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Gestützte Grandiosität
ОглавлениеWährend ein auch in der Psychologie keineswegs verlassenes moralisierendes Menschenbild den Narzissmus abwertet und hinter der infantilen Grandiosität Krankhaftes vermutet, sprechen die analytischen Beobachtungen dafür, die Grandiosität für eine normale Entwicklungsgrundlage des Selbstgefühls zu halten. Sie hilft dem Kind, seine Ängste zu bewältigen und an den Schutz zu glauben, den die Erwachsenen spenden können, wenn es diese idealisiert. Idealisieren heißt: als grandios erleben, als vollkommen, makellos.
Idealisierung beruht darauf, negative Seiten auszublenden, Kritik zurückzustellen, an das Gute zu glauben. Indem sich das Kind mit diesen idealisierten Eltern identifiziert, gewinnt es Zuversicht. Diese Zuversicht hilft ihm, die Realität zu bewältigen. Sie tut das umso besser, je mehr es dem Kind gelingt, die idealisierende Vorleistung durch realen Austausch zu festigen. Das gelingt in dem Zustand am besten, in dem die Idealisierung wohlwollend zugelassen, aber nicht realitätsblind verteidigt wird.
Viel wichtiger als die Konstruktion einer »realistischen Beziehung« scheint der Aufbau von nicht-defensiven Idealisierungen. Das bedeutet, dass die Idealisierung flexibel wird und auf Widersprüche reagieren kann, die sich zwischen ihr und der Wirklichkeit einstellen. Gefährlich ist erst die zur manischen Abwehr gesteigerte, erstarrte Grandiosität. Beispiele, nach den oralen, analen und genitalen Feldern (nicht »Phasen«) geordnet:
Die Mutter duldet Kritik an ihrem Essen und versucht, wo sie diese berechtigt findet, es so zuzubereiten, dass es dem Kind schmeckt. Oder aber die Mutter sagt bei der ersten Kritik: »Ich weiß schon, du liebst mich nicht, mein Essen schmeckt dir nicht, ich koche nie wieder etwas.« Der Angestellte duldet Kritik an seinen Leistungen und versucht, wo er diese berechtigt findet, seinem Chef entgegenzukommen. Ebenso nimmt der Chef Anregungen seiner Mitarbeiter über seinen Führungsstil entgegen und bemüht sich, diesen zu verändern. Oder aber der Angestellte »bockt«, passt sich scheinbar an, arbeitet aber weniger, als er könnte; der Chef schneidet den Widerspruch autoritär ab, schließlich hat er hier das Sagen. Der Liebhaber findet die Hinweise seiner Geliebten wichtig, wo er zärtlicher oder leidenschaftlicher mit ihr umgehen soll. Oder er zieht sich beleidigt zurück und überlässt das nächste Mal die Initiative ihr.
Man kann die Idealisierung mit einer Form vergleichen. Diese Form kann aus elastisch-festem, aus brüchigem, aus starrem oder aus einem Material aufgebaut sein, das bereits bei der geringsten