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3. Der Gegenstand der Anfechtungsklage bei vorheriger Durchführung eines Widerspruchsverfahrens
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Wurde der Verwaltungsakt – wie dies im Regelfall zutrifft – vor Erhebung der Anfechtungsklage gem. §§ 68 ff zum Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens gemacht (vgl unten Rn 691 ff), so tritt nach der Entscheidung der Widerspruchsbehörde neben den ursprünglichen Verwaltungsakt der Widerspruchsbescheid, bei dem es sich gleichfalls um einen Verwaltungsakt handelt.
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Gegenstand der Anfechtungsklage ist dann normalerweise gem. § 79 Abs. 1 Nr 1 der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat[63]. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es prinzipiell auf den Inhalt und die Begründung des Widerspruchsbescheids ankommt, der insoweit den Ausgangsbescheid verändert hat. Deshalb kann eine Anfechtungsklage keinen Erfolg haben, wenn zwar der Ausgangsbescheid rechtswidrig war, dies aber durch den Widerspruchsbescheid behoben worden ist.
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Beispiel:
Wird ein Erschließungsbeitragsbescheid über EUR 5000 durch den Widerspruchsbescheid insoweit aufgehoben, als er EUR 3000 übersteigt, so kann sich die Anfechtungsklage nur noch gegen den verbleibenden Bescheid über EUR 3000 richten. Ist der Erschließungsbeitrag dagegen im Widerspruchsverfahren sogar noch auf EUR 6000 erhöht worden, so ist diese Beitragshöhe streitbefangen.
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Der Verwaltungsakt in seiner ursprünglichen Gestalt wird grundsätzlich dann – und nur dann – durch das Verwaltungsgericht überprüft, wenn der Widerspruchsbescheid (dh der Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheids) rechtswidrig ist und durch das Gericht aufgehoben wird. Die Aufhebung allein des Widerspruchsbescheids bewirkte in diesem Fall nämlich das Wiederaufleben des Verwaltungsakts der Ausgangsbehörde. Falls auch dieser sog. Ausgangsbescheid rechtswidrig ist, ist deshalb auch gegen die mit ihm verbundene Belastung gerichtlich vorzugehen, was auch meist geschieht (zum Ausnahmefall der isolierten Anfechtung nur des Widerspruchsbescheids gem. § 79 Abs. 2 S. 1 s. Rn 261 ff). In diesem Fall hat das Gericht bei Rechtswidrigkeit des Widerspruchsbescheids zugleich über die Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheids zu befinden und diesen bei Rechtswidrigkeit ebenfalls aufzuheben (näher Rn 877, dort auch zu den Konsequenzen, wenn nur der Widerspruchsbescheid rechtswidrig ist). Davon geht offenbar auch § 113 Abs. 1 S. 1 aus, der im Falle der Durchführung eines Vorverfahrens die Aufhebung des Verwaltungsakts und des Widerspruchsbescheids vorsieht.
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Wird durch einen Abhilfebescheid (s. zum Abhilfeverfahren Rn 720 f) oder durch einen Widerspruchsbescheid erstmals eine Beschwer begründet, so kann nach § 79 Abs. 1 Nr 2 ein solcher Bescheid alleiniger Gegenstand der Anfechtungsklage sein.
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Beispiel:
Auf Grund des Widerspruchs eines Nachbarn gegen eine von der Gemeinde erteilte Erlaubnis gem. § 2 GastG wird diese durch einen Widerspruchsbescheid aufgehoben. Hier kann der Gastwirt gem. § 79 Abs. 1 Nr 2 den Widerspruchsbescheid verwaltungsgerichtlich anfechten (s. auch Rn 306). Eine Anfechtungsklage der Gemeinde gegen den staatlichen Widerspruchsbescheid, der ihren Verwaltungsakt aufhebt, ist hingegen idR mangels Klagebefugnis unzulässig, da sie nicht in ihrer Rechtsstellung betroffen ist (s. Rn 242).
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§ 79 Abs. 2 S. 1 stellt klar, dass der Widerspruchsbescheid außerdem auch dann alleiniger Klagegegenstand sein kann, wenn und soweit er gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt eine zusätzliche selbstständige Beschwer enthält (zur in § 79 Abs. 2 S. 3 geregelten Frage des richtigen Klagegegners s. Rn 599). Das ist unproblematisch dann der Fall, wenn der Widerspruchsbescheid gegenüber dem Ausgangsbescheid eine Verböserung im Entscheidungstenor enthält[64].
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Beispiel:
Eine auf § 17 BImSchG gestützte, dem Lärmschutz dienende Anordnung wird durch die Widerspruchsbehörde inhaltlich noch verschärft.
