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Der explosive Narzissmus

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Zwei Männer laufen einen halben Tag lang auf der Suche nach den begehrten Steinpilzen durch den Wald. Ein einziger, stattlicher Pilz ist die enttäuschende Beute. Am Abend, vor der Heimfahrt, legt der Finder den Pilz auf einen Stein und drischt mit seinem Wanderstock auf ihn ein.

Der einzige »ertappte« Pilz muss die Rache für die vielen ertragen, die sich nicht finden ließen. Das Beispiel verliert seine Harmlosigkeit, wenn wir den Terror gegen einen Touristen betrachten, der von einem Fanatiker niedergeschossen wird.

In der narzisstischen Wut verlieren wir unser kritisches Urteil, wir verschmelzen die Rollen von Richter und Henker, Anwalt und Ankläger. So wird etwas zerstört, das uns eigentlich helfen oder nützen könnte, uns aber in jedem Fall nicht beeinträchtigt, sondern nur eine ungreifbare Beeinträchtigung symbolisiert und stellvertretend für sie von einer Zerstörung getroffen wird, die fast immer auch selbstzerstörerische Qualitäten hat.

Die Steigerung dieser Aktion ist der Selbstmord. Der Selbstmörder ahnt, dass viel an der elenden Situation, in die er geraten ist, mit seiner eigenen Person zusammenhängt. So richtet er sich selbst. Aber die Grenze zwischen der gegen das eigene Selbst und der nach außen gerichteten Aggression war schon immer durchlässiger, als es eine Idealisierung des tugendhaften Selbstmörders erwarten ließe, der lieber sich als einem anderen ein Leid antut. Schon lange kennen wir den »erweiterten Selbstmord«. Ein Täter oder auch ein Paar, die Gruppe einer fanatisierten Sekte entscheiden sich, gemeinsam in den Tod zu gehen. In manchen Fällen sind alle Opfer einverstanden; in anderen, die uns sehr viel stärker berühren, tötet eine Mutter ihre Kinder und dann sich selbst.

Ein Selbstmörder hat den Austausch mit anderen Menschen aufgegeben. Er will seine Belastungen allein abschütteln, er setzt sich über alle anderen hinweg und weiß es besser. Dieses Stück ungezähmter Grandiosität zeichnet ihn immer aus. Aber wie es nach dem Leben anderer greift, darin gibt es ungeheure Unterschiede. Die Suizidforscher sind sich heute weitgehend einig darüber, dass Selbstmordhandlungen meist nicht durch die Absicht motiviert sind, aus dem Leben zu scheiden.4 Sie ergeben sich aus einem Gemisch von Wünschen, die sich nur in einer solchen Tat und in keiner anderen ausdrücken lassen. Wer sich tötet, will sehr oft nicht sterben, aber endlich Ruhe haben vor quälenden Kränkungen. Er will den Personen, die ihn vermeintlich im Stich lassen und verletzen (weil sie nicht als Selbstobjekte funktionieren, die sein narzisstisches Gleichgewicht erhalten) mit einem letzten Appell klarmachen, dass sie ihn endlich verstehen und ihr Verhalten ändern müssen. Er folgt aggressiven Impulsen, die sich sowohl gegen diese Personen wie auch gegen das eigene Ich richten, das nicht so viel wert ist, wie es ihm und anderen sein müsste.

Im Mikrokosmos der »normalen«, familiären Suizidalität ist erpresserische Geiselnahme ein alltägliches Problem. Der Suizidale kidnappt gewissermaßen sein eigenes Leben, setzt es gefangen und droht, die Geisel zu töten, wenn er nicht bekommt, auf was er um keinen Preis verzichten möchte. Ein derart eingesperrtes Leben ist für ihn eine große Last. Mit jeder Selbstmorddrohung wird das Selbstgefühl elender und der Zugzwang lastet schwerer, entweder nicht mehr drohen zu müssen, weil man befriedigt wurde, oder weil man ernst gemacht hat.

Wer Liebe erpresst, spürt oft genau, dass er mit jedem Erpressungsversuch an Anziehungskraft verliert – was bleibt ihm übrig, als die erpresserischen Manöver zu steigern? Der verlassene Liebhaber, die von ihren Eltern enttäuschte Tochter glauben oft gar nicht mehr, dass sie die ersehnte, von guten Gefühlen erfüllte Situation über Druck und Vorwurf noch finden werden. Im Gegensatz zum kriminellen Geiselnehmer, der mit dem Geldkoffer zufrieden ist, scheint Liebeserpressern eine erzwungene Zuwendung nicht die echte, gewünschte Währung. Sie fühlen sich, als hätte man sie mit einem Sack alter Zeitungen abgespeist, und beschließen, die Geisel – sich selbst – doch noch hinzurichten.

Diese Phänomene scheinen auch bei politisch oder religiös motivierten Selbstmordaktionen eine Rolle zu spielen. Für Täter, die sich so verkannt, erniedrigt, im Diesseits unglücklich fühlen, dass der Freitod ihnen ein guter Ausweg erscheint, hat die Realität zunehmend weniger Chancen, Anziehungskraft zu entwickeln. Je aussichtsloser ein politischer Kampf ist, desto anziehender wird der Selbstmord als Waffe. Er verspricht, den Kampf zu beenden, ohne sich eine Niederlage eingestehen zu müssen, er richtet eine letzte Aggression gegen den gehassten Feind und eine kaum weniger große gegen das eigene Ich, das sich Wert und Lebensrecht genommen hat, weil es den Sieg nicht erringen konnte und jetzt sich selbst, aber (im Selbstmordterror) auch andere für diese Niederlage straft.

Narzisstische Störungen

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