem angehängten Güterwagon, auf dem sich begeisterte Handball-Freunde drängten, zum Sportplatz dampfte, um dort seinen Gefühlsüberschwang für den Verein bei jedem Tor über die Dampflok herauszulassen.
Das Interesse am Feldhandball ging bei den großen Handballnationen Ende der sechziger Jahre zusehends zurück. Wegen der schnelleren Spielweise, bedingt durch das kleinere Spielfeld, und der abwechslungsreichen Szenen wurde das Hallenhandballspiel dagegen immer beliebter. Ab 1974 gab es in Deutschland keine offiziellen Meisterschaften im Feldhandball mehr. Schade. Es war eine sportlich wunderschöne Zeit in Lingen, als die Lok beim „Tooor“-Schrei tönte.
Der Sportplatz an der Wilhelmshöhe, wo sich heute das Kino befindet. Fußball und Handball wurde dort gespielt. (Stadtarchiv Lingen)