Читать книгу Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug - Страница 54
6. Oktober 1990
ОглавлениеLigatschow nannte die Rechts-links-Unterscheidung im gegenwärtigen politischen Spektrum der SU »primitiv«. Hauptgegner der KPdSU seien »national-separatistische und revisionistische (?) Kräfte«, die einen »bourgeoisen Entwicklungsweg« bei Auflösung der Sowjetunion wollten. L. schreibt an seinen Erinnerungen.
*
Klaus Bochmann erzählt, sein Ältester (Martin, 14), der nie etwas für die FdJ übriggehabt hat, sei am Tag der Einheit im Blauhemd zur Schule gegangen. Seine Clique hatte das so verabredet.
Brief von Kathrin A., jener Pädagogikstudentin aus Leipzig, die in Philosophie (oder war es »Gesellschaftswissenschaft«?) eine Abschlussarbeit über meine Schriften machen sollte. Auch dieses Projekt einer nachholenden Rezeption ist nun abgebrochen.
Obwohl in Zeitnot, schreibe ich ihr postwendend: Dein Brief hat mich bewegt, mehr, als Du annehmen magst. Seine Trauer steckte mich an, denn die Erfahrungen, die wir mit der neuen Einheit auf unseren Tätigkeitsgebieten inzwischen machen konnten, stimmen nicht froh. Aus der Ex-DDR spüren wir einen enormen Opportunitätsdruck, der es noch schwerer macht, kritische Positionen aufrechtzuerhalten. Dazu bedrückt es, ohnmächtiger Zeuge zu sein, wie unsere Herrschenden generalstabsmäßig die Machtpositionen besetzen, als wäre da ein Krieg verloren worden, und wie sie außerhalb aller Demokratie einen Kreuzzug des Kapitalismus gegen alle ihm nicht unmittelbar subsumierten Eigentumsformen durchführen (ich denke vor allem an Genossenschaften). Vieles, was jetzt passiert, ist mir zuwider. Zumal, was Du aus der Hochschullandschaft schilderst. Fred Jameson, ein amerikanischer Marxist (ja, das gibt es), den ich heute traf, verglich die Art, wie der BRD-Staat mit der DDR umspringt, mit der Besetzung der Südstaaten durch den Norden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Offenbar hat man auch damals zielgerichtet jegliche politische Eigenständigkeit zerstört. – Und doch fiel mir beim dritten Überlegen auf, dass mir viel wohler sein könnte, wenn Du und Deine Generation nicht mit Nostalgie reagierten. Nachweinen können wir dem, was als bessere Möglichkeit für einen viel zu kurzen historischen Moment aufschien, nicht aber dem alten Regime. Und weil dieses in Wahrheit schon lange keine Zukunft mehr hatte und also auch jemandem wie Dir keine bieten konnte, ist Dein, wie Du schreibst, »eigenartiges Gefühl, mit 22 Jahren eine Vergangenheit zu haben«, eine Selbsttäuschung. Es ist vielleicht doch das Ende einer vormundschaftlichen Imagination, was Du mit derart gemischten Gefühlen nur halbklar registrierst. Nicht dass es keine Hoffnungen und Ziele gäbe, um die jetzt gebangt werden muss. In jenem Imaginären steckt auch unendlich Wertvolles und hoffentlich irgendwann einmal Zukunftsfähiges, das jetzt unterschiedslos niedergemacht werden soll. Um es zu retten, müssen wir es aber kritisieren und ins Illusionslose übersetzen. Momentan fürchte ich mich vor der Rückblickshaltung, die Dein Brief ausdrückt, weil sie erwarten lässt, dass Dich so die einzig wirkliche Zukunft gleichsam von hinten ereilt. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass diese Rückwärtsgewandtheit bei vielen nur ein kurzes Durchgangsstadium ist, um sich später desto rückhaltloser nach der neuen Decke zu strecken. – Es geht mir mit diesen Andeutungen nicht um Altersweisheiten, wie Du als jemand, die noch in der Straße der Jugend wohnt, annehmen magst: sondern um die Verteidigung einer Hoffnung, die ich in Dich und Deinesgleichen setze. Bitte schreibe, wie es Dir weiter ergeht, und schau mal wieder vorbei. Ich schicke Dir mit gleicher Post mein »Perestrojka-Journal«, von dem ich vermutlich erzählt habe. Bin neugierig zu erfahren, was Dir daran fremd ist und ob es etwas gibt, wo unsere Welten zusammenhängen.