Читать книгу Dem Schwaben sein Dativ - Wolf-Henning Petershagen - Страница 17
|28|Wenn die Nachbarin grillt
ОглавлениеBeklagt sich im schwäbischen Sprachraum jemand darüber, dass die Nachbarin grillt, stellt sich die Frage, ob hier eine Geruchs- oder eine Lärmbelästigung vorliegt.
Wenn schwäbische Opernfreunde nach dem Besuch der Zauberflöte berichten, die Königin der Nacht habe gegrillt, denken Nichtschwaben vermutlich an einen lustigen Regieeinfall. In Wahrheit enthält diese Feststellung die vernichtendste Kritik, die man über eine sängerische Leistung äußern kann. Denn das Verbum grillen bezeichnet ein schrilles Schreien im oberen Kopftonbereich und in jedem Fall oberhalb der Schmerzgrenze.
Grillen ist eine nervtötende Lautäußerung. Es erzeugt Schweißausbrüche und Aggressionsschübe, und wenn man es so meisterhaft beherrscht wie Klein-Oskarchen in Günther Grass’ Blechtrommel, lässt es sogar Glas zerspringen.
Ein Teil der angeblich typisch deutschen Kinderfeindlichkeit rührt garantiert daher, dass heutzutage viele Eltern ihre Kinder ungestört grillen lassen. Die früher geläufige Anweisung „Grill net so!“ findet kaum mehr Verwendung. Bei manchen Menschen würde sie im Übrigen ohnehin nichts mehr nützen, weil sie infolge häufigen Grillens eine grillige Stimme haben.
Viele würden sie auch gar nicht mehr verstehen. Denn die Bedeutung „kreischen, einen hohen, ‚grellen‘ Ton hervorbringen“, die Fischers Schwäbisches Wörterbuch unter dem Stichwort grillen nennt, steht in praktisch keinem der heutigen Nachschlagewerke. Dort findet man nur die Erklärung „auf dem Grill braten“.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Eine mögliche Erklärung wäre, dass, wer sich auf einen heißen Grill setzt, vor Schmerz grillt. Aber die ist falsch und anachronistisch. Denn „Grillen“ im Sinne von |29|Rösten gibt es erst, seit der Grill den früheren Rost verdrängt hat. Der hieß lateinisch „craticulum“, und daraus hat sich der französische „gril“ entwickelt, der über den englischen Grill im 20. Jahrhundert ins Deutsche gelangt ist.
Grillen im Sinne von „schrill schreien“ tun die Deutschen jedoch schon seit Jahrhunderten. Das Wort ist eine Nebenform von grellen, worin grell steckt. Allerdings ist auch grellen weithin in Vergessenheit geraten, und so grillen heute nur noch die kleinen Schwaben und die Schwäbinnen. Denn diese Art, Laute zu produzieren, ist nach allgemeinem Verständnis den Frauen und Kindern vorbehalten, also auch den Buben, die den Stimmbruch noch vor sich haben.
Ähnlich nervtötend wie grillen ist gilfen. Wie grillen von grellen, kommt gilfen von gelfen, welches vermutlich von gellen abgeleitet ist. Doch während grillen ohne Worte auskommt, ist gilfen oft mit der Übermittlung einer Botschaft verbunden.
Das Verbum gilfen deckt somit auch die hochfrequente Schimpfoder Klagetonebene der Schwäbin ab, die sich über etwas echauffiert – beispielsweise über grillende Nachbarskinder.