Читать книгу Narzisstische Störungen - Wolfgang Schmidbauer - Страница 24

Der Schock einer seelischen Traumatisierung bereitet das Opfer nicht darauf vor, sich in andere Opfer einzufühlen. Wir würden so gerne glauben, dass die Opfer von ungerechter Gewalt, die sadistisch behandelten Kinder, die rassistisch Verfolgten aus ihrem Leid lernen und sich entscheiden, es anderen möglichst zu ersparen. Aber das ist sehr häufig gerade nicht der Fall: Das misshandelte Kind wird, wenn es überlebt und selbst Vater wird, die eigenen Kinder prügeln. Die rassistisch Verfolgten werden, kaum haben sie Gelegenheit dazu, andere zu Opfern machen.

Psychologen, welche nach dem Sturz der Militärdiktatur in Griechenland herauszufinden suchten, wie man viele bisher unbescholtene Soldaten dazu gebracht hatte, als Folterspezialisten in den Lagern für politische Gefangene zu arbeiten, fanden immer wieder, dass die jungen Männer zuerst selbst den Entwürdigungen und Quälereien ausgesetzt worden waren, die sie später den Gefangenen antaten. Sexuelle Erniedrigung und Beschämung gehört zur Grundausbildung in vielen Armeen. Wenn die Soldaten später Gefangene machen, tun sie diesen an, was sie selbst erlitten haben.

Im Augenblick des Schreckens greift das überlastete Ich nach jedem Stück Identifizierung, das sich ihm bietet, um ein Mindestmaß an innerer Ordnung zu erhalten. Und einer dieser Strohhalme ist häufig der Angreifer selbst: Da er so stark, so übermächtig ist, wäre es – auch wenn der Geist sich über das angetane Unrecht empört – doch im Grunde begehrenswert, ein wenig zu sein wie diese böse Macht.

Diese Identifizierung unterliegt keinem Willen, keiner bewussten Absicht, sie setzt tiefer an und wirkt nachhaltiger. Das heißt freilich nicht, dass sie hingenommen werden muss. An sich ist dieses Modell der Angstbewältigung uralt und durch zahlreiche Riten dokumentiert. Ihr Inhalt ist in der modernen Gesellschaft vor allem in den Halloween-Bräuchen erhalten. Wer sich Furcht erregend maskiert und damit andere erschreckt, hat selbst weniger Angst. Die zahllosen Motive von Vampiren, Zombies, Außerirdischen, Dämonen, Hexen enthalten Versuche, Ängste zu bannen, indem sich Menschen mit den Angstmachern identifizieren.