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Meine Beziehungen regle ich am liebsten allein …

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Menschen gehen davon aus, dass es sinnvoll und möglich ist, Beziehungen zu zweit zu regeln. Das klingt banal. Wie sonst soll man es tun? Die therapeutische Praxis zeigt jedoch, dass viele narzisstisch belastete Personen immens viel Zeit und Kraft daran wenden, sich allein mit einer Beziehung zu beschäftigen und sich in ihr zurechtzufinden. Im Aufbau fantastischer Gebäude und deren Abbruch durch Zweifel versuchen sie, ein Selbstobjekt zu konstruieren. Tage und Nächte werden mit Grübeleien verbracht. Soll ich einen Anruf tätigen, einen Brief oder eine E-Mail schicken? Soll ich warten, ob ich angerufen werde? Viele Stunden geistiger Anstrengung kreisen ergebnislos um die Frage, ob eine Äußerung oder eine Zurückhaltung positiv oder negativ gedeutet werden müssen.

Der Analytiker solcher Menschen ist überrascht, weil nach einer in sanften Gesprächen scheinbar friedlich verbrachten Stunde ein zorniger Klient kommt, der sich darüber beklagt, der Helfer habe ihn während der letzten Sitzung angeschrien, beleidigende Äußerungen getätigt und ihm den Mund verboten.

Es fruchtet wenig, solche Kranken für verrückt zu halten oder ihre Irrtümer mit Hilfe einer Tonbandaufzeichnung zu korrigieren. Sie zeigen uns etwas ganz Wichtiges: ihre Schwierigkeiten, sich darauf zu verlassen, dass sie in einer Beziehung Erlebtes offen äußern dürfen. Sie führen uns vor Augen, dass ihnen irgendeine unserer tatsächlichen oder vermeintlichen Aussagen (gerade das lässt sich durch die Zeitverzögerung und Bearbeitung des Gesagten oft nicht mehr klären) nahe gegangen ist.

Sie haben daraufhin beschlossen, die Botschaft nicht sogleich anzunehmen und zu erwidern, sondern sie ungeöffnet mit nach Hause zu nehmen und in ihrem privaten Labor mit hochsensiblen Instrumenten und gehörigem Zeitaufwand zu untersuchen. Dann konfrontieren sie uns mit dem Ergebnis ihrer Untersuchung – und sind überzeugt, wir hätten die Botschaft genau so verkündet, wie sie es sich inzwischen erschlossen haben. Wenn der Inhalt ihrer Rekonstruktion ein aggressiver ist, haben wir sie angeschrien.

Wer den Hintergrund solcher Störungen untersucht, findet in der Regel ein Paar (oder eine Gruppe) von Bezugspersonen, die sich nicht leben lassen konnten und sich mit Entwertungen traktierten. Wenn Eheleute zusammenbleiben, obwohl sie sich entwerten, kann das Kind in dieser Welt doppelter Botschaften nur durch schwerwiegende Einbußen an unmittelbarer Kontaktfähigkeit überleben.

Unter Eltern, die sich realistisch sehen, ist Austausch realistisch und spontan; wenn er nicht funktioniert, tauschen sie sich darüber aus, bis sie sich wieder einigen können. Wenn aber die Eltern einander mit der charakteristischen Mischung aus Idealisierung und Entwertung behandeln, die durch unverarbeitete Sehnsucht nach einem Selbstobjekt entstehen, lebt das Kind in einem Minenfeld. Es muss sich immer überlegen, ob es für eine Äußerung überschwänglich gelobt oder vernichtend kritisiert wird.

Der Sohn des entwerteten Vaters kann sich nicht mit seiner Männlichkeit identifizieren, er kann nicht herausfinden und ausdifferenzieren, wie er auf die Frauen wirkt, die er begehrt. Er muss entweder der Mann sein, von dem seine Mutter träumt, ganz anders als der reale Vater. Oder er muss ein Mann sein, der Frauen entwertet, wie es der Vater vorgelebt hat. Vor allem aber darf er nicht spontan sein. Er darf nichts ausprobieren. Er muss die richtige Frau finden, mit der alles klappt.

Die Tochter des entwerteten Vaters plagt sich mit der Angst, eine Frau zu werden, die von einem Mann abhängig ist, den sie nicht mehr verlassen kann. So trainiert sie in der Pubertät erst einmal Unabhängigkeit. Aus den Gefahren der Erotik heraus verlagert sie das Problem in die besser kontrollierbare Welt der Nahrungsaufnahme, entwickelt eine Anorexie, ist stolz darauf, dass sie nichts braucht und alle anderen abhängiger sind als sie.

Später, wenn sie ihrem Erleben nach genug bewiesen und genug gehungert hat oder ihr in einer Klinik die Anorexie abtrainiert wurde, probt sie ständig das Verlassen. Sie verliert nach wenigen Monaten in ihren Liebesbeziehungen das sexuelle Interesse.

Narzisstische Störungen

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