Читать книгу Narzisstische Störungen - Wolfgang Schmidbauer - Страница 15
Die Grandiosität
ОглавлениеDie Größenfantasie wird von den meisten Narzissmusforschern als Naturphänomen hingenommen, das zu den Anfängen der menschlichen Entwicklung gehört. Der Säugling imaginiert sich als Herrscher einer undifferenzierten Mutter-Kind-Einheit. Diese Erklärung versäumt es jedoch, die Unterschiede zu erfassen, die sich später in den Größenfantasien ausbilden. Sie vor allem prägen die berufliche Entwicklung.
Der wesentliche Prozess, in dem die Größenfantasien ausdifferenziert werden, ist die Identifizierung. Sie ist ein hoch wirksamer, wo immer möglich eingesetzter Lernprozess, der freilich weniger erforscht ist als seine elementaren Vorläufer oder Begleiterscheinungen wie die bedingten Reflexe oder die instrumentellen Reiz-Reaktions-Verknüpfungen. Das liegt daran, dass die Identifizierung weniger kontrollierbar ist und von ganzheitlichen, emotionalen Reaktionen getragen wird.
Das Primatenkind ist von vertrauten Geschöpfen umgeben und beginnt, sich auf dieser Grundlage neuen Situationen zu nähern. Immer dann, wenn eine fremde Situation seinen Reizschutz überfordert, sucht es die Nähe der vertrauten Wesen. Diese Entwicklung verläuft sozusagen in konzentrischen Ringen, die nacheinander überschritten werden. Zunächst dient die Mutter als Schutz vor anderen Erwachsenen. Später vertritt angesichts des völlig Fremden jeder Erwachsene die Mutter.
Das Kind beobachtet Artgenossen. Jede dieser Beobachtungen wird in der Gestalt einer latenten Identifizierung gespeichert. Angesichts neuartiger Situationen werden diese Modelle im Erleben durchprobiert, um jenes herauszufinden, das am besten passt. Darüber hinaus werden diese Identifizierungen in Spiel und Fantasie aktiviert, kombiniert, zu Rollen verschmolzen. Wir nennen diese innere Tätigkeit »Tagträume«. Sie sind ebenso Ausdruck wie Grundlage der narzisstischen Grandiosität.
Alle Menschen sind schwach, dem Schlaf, der Krankheit, dem Tod unterworfen; daher sehnen sich auch alle nach einer unerschütterlichen Stärke. Diese in Dämonen oder Götter zu verlagern, ist relativ weise. Denn wenn wir das nicht tun, geraten wir in große Versuchung, fehlbare Menschen mit dieser unerschütterlichen Stärke auszurüsten. Diese Sehnsucht muss viel grausamer enttäuscht werden als die Verlagerung in eine metaphysische Welt, bei der lediglich die Unzuverlässigkeit ihrer Anbindung an unsere Realität jene Probleme schafft, auf die Schamanen, Zauberer, Priester und Theologen mit ihren jeweils eigenen Mythenbildungen und Spitzfindigkeiten reagieren.
Die grundsätzlich illusionäre Qualität unseres Selbstgefühls ist eine Botschaft, die wir nicht gerne zur Kenntnis nehmen. Aber es gibt zu viele Beobachtungen, die sie belegen, zu viele Hinweise auf Verführbarkeit, Kränkbarkeit und jene pharisäischen oder kannibalischen Prozesse, die langfristige Gefährdungen erzeugen, um kurzfristige Einbußen hinauszuschieben.