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Die Bedeutung der Lebensgeschichte
ОглавлениеWenn wir den narzisstisch Gestörten bewegen können, seine Geschichte zu erzählen, gewinnen wir ein Bild von dem Kind, das ahnungs- und hilflos in die Fallen einer traumatischen Familiensituation geraten ist. Wir ahnen, wie belastet ein Leben ist, in dem es nicht nur misslingt, sich mit einem als »gut genug« idealisierbaren Elternteil zu identifizieren, sondern umgekehrt die frühen Bezugspersonen alles Mögliche tun, um das Weltvertrauen des Kindes zu zerstören, und seinen Glauben an einen gelingenden Austausch zu vernichten.
Als 2002 der einstige US-Präsident Jimmy Carter den Friedensnobelpreis erhielt, gerieten auch Einzelheiten seiner Erziehungspraktiken in die Medien. Sie zeigen, wie eng Licht und Schatten nebeneinander liegen. Nur eines der vier Kinder Carters war bereit, in der Öffentlichkeit etwas über den Vater zu sagen. Bert Lance, einer der engsten Vertrauten des Ex-Präsidenten, beschreibt dessen Familienleben: »Jimmy Carter verstand es nicht zu belohnen, aber er wusste, wie man strafte. So zog er auch die Kinder auf, und seine Strafen stehen mir noch lebhaft in Erinnerung.«6
Nach Lance gab es im Hause Carter Prügel mit einer Rute oder einem Lineal, verabreicht nach einem detaillierten Strafkatalog: Fünf Schläge für das eine, sechs oder sieben für das andere kindliche Vergehen. Dabei ließ der Vater immer 24 Stunden zwischen dem Urteil und dem Vollzug der Strafe verstreichen, damit das Kind Zeit hatte, über seinen Ungehorsam nachzudenken.
Die menschliche Entwicklung ist so komplex, dass es nicht angeht, aus einem solchen Detail gravierende Folgen abzuleiten. Aber ich glaube, dass es den Umgang mit einem schwierigen Menschen sehr erleichtern würde, wenn wir wüssten, dass er als Kind solchen Ritualen geopfert wurde. Daher ist ja auch die Fähigkeit, Menschen dazu zu bewegen, ihre Geschichte zu erzählen, und sich dann diese Geschichte anzueignen, eine so wesentliche Hilfe in unserem Umgang miteinander, lange vor aller Psychoanalyse.
Die menschliche Bereitschaft, dem Mitmenschen freundlich zu begegnen, ist sehr mächtig. Sie erlaubt uns beispielsweise, auf Reisen in einem Strom von Informationen zu schwimmen, die uns helfen, unser Ziel zu finden. Nur ganz selten wird es uns geschehen, dass eine freundliche Frage abgewiesen wird; viel größer ist die Gefahr, dass die Bereitschaft, freundlich zu antworten, die Ortskunde des Befragten überfordert und er uns, um uns nicht ohne Antwort gehen zu lassen, mit einer falschen Auskunft versorgt.
Diese Bereitschaft beruht auf dem elementaren Wunsch, von anderen so behandelt zu werden, wie man selbst sie behandelt. »Was du (nicht) willst, das man dir tu …« Wenn wir einem gesunden Menschen die Hand drücken oder ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfen, wird er Händedruck und Schulterklopfen gerne mit uns tauschen, es sind schließlich Signale einer freundlichen Beziehung. Sobald wir freilich eine Person, die sich gerade eine Hand verletzt oder das Schlüsselbein gebrochen hat, mit solchen Gesten traktieren, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir Schmerzensschreie, Vorwürfe oder einen Hieb ernten.
Seelische Wunden, Narben und Amputationen sind unsichtbar, sie können in oberflächlichen Kontakten verleugnet werden, erscheinen aber plötzlich, wenn sich eine Beziehung vertieft und die Hoffnung auf ein Selbstobjekt geweckt wird.