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Brigitta
ОглавлениеEin glänzendes literarisches Beispiel für diese Dynamik ist Adalbert Stifters Erzählung Brigitta. Stifter beschreibt, wie ein Mädchen geboren wird, dem die gewöhnliche Harmonie der Züge fehlt, die Menschen als Schönheit empfinden. Es wird deshalb von seiner Mutter nur aus Pflichtgefühl angenommen. Später lehnt Brigitta die nun aus Reue kommende Liebe der Mutter ab:
»Als sie [Brigitta] in ihren Spielen vorrückte und behender ward, verdrehte sie oft die großen wilden Augen, wie Knaben tun, die innerlich bereits dunkle Taten spielen. Auf die Schwestern schlug sie, wenn sie sich in ihre Spiele einmischen wollten – und wenn jetzt die Mutter in einer Anwandlung verspäteter Liebe und Barmherzigkeit das kleine Wesen in die Arme schloss und mit Tränen benetzte, so zeigte dasselbe keineswegs Freude, sondern weinte und wand sich aus den fassenden Händen. Die Mutter aber wurde dadurch noch mehr zugleich liebend und erbittert, weil sie nicht wusste, dass die kleinen Würzlein, als sie einst den warmen Boden der Mutterliebe suchten und nicht fanden, in den Fels des eigenen Herzens schlagen mussten und trotzen.«7
Brigitta wächst zu einer wilden, einsamen Jungfrau heran, die – gerade weil sie anders ist als alle anderen Frauen – die Aufmerksamkeit eines umschwärmten, besonders anziehenden Mannes auf sich lenkt. Dieser hat ebenfalls etwas Wildes, was aber seine Anziehungskraft nur steigert; er ist auf dem Lande aufgewachsen und viel gereist.
Brigitta erkennt, dass Stephan Murai von ihr gefesselt ist, sie kann aber nicht an seine und ihre Liebe glauben und durchweint eine ganze Nacht. Sie zieht sich von ihm zurück. Schließlich spricht er sie darauf an: Ob sie ihm abgeneigt sei? Stifter beschreibt nun das Bedürfnis einer Traumatisierten nach einem Selbstobjekt:
»Nicht abgeneigt, Murai«, antwortete sie, »o nein, nicht abgeneigt; aber ich habe auch eine Bitte an Sie: tun Sie es nicht, tun Sie es nicht, werben Sie nicht um mich, Sie würden es bereuen!«
»Warum denn, Brigitta, warum denn?«
»Weil ich«, antwortete sie leise, »keine andere Liebe fordern kann als die allerhöchste. Ich weiß, dass ich hässlich bin, darum würde ich eine höhere Liebe fordern als das schönste Mädchen dieser Erde. Ich weiß es nicht, wie hoch, aber mir ist, als sollte sie ohne Maß und Ende sein. Sehn Sie – da nun dies unmöglich ist, so werben Sie nicht um mich. Sie sind der einzige, der danach fragte, ob ich auch ein Herz habe, gegen Sie kann ich nicht falsch sein.«8
Die Geschichte Brigittas nimmt das zentrale Thema von Stifters großem Roman Der Nachsommer vorweg. Auch hier verlieren sich die Liebenden zunächst, weil sie an ihrer Liebe zweifeln und ihre idealen Auffassungen nicht in den Alltag retten können. Aber nach langer Trennung gelingt die Wiederannäherung. Auch Brigitta und Stephan müssen sich aus kleinem Anlass und großem Missverständnis trennen; jeder ist zu stolz, um einzulenken und die aufgerissene Kluft der Entwertungen zu überbrücken. Das gelingt erst viele Jahre später.