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Von einer zusätzlichen selbstständigen Beschwer ist aber auch dann auszugehen, wenn der Widerspruchsbescheid den ursprünglichen Verwaltungsakt zwar nicht in seinem Entscheidungstenor verändert, aber einen zusätzlichen materiellrechtlichen Fehler enthält. Dies trifft zB dann zu, wenn die Widerspruchsbehörde ein ihr zustehendes Ermessen in fehlerhafter Weise ausübt (str.)[65] oder in der irrigen Annahme, der Widerspruchsführer habe die Widerspruchsfrist nicht eingehalten, keine Entscheidung in der Sache trifft, sondern den Widerspruch als unzulässig zurückweist. Eine entsprechende selbstständige Beschwer liegt ferner dann vor, wenn nach dem Erlass des Verwaltungsakts eine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist, welche den Verwaltungsakt rechtswidrig gemacht hat, die Widerspruchsbehörde dies aber nicht beachtet. Von einer zusätzlichen selbstständigen Beschwer ist nach allerdings sehr umstrittener Auffassung auch bei einer inhaltlich fehlerhaften Begründung des Widerspruchsbescheids auszugehen (s. zum Nachschieben von Gründen Rn 882 ff).
Unterlässt die Widerspruchsbehörde eine Entscheidung über den Widerspruch, so ist in entsprechender Anwendung des § 79 Abs. 2 eine Verpflichtungsklage auf Erlass eines Widerspruchsbescheids zulässig (str., s. dazu Rn 284, 741).
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Auch die Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften stellt nach § 79 Abs. 2 S. 2 eine zusätzliche Beschwer dar, sofern der Widerspruchsbescheid auf dieser Verletzung beruht. Wesentliche Verfahrensvorschriften sind solche, deren Einhaltung Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheids ist, etwa die Bestimmungen über die Zuständigkeit, die Anhörung Beteiligter (§ 71), die Akteneinsicht (§ 29 VwVfG), die formell ordnungsgemäße Begründung (§ 73 Abs. 3 S. 1) und die Durchführung eines Abhilfeverfahrens (§ 72, dazu Rn 720 f).
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Wie sich aus dem Telos des § 79 Abs. 2 S. 2 (Sicherung der Rechtsschutzfunktion des Widerspruchsverfahrens, Entlastung der Verwaltungsgerichte) und seiner Anlehnung an die Vorschriften des Revisionsrechts (vgl §§ 132 Abs. 2 Nr 3, 137 Abs. 1 sowie § 545 Abs. 1 ZPO[66]) ergibt, „beruht“ der Widerspruchsbescheid bereits dann auf einem Verfahrensverstoß, wenn die Möglichkeit, dass die Entscheidung ohne Verfahrensrechtsverletzung anders ausgefallen wäre, nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. Das kann nicht nur bei Ermessensentscheidungen, sondern auch bei rechtlich gebundenen Entscheidungen zutreffen[67]. Das legt bereits der Wortlaut des § 79 Abs. 2 S. 2 nahe, der auch rechtlich gebundene Verwaltungsakte erfasst. Der hier vertretenen Ansicht entspricht es zudem, dass selbst bei rechtlich gebundenen Verwaltungsakten ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf ordnungsgemäße Durchführung des Vorverfahrens besteht (Rn 284) und diese im Übrigen (insbesondere die Anhörung) jedenfalls insoweit entscheidungserheblich sein kann, als sie den Widerspruchsführer zur Rücknahme seines Widerspruchs hätte veranlassen können (s. auch BVerwG, NVwZ 1999, 1218). Soweit nicht offensichtlich ist, dass der Verfahrensfehler auf den Inhalt des Widerspruchsbescheids keinen Einfluss besitzt, hat das Verwaltungsgericht den verfahrensfehlerhaften Widerspruchsbescheid ohne nähere inhaltliche Überprüfung aufzuheben. Auf Grund des § 79 Abs. 2 S. 2 findet § 46 VwVfG auf den Widerspruchsbescheid keine Anwendung[68].
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Dementsprechend überzeugt auch nicht die vielfach vertretene Ansicht, bei gebundenen Entscheidungen fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung gem. § 79 Abs. 2 S. 2[69]. Die in § 79 Abs. 2 S. 2 getroffene gesetzgeberische Entscheidung kann nicht unter Rückgriff auf das allgemeine Institut des Rechtsschutzbedürfnisses korrigiert werden (s. auch Rn 643).
§ 5 Die Anfechtungsklage › III. Die Nichterledigung des angefochtenen Verwaltungsakts