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2. Oktober 1990 (2)
ОглавлениеIm Gorki-Theater bei der Abschiedsvorstellung der DDR. Klaus Pierwoß, der als Dramaturg an dieses Theater gegangen ist, hat mich eingeladen. Die Schauspieler und Schriftsteller sitzen im Licht, eine stille Feierlichkeit des Saales auf sie gerichtet wie auf ein stellvertretendes Wir. Volker Braun liest die »Kolonie«, eine Kafka-Paraphrase vom Frühjahr 1989, die noch immer prophetisch wirkt, obwohl sie schon mehrfach veröffentlicht ist, darunter auch im Argument. Ich registriere diesen Unterschied unserer Textproduktionen, dass diese Wirkung mir verwehrt ist. Ich muss meine schwitzende Unvollkommenheit beim möglichst klaren Sagen immer wieder neu anstrengen.
Volker, klassisch: »Ich bleibe hier, mein Land geht in den Westen …«. Ein anderer liest von Thomas Brasch: »Bleiben will ich, wo ich niemals war …« Biermann: »Das bisherige Stück ist aus. Nun habe ich endlich nicht mehr Recht.« Heißt: Recht gegen seinesgleichen. Und Heiner Müller: »Dies ist eine Zeit, in der man die Lehren vergraben muss, so tief, dass die Hunde nicht rankommen.«
Nicht mehr Recht haben gegen Mächtige, die sich auf dieselbe Tradition wie wir berufen. Jetzt predigen wir, ganz normal, den Fischen. Jetzt haben wir »Recht« gegen Mechanismen.
Nach der Pause muss ich aufs Diskussionspodium. Wenn vorher Feierlichkeit die literarische Nostalgie entgegennahm, so lässt der Saal nun den Hund raus nach einem Zwischenruf, warum keine Frauen auf dem Podium. Lasse mich von Pierwoß, der das zu verantworten hat, in den sicheren Untergang schicken. Analyseversuche gehen im Lärm unter. Ich habe kein Glück bei meinen öffentlichen Auftritten in der DDR. Das Gefühl, hier nichts zu suchen zu haben. Ursula Werner, die man schließlich zur Ausfüllung der Frauenrolle aufs Podium geholt hat: »Wenn uns jetzt die Gesellschaft der Warenproduktion überrollt …«, und Langhoff sieht die Zahnärzte und Gynäkologen mit ihren brillantenbehängten Damen das Theater besetzen. Als Lyrik die Nostalgie peinlich, als politische Meinung unerträglich. Neben mir Frank Castorf, der an der Volksbühne Aufsehen erregt hat mit seiner Inszenierung der Räuber. Für ihn ist die Bombe (werfen) das politische Ding an sich, von dem abgebracht zu werden die Kunst freisetzt.
Ich versuche, etwas über den Funktionswandel des Theaters nach der Freisetzung der Öffentlichkeit zu sagen. Vor allem versuche ich, die Zweideutigkeit der Situation in Worte zu fassen, die Überlagerung von Erleichterung und Bedrückung. Einerseits eine Befreiung; dem Zensurstaat nicht nachzuweinen. Andrerseits kommt die Emanzipation als Unterordnung. Aber nicht zu leugnen, dass der Bundesrepublik auch eine eigne Dignität zugewachsen ist. Unglück, wenn die Intellektuellen drinnen jammern, während das Volk draußen feiert. Wir sind getrennt von der Freude des Volkes. Das ist ein Unglück. Auf dem Podium nimmt keiner den Faden auf. Nur aus dem Publikum erhalte ich Schützenhilfe von Claus-Henning Bachmann, der über die Volksuni als Versuch, Intellektuelle und Volk zusammenzubringen, spricht und an seine Prägung vom »wissenschaftlichen Volksfest« erinnert.