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Griseldis
ОглавлениеDer bereits erwähnte Pygmalion-Typus (vgl. S. 41) formt eine andere Person zum Selbstobjekt. Anders der Griseldis-Typus. Er (oder sie) formt sich selbst zu einer Bezugsperson, die alle eigenen Ansprüche und Wünsche opfert. Nach Boccaccio soll der um seine Unabhängigkeit fürchtende Weiberfeind Gualteri von Saluzzo gegen seinen Willen heiraten, weil seine Untertanen es fordern. Er nimmt die arme Bauerntochter Griseldis, weil sie bereit ist, sich allen seinen Wünschen zu unterwerfen. Dann prüft er ihren Gehorsam, indem er ihr nacheinander die beiden von ihr geborenen Kinder wegnimmt, sie nach 15-jähriger Ehe verstößt und zwingt, seine neue Frau beim Hochzeitsessen zu bedienen. Erst als Griseldis dies alles bereitwillig tut, darf sie zum Staunen des Hofes erfahren, dass die vermeintliche Braut ihre in der Ferne aufgezogene Tochter ist: Jetzt wird die Mutter wieder als Gräfin eingesetzt.
Der Fantasie-Typus meidet reale Beziehungen, weil er sich den Risiken nicht aussetzen kann, dass die idealisierten Selbstobjekte sich verändern, ihn verlassen, ihn kränken. Er verlegt häufig die Kränkung vor die Beziehung – die real möglichen Partner sind unerotisch, hässlich, zu alt, zu jung, es wäre ein extremer Abstieg, ein grausames Sich-Begnügen, sich auf eine Beziehung einzulassen. Alle diese Strategien der Selbstobjektstabilisierung können sich in einer günstigen Form entwickeln und schließlich in einen reifen Austausch übergehen. Von Freud wissen wir beispielsweise aus den »Brautbriefen«, dass er viel vom Pygmalion-Typus hatte. Er versuchte mit manchmal tyrannischer Energie, in das Leben seiner Verlobten einzugreifen und sie nach seinem Bild zu formen. Aber diese Stürme legten sich und die beiden fanden ihren Weg in einen alltagstauglichen Austausch. Umgekehrt wird der oft in Eheberatungen fallende Satz: »Ich dachte, meine Ehe sei gut, bis meine Frau mir sagte, wie sie sich fühlt«, von Männern gesprochen, deren Frau die Griseldis gespielt hat. Auch solche Ehen können über lange Zeit stabil bleiben.
Fantasien von idealen Partnern schließlich können durch Druck der Umstände oder Ängste vor dem Verlust wesentlicher Chancen (etwa eigene Kinder) so weit aufgegeben werden, dass neben ihnen eine reale Beziehung möglich wird, oft ohne dass der Traum ganz verschwindet. Von dem toskanischen Dichter Dante wissen wir, dass er Ehefrau und Kinder hatte. Seine ideale Liebe galt jedoch stets jener verstorbenen Beatrice, mit der er sich in seinem Epos vereint. Beatrice ist Dantes Geschöpf, sein Selbstobjekt, seine Führerin im Paradies.
Menschen, die lange Zeit mit imaginären Selbstobjekten ihre narzisstische Störung kompensiert haben, denken meist erst dann an eine Behandlung, wenn sich ihre Lebensperspektive verengt hat. Vorher sagen sich die Betroffenen, sie hätten eben den Richtigen noch nicht gefunden, es sei noch Zeit. Künstler hingegen, welche die Selbstobjekt-Beziehung in die Beziehung zu ihren Werken transformieren können, haben eine konstruktive, auf Austausch basierende Lösung entwickelt, ähnlich wie verliebte Paare, die durch Humor, Kreativität und Vernunft jeder für den anderen die primitive Idealisierung zugleich erhalten und zähmen. Sie sind schließlich von diesem Prozess, der die Verliebtheit in den Alltag hinein transformiert, so fasziniert, dass sie an dem Partner festhalten können, mit dem gemeinsam sie Verliebtheit und Abstand, Abhängigkeit und Autonomie bewältigt haben. In der Alltagssprache heißt es dann, aus dem verliebten Paar sei ein liebendes geworden.
Jeder anspruchsvolle, unsere Kreativität fordernde Beruf hat auch Selbstobjekt-Qualitäten. Er stabilisiert unser Selbstgefühl und wir reagieren mit Wut, wenn er entwertet oder uns genommen wird. Das gilt für Therapeuten nicht weniger als für Lehrer, Anwälte, Ärzte oder Priester. Daher ist das Sprichwort, dass »die Liebe heilt«, in der Therapie nicht falsch, obwohl es den professionellen Aspekt nicht erfasst. Es geht in einer gelingenden Psychotherapie manchmal um einen im Prinzip ähnlichen Prozess wie in einer gelingenden Liebesbeziehung. Wenn sie mit einer primitiven Idealisierung (und nicht mit einer Entwertung) beginnt, muss diese ebenso schonend wie kritisch umgewandelt werden, um einen realistischen Austausch einzuleiten und diesen dann zu entwickeln.