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Zuerst einmal nicht schaden!

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Die klassische »große Psychotherapie« als einmalige, lebensbeeinflussende Erfahrung scheint zu veralten. Wer länger als Psychotherapeut arbeitet, entdeckt bald, wie viele Menschen nach einer solchen Behandlung später erneut Hilfe benötigen. Mir scheint es wichtig, eine Psychotherapiekultur zu entwickeln, die auf diese Gegebenheiten eingeht. Das bedeutet, das Modell der »fertigen« Therapie, des »durchanalysierten« oder »geheilten« Neurotikers aufzugeben und sich auf die rapide wachsende Zahl der Menschen einzustellen, die immer wieder von einer therapeutischen Arbeit profitieren bzw. durch sie vor Schlimmerem bewahrt bleiben. Ein Modell der endgültigen Heilung in der Psychotherapie erscheint mir heute nicht nur unrealistisch, sondern auch gefährlich. Die Ansprüche des Kranken können sich dann mit denen eines Therapeuten zu einem Knoten verbinden. In der Behandlung droht die Gefahr, dass eine narzisstische Störung nicht gemildert wird, sondern sich steigert. Der Kranke hat das Empfinden, nicht groß, nicht erfolgreich genug zu sein; er sucht Hilfe, um endlich zu gewinnen, was ihm zusteht und woran ihn Ängste hindern. Hier Heilung anzukündigen, ohne die mitgebrachten Größenvorstellungen zu kritisieren, ist sehr gefährlich und kann die Probleme des Kranken verstärken.

In Supervisionen habe ich oft den Eindruck gewonnen, dass der Gedanke an den »erfolgreichen Abschluss« der Therapie die Wahrnehmung vieler Analytiker blockiert und Klienten einen schlechten Dienst erweist. Manchmal will es der »geheilte« Kranke seinem Therapeuten nicht zumuten, ihm ungeheilt wieder unter die Augen zu treten. So wird der Therapeut in seinem Glauben an Heilung bestärkt und der nächste Therapeut in der Illusion gehalten, er werde durch eine neue Technik leisten, was sein Vorgänger nicht geleistet hat. Die zu Grunde liegende, narzisstische Störung bleibt unbearbeitet.

Der naive Betrachter stellt sich eine professionelle Entwicklung in der Regel so vor, dass jemand in der Ausübung seines Berufs immer Größeres leistet, schwierigere Probleme löst und seine Umwelt durch seine Erfolge beeindruckt. Ich will hier eine Gegenthese entwickeln, die mir nicht nur in Bezug auf die Angehörigen der helfenden Berufe – Sozialpädagogen, Psychotherapeuten und Ärzte -angebracht erscheint, sondern auch angesichts eines durchdachten und humanen Umgangs mit der Welt schlechthin. Sie beruht auf einem einfachen und schon in der klassischen Medizin bekannten Prinzip, das in unserer hoch technisierten und fortschrittsgläubigen Welt freilich ebenso glatt vergessen wird, wie es von der Zunge des Lateinkundigen rollt: Primum nil nocere. Das erste Gesetz der Professionalität ist es, keinen Schaden anzurichten.

Wer sich als Psychotherapeut (ebenso wie als Supervisor oder Coach) ausdauernd und aufmerksam bemüht, den von ihm angerichteten Schaden zu erkennen und zu vermindern, wird nicht lediglich einen banalen und eigentlich selbstverständlichen Teil seiner professionellen Aufgabe erfüllen. Er entwickelt vielmehr den Kern seiner Kompetenz, wenn er immer genauer herausfindet, was er durch voreilige oder übereifrige Bemühungen, Ehrgeiz, Geltungssucht, Erfolgsansprüche anrichtet, wo er die Zeit seiner Klienten (und die eigene Kraft) verschwendet, weil er sein Selbstgefühl auf ihre Kosten sichern möchte und sich sinnlos anstrengt, um seine Kompetenz zu beweisen.

Wer sich kritisch mit den inneren Deformationen und neurotischen Hintergründen seines eigenen Berufsstandes auseinander setzt, wird manchmal als Nestbeschmutzer bekämpft. Mich stört dieser Vorwurf heute nicht mehr. Ich bin überzeugt, dass eine wirksame und ökonomische Behandlung der narzisstischen Störungen nur möglich ist, wenn die Therapeuten bereit sind, sich selbst zu kritisieren und sich vor primitiven Idealisierungen des eigenen Standes, der eigenen Ausbildung oder therapeutischen »Schule« zu hüten. Denn diese machen den Helfer verwundbar für den primitiven Narzissmus seiner Klienten. Sie verführen ihn, auf Schmeichelei zu reagieren. Er will perfekt sein, kann weder Kritik annehmen noch die Entwertungen seiner Person als Zeichen einer schwer wiegenden seelischen Problematik unglücklicher Personen untersuchen und diesen dabei helfen, sich darüber klar zu werden, was sie in hilfloser Rachsucht anrichten.

