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2. Die narzisstische Dimension seelischer Verletzungen Der pharisäische und der kannibalische Narzissmus
ОглавлениеVerbreitet und für Arbeitsbeziehungen wie Liebesverhältnisse zerstörerisch sind Formen der narzisstischen Aufwertung der eigenen Person durch Entwertung anderer (Mobbing). Sie können pharisäisch oder kannibalisch sein. Im pharisäischen Narzissmus wird (nach dem biblischen Beispiel) jemand entwertet, von dem ich mich vorteilhaft abhebe, auf dessen Anerkennung ich aber zu meiner Selbststabilisierung nicht angewiesen bin.
Die überall verbreiteten rassistischen und nationalistischen Vorurteile, die Entwertung von Minderheiten und Fremden haben diese Qualität. Die Fortschritte des Rechtsstaates und der Zivilisierung haben es immer schwer gehabt, sich gegen diese Mechanismen zu behaupten. Es bedarf dauernder Aufmerksamkeit, um zu verhindern, dass schlummernde Ressentiments geweckt und die Glut unter der Ascheschicht zu Gewalt und Bürgerkrieg angefacht wird.
Der Übergang zu kannibalischen Prozessen ist fließend. Das Vollbild des kannibalischen Narzissmus erfordert, dass jemand entwertet wird, von dessen Anerkennung sich die Entwerter (zu) abhängig fühlen. Mitarbeiter entwerten ihren Chef, Liebende ihre Liebespartner, Eltern ihre Kinder und umgekehrt.
Eine junge Frau klagt bei ihrer Therapeutin immer wieder über ihren Partner. Sie sei in ihrer Ehe extrem unglücklich, sexuell geschehe kaum mehr etwas, nur die beiden kleinen Kinder halten sie noch bei diesem Ungeheuer. Die Therapeutin sieht als zentrales Problem der Klientin deren Aggressionshemmung. Sie könne sich einfach nicht durchsetzen, mache bei allem mit, was der Ehemann verlange, schlafe ohne Lust mit ihm und beklage sich nachher darüber.
Eine typische Szene: Die Klientin leidet an heftigen Rückenschmerzen. Sie möchte, dass ihr Mann am Abend die Kinder zu Bett bringt; dieser wehrt ab, er habe schließlich den ganzen Tag gearbeitet, das sei ihre Sache. Trotz ihrer Rückenschmerzen bringt sie also die Kinder ins Bett. Die Therapeutin rät nun, dass die Klientin sich doch in solchen Fällen durchsetzen und ihren Mann energischer auffordern solle, seinen Teil an der Versorgung der Kinder zu leisten. Darauf beginnt die Klientin zu weinen und sagt anklagend zur Therapeutin: »Sie sagen genau dasselbe wie mein Mann, es ist alles nur meine Schuld!«
Die Therapeutin fühlt sich hilflos und sucht Supervision. Die Antwort der Klientin kommt ihr regelrecht verrückt vor, ob sie eine Geisteskrankheit übersehen hat? Sie ist doch so solidarisch mit der Klientin! Sie erinnert sich an ihre eigenen Gefühle gegen ihren Ex-Ehemann, von dem sie sich scheiden ließ. Diese Männer ändern sich nie! Der Ehemann ihrer Klientin ist in Therapie. Sie verspürt den Wunsch, den Therapeuten anzurufen und ihm zu sagen, er solle sich mehr anstrengen.
Die Therapeutin ärgert sich über die Passivität der Klientin und ist zugleich mit ihr identifiziert. So sucht sie die Schuld an der Misere in der Unverantwortlichkeit des Ehemannes. Sie vermutet eine bisher unbeeinflussbare Aggressionshemmung und möchte die Klientin dazu bringen, sich gegen ihn durchzusetzen. Daher ist sie verblüfft, als sie feststellen muss, dass ihre gut gemeinten Versuche diese dazu bringen, sie mit dem Ehemann gleichzusetzen.
Die Situation wird verständlich, wenn wir die Dynamik des kannibalischen Narzissmus einbeziehen. Die Klientin braucht das grausame Verhaltens ihres Mannes, um sich in ihren eigenen Gefühlen zu trösten, als Frau unzulänglich zu sein: Er ist noch liebloser, unverantwortlicher, unreifer als sie selbst. Daher wird die Therapeutin, die von der Klientin fordert, ihren Mann doch zu einem verantwortungsvolleren Verhalten zu erziehen oder sich von ihm zu trennen, als ebenso verständnislos und grausam erlebt wie dieser. Sie, die sich aufspielt und so tut, als ob sie ein Selbstgefühl gesichert hätte, um das die Klientin erfolglos ringt, soll ruhig die Entwertung einstecken, dass sie auch nicht besser ist als der Ehemann, der sagt: »Ich mache meine Arbeit, du aber jammerst und versaust mir den verdienten Feierabend!«
Im Stadium des kannibalischen Narzissmus wirken Partner oft so, als ob sie keine Beratung oder Therapie, sondern einen rächenden Gott brauchten, der den Menschen aus der Welt schafft, an den sie in ihrer Entwertung gebunden sind.