Читать книгу Lingen in Geschichten - Werner Tonske - Страница 12
Neubeginn in Baracken
ОглавлениеDas Schicksal und die Zufälle gehen oft seltsame Wege. Wie sonst hätten Tante Mariechen aus Ostpreußen und der Österreicher Josef Raab je zueinander finden können. Ungewollt wurden beide in den Kriegsjahren zu kriegswichtigen Einsätzen nach Berlin beordert. Und irgendwann begegneten sie sich in der Millionenstadt. Der baumlange Sepp entflammte augenblicklich beim Anblick der quirligen Dame, die selbstbewusst vor ihm stöckelte und beim nachfolgenden Blickkontakt verwirrt in seinen wasserblauen Augen hängen blieb.
Das kleine Mariechen wiederum fühlte sich geschmeichelt von dem stattlichen Mannsbild, das sie so schwärmerisch anhimmelte und dann forsch um ein Rendezvous bat. Warum nicht? So kam, was kommen musste. Man traf sich, kam sich näher und verliebte sich. Der Weg zum Traualtar war danach nicht fern. Die beiden wurden sehr glücklich, in ihrer kleinen Wohnung an Berlins Peripherie.
Bis zu dem Tag, als alliierte Bomber die Häuser in ihrer Straße in Schutt und Asche legten. Und wie der Zufall es wollte: Auf Verfügung der Behörden landeten die Ausgebombten in Lingen, wo sie im evangelischen Pfarrhaus eine vorläufige Bleibe fanden. Der damalige Pfarrer Walter Kruse und seine Familie nahmen sich liebevoll der Obdachlosen an.
Während Sepp eine Arbeit in einem hiesigen Betrieb aufnahm, putzte und wusch Mariechen für ihre Wirtsleute. In den fünfziger Jahren dann die große Veränderung. Dort, wo sich heute die Gebrüder-Grimm-Schule und deren Schulhof befindet, errichtete die Stadt Lingen für Flüchtlinge und Ausgebombte eine Reihe von Baracken mit kleinen Grundstücksparzellen. Meine Tante und der Onkel gehörten zu den Glücklichen, denen unter bescheidenen Umständen die Möglichkeit für einen Neuanfang gegeben wurde.
Mit Feuereifer und Pioniergeist machten sich die Barackenbewohner an die Arbeit. Während unter Mariechens geschickten Händen bald ertragreiche Obst- und Gemüsebeete entstanden, neben denen eingezäunt auch einige Hühner gackerten, stießen der Sepp und seine Nachbarn Stollen in die Sandhügel hinter den Holzhäusern. Sicher abgestützt, ersetzten diese Unterstände mit ihrer gleichbleibenden Kühle die fehlenden Keller zur Vorratshaltung.
Unermüdlich werkelten die Bewohner an ihren Behausungen. Und bei jeder Errungenschaft mussten sich die Nachbarn mit ihnen freuen. Bei Kaffee und Kuchen am Nachmittag und einem zünftigen Skat am Abend, wurde eine gute Nachbarschaft gepflegt. Wir besuchten meine Verwandten oft und genossen mit ihnen den selbst gemachten Obstwein und Tantes unnachahmliche Sülze.
Mariechen gab gern. So vergaß sie beim Weggang nicht, unserem Jungen einige Eier in die Kapuze seines Anoraks zu legen. Mit der Auflage, sich auf dem Heimweg nicht zu bücken. Peter hielt sich an die Anweisung und lief stocksteif nach Hause.
Besonders heimelig wurde es in der Baracke an kalten Winterabenden. Das in den damals noch nahen Wäldern gesammelte Bruchholz verbreitete knisternd behagliche Wärme. Auf der Herdplatte summte der Wasserkessel für einen Grog oder Glühwein. Und auf dem Küchentisch lagen die Karten für das Spiel „Siebzehn und vier“. Ein unterhaltsamer Abend erwartete uns.
So vergingen die Tage und Jahre in der kleinen Barackenwelt. Indes entwickelte sich in der Stadt eine rege Bautätigkeit. Wälder mussten Siedlungen mit Einzel- und Doppelhäusern weichen und Feldwege breiten Zufahrtsstraßen. Geförderte Industrie und Gewerbe schafften Arbeitsplätze und nahmen dafür großflächig Agrarland in Anspruch. Für die ständig wachsende Bevölkerung mussten neue Schulen her.
So auch für die entstandene Siedlung Heukamps-Tannen. Das Ende der Barackensiedlung war gekommen. Sie wurde abgerissen und an ihrer Stelle 1963 die Wilhelm-Berning-Schule gebaut. Bereits sechs Jahre später war deren Kapazität erschöpft und eine Erweiterung der Schulräume unumgänglich geworden. Die nunmehrige Hauptschule Heukamps-Tannen erfuhr nach zusätzlichem Anbau eine erneute Umbenennung in Gebrüder-Grimm-Schule.
Tante Mariechen aus Ostpreußen und der Österreicher Josef Raab.