Die Einsicht, wie wichtig der Verzicht auf falschen Eifer und Rivalität mit anderen Helfern ist, wird durch einen zweiten Gedanken erleichtert: Der Gegensatz zwischen einer »nur« stützenden und einer »prozesshaften«, »verändernden«, »entwicklungsfördernden« Intervention ist ein Teil des Problems, kein Weg zu seiner Lösung. Es ist kein Zufall, dass eine zentrale Metapher, aus der er sich speist – Freuds Chirurgen-Gleichnis – mit ihrem mechanischen Bild die diffizile Situation einer psychologischen Behandlung nicht klärt, sondern parteiisch verdunkelt. In Wahrheit ist jede wirksame aufdeckende Psychotherapie auch eine stützende Behandlung, sie kann gar nichts anderes sein.

In der Praxis hat diese falsche Unterscheidung bereits zu einschneidenden Folgen geführt: Sehr viele seelisch schwer belastete Menschen würden keine Hilfe erhalten, wenn nicht die praktizierenden Psychotherapeuten die Regeln unterlaufen würden, nach denen sie von den Krankenkassen bzw. kassenärztlichen Vereinigungen kontrolliert werden.

Bei vielen krankenversicherten Personen, die nicht genügend Geld haben, um Psychotherapie aus der eigenen Tasche zu finanzieren, muss eine Behandlung durch gewisse Kunstgriffe bei der Darstellung von Lebensgeschichte und Psychodynamik als Veränderungs- und Heilungsprozess ausgegeben werden, während es in Wahrheit darum geht, Schlimmeres zu verhüten und ein Abgleiten in einen destruktiven Ausgang aufzuhalten.

Oft erfahren wir durch eine Psychotherapie eher, wie hartnäckig Ängste, Depressionen und vor allem Beziehungsschwierigkeiten sind, als dass wir uns von ihnen gänzlich befreien könnten. Viele unserer Klienten empfinden sich auch nach einigen Jahren einer Behandlung nicht als geheilt. Aber sie können sich, wenn die Psychotherapie kunstgerecht durchgeführt wurde, besser in ihrem Leben orientieren. Sie sind die ganze Zeit arbeitsfähig geblieben und haben nur selten mit somatischen Inszenierungen Krankenhausaufenthalte mit Operationen oder aufwändige Kuren beansprucht.

Manchmal wird eine solche Behandlung von den Krankenkassen finanziert, die nicht genau wissen dürfen, was sie da tun, denn sie sind gesetzlich beauftragt, von einer Heilungsveranstaltung auszugehen. In anderen Fällen zahlen die Klienten, weil sie wissen, was sie an einer Therapie haben, die nicht enden muss; häufig kommen ihnen Therapeuten entgegen, die ihren Auftrag auch so verstehen, für solche Begleitungen verfügbar zu sein, und dann auf einen Teil ihres Honorars verzichten. Es ist eine informelle, selten publizierte, kaum dokumentierbare, auf Therapiekongressen und in Ausbildungsinstituten eher geheim gehaltene Praxis.

Die Krankenkassen würden eine solche Behandlung nicht bezahlen, wenn der Bedarf nach ihr offen vorgetragen würde. Es gehört nicht zu ihrem Auftrag, prophylaktisch tätig zu sein, vorbeugende Maßnahmen gegen Klinikaufenthalte und Arbeitsunfähigkeit sind dagegen eine zentrale Aufgabe der bedarfsorientierten Psychotherapie. Obschon es viele Hinweise gibt, dass eine psychotherapeutische Stabilisierung narzisstischer Störungen eine der ökonomischsten Interventionen im Gesundheitssystem ist, haben sich die bürokratischen Prozesse nicht in dieser Richtung verändert.

Viele Therapeuten halten an dem Konzept der einmaligen, gründlichen Therapie fest. Wenn sie es schon nicht selbst an ihren Erfolgen beweisen können, dann nutzen sie es wenigstens, um sich über jene zu erheben, die nicht so gründlich arbeiten wie sie. Sie werden ironisch lächeln oder sich abwenden, wenn sie hören, dass ein Klient zehn oder zwanzig Jahre behandelt wurde und auf Befragen behauptet, das eigentliche Therapieziel, ein normales Leben in einer glücklichen Familie zu führen, keineswegs erreicht zu haben. Es kränkt den Helfer-Narzissmus, sich damit zu bescheiden, Ärgeres verhindert zu haben.

Schadensbegrenzung und Schadensvorbeugung in der Psychotherapie gilt nicht als Aufgabe unseres gesetzlichen Versicherungssystems. Stützende Behandlung sollte nach dem Kleingedruckten der Leistungsverträge entweder mit Medikamenten oder im Rahmen der Fünfminutenmedizin einer normalen ärztlichen Beratung stattfinden.

Es erfordert viel Aufmerksamkeit, Geschick und Engagement, in ihrem Selbstgefühl schwer gestörten Menschen durch eine psychotherapeutische Behandlung nicht zu schaden. Je größer die illusionären Erwartungen sind, die sich an eine Psychotherapie richten, desto stärker wird diese Gefahr. Wer hier sowohl Schaden vermeiden wie die hochbelastete Persönlichkeit stabilisieren kann, darf stolz darauf sein, dass ihm das gelungen ist. Und es schadet den Beteiligten, wenn sie sich selbstquälerisch oder vorwurfsvoll damit plagen, dass Heilungserwartungen unerfüllt bleiben mussten.

Analytische Psychotherapeuten belegen in ihren Berichten an die Kassengutachter, dass ihre Klienten an einer akut aufgetretenen, neurotischen Störung erkrankt sind, die eine günstige Heilungsprognose hat. Dann werden ihnen mehr Sitzungen bewilligt als bei Menschen, die unter chronischen seelischen Verletzungen und Behinderungen leiden. Niemand darf davon reden, dass ihr Leben erträglicher wird, wenn es einen professionellen Helfer gibt, der das labile Selbstgefühl festigt, die periodischen Wutanfälle neutralisiert, den Gefahren der Selbstzerstörung durch vorschnelles Hinwerfen von Freundschaften, Eigentum, Arbeitsplatz oder durch riskante Selbstbehandlungsversuche mit Drogen begegnet, so lange nicht ein Behandlungsplan und eine Prognose erstellt werden, die beide einem Heilungskonzept verpflichtet sind.

In einigen Fällen mag es sein, dass die seelisch Kranken, die einer solchen Begleitung bedürfen, nach einigen Jahren soviel Stabilität gewinnen, dass sie über kürzere oder längere Zeit ohne den Therapeuten leben und arbeiten können. In anderen Fällen gelingt das nicht. Um zu verhindern, dass sie arbeitsunfähig werden oder eine stationäre Behandlung benötigen, brauchen diese Klienten eine stabile, möglichst langjährige Beziehung zu einem vertrauten Therapeuten. Er soll in der Lage sein, sich schnell einen Überblick über die aktuelle narzisstische Krise zu verschaffen, und in einigen Sitzungen das angegriffene, vom Kollaps bedrohte Selbstgefühl wieder festigen.

Es liegt nahe, sich zu fragen, warum die Standes Vertreter der Therapeuten, die doch in den beratenden Kommissionen der Krankenkassenverbände und der Kassenärzte sitzen und die Richtlinien verantworten, hier nichts unternehmen. Ich erkläre mir das durch die wachsende Konkurrenz zwischen den Therapieschulen. Um sich durchzusetzen, hat jede von ihnen mehr versprochen, als sich eigentlich halten lässt.

Pathetisch gesprochen: Mir scheint, dass die Psychotherapie hier ein Stück ihrer Seele verkauft hat. Wenn es nur noch darum geht, möglichst schnell und effektiv Menschen wieder aus der Behandlung zu entlassen, dann gehen sehr viele Qualitäten verloren, welche den ursprünglichen Sinn der Therapie ausgemacht haben. Es ist die geduldige, langfristige, korrigierende Begleitung, die ihrem eigenen Rhythmus folgt und nicht von außen getaktet wird. Es steckt eine Entwertung von Wachstum, von Pflege, von Kultur darin, verbunden mit der Überschätzung einzelner Interventionen und formalisierter Behandlungsschritte. Qualitätsmanagement durch dokumentierbare Maßnahmen angesichts dokumentierter Diagnosen? Daraus wird oft genug nur ein klägliches Haschen nach Quantitäten und Messdaten, welche die zentralen Qualitäten der psychotherapeutischen Behandlung außer Acht lassen. Von einem wirklichen Qualitätsmanagement in der Psychotherapie sind wir weit entfernt.

Narzisstische Störungen

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