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Krisen des Selbstgefühls
ОглавлениеFür den kindlichen Organismus geht es anfänglich sehr schnell um Leben und Tod. Das Ich ist noch wenig entwickelt; es kann sehr viele Reize nicht einordnen. Die herzzerreißende Not, welche wir aus dem Schreien des Säuglings heraushören, entspricht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden inneren Bedrohung. Das kleine Kind kann die eigenen Affekte, die eigenen Reaktionen von Wut, Angst, Trauer, Schmerz nicht einordnen und nicht bewältigen, wenn es nicht von jemandem begleitet und getröstet wird.
Vielleicht haben die Menschen unter primitiveren gesellschaftlichen Umständen die Verinnerlichung eines Regulationssystems für diese Affekte nicht so sehr gebraucht. Wer als Jäger und Sammlerin in der Steppe lebt und jeden Tag nach Essen, Wasser und Schutz vor Raubtieren sucht, ist weniger als der Städter darauf angewiesen, emotionale Reize zu verarbeiten und zwischen unterschiedlichen Erlebnis- wie Reaktionsformen zu wählen. Er muss und darf mit einer körperlichen Aktion reagieren, durch die seine affektiven Spannungen abgebaut werden.
Ich glaube nicht, dass die narzisstischen Störungen einst adaptiv waren, weil sie dem Überleben in einer Welt des Faustrechts dienten. Aber ich bin überzeugt, dass sie in einer Gesellschaft ohne Gewaltenteilung und Bürokratie die von ihnen Betroffenen längst nicht so beeinträchtigt haben wie heute. Es war viel »normaler«, in Wut zu geraten und zuzuschlagen oder sexuelle Impulse in die Tat umzusetzen. Wer heute einen Streit mit dem Ehepartner, eine Kränkung beim Warten in der Supermarktschlange oder einen abweisenden Gesichtsausdruck des bewunderten Psychotherapeuten als eine Frage von Leben und Tod auffasst und inszeniert, gilt als gestört.
Freud sagt über die Symptombildung bei der Hysterie, dass sich hier älteres Menschtum darstelle.2 Ergänzend lässt sich über Menschen mit Frühstörungen oder Borderline-Persönlichkeit sagen, dass sie in ihrem Leben sehr oft daran scheitern, dass ihre psychische Organisation einer modernen Gesellschaft mit ihren Brechungen des unmittelbaren emotionalen Auslebens durch Vernunft, Disziplin, Höflichkeit, Ironie und Humor nicht standhalten kann. Manchmal helfen ihnen Drogen zu einer funktionierenden Fassade. Doch ist dieser Gewinn an Stabilität teuer erkauft.
Seelische Störungen sind ein notwendiger Begleiter der menschlichen, d.h. der kulturellen Evolution. Die Kulturfortschritte sorgen dafür, dass es immer mehr und immer wirkungsvollere Systeme gibt, die ein Überleben von Säuglingen auch dann sicherstellen, wenn der primäre Schutz durch die Mutter versagt.
Die seelische Stabilität des Erwachsenen hängt damit zusammen, dass er seine Antriebe, die Umwelt neugierig zu erforschen und sie seinen Bedürfnissen entsprechend zu verändern, dank einem ausreichenden Reizschutz durch ein einfühlendes Objekt entwickeln konnte. Sie erfordert weiterhin, dass er eine Fantasie von Austausch verinnerlicht hat, durch den der Reizschutz eine soziale Qualität gewinnt. Der Erwachsene ist von einem Netz von Freunden, Bekannten, Kollegen umgeben, die es ihm ermöglichen, in Krisen seines Selbstgefühls auf Hilfe zu vertrauen, weil auch andere bei ihm in ihren Krisen verlässliche Hilfe finden.
Die Lösung der als Ödipuskomplex beschriebenen Situation findet nicht allein durch Identifizierung mit einem Elternteil statt, sondern durch Verinnerlichung einer Situation in einer Gruppe aus mindestens zwei Personen (den Eltern der Kleinfamilie), die sich konstruktiv austauschen. In der gelingenden Entwicklung fördert der Reizschutz durch den Austausch die Produktion von Triebwünschen und Neugieraktivität; diese wiederum fördern den Austausch mit anderen. Wer schon viele Freunde und ein gutes Beziehungsnetz hat, erwirbt leichter weitere Freunde als der Einsame, der beim ersten Kontakt seine gesamten Bedürfnisse an ein dann entsprechend überschätztes Objekt richtet und im Zusammenbruch seiner Erwartungen in eine Krise gerät, welche seine Rückzugsneigungen und regressiven Wünsche verstärkt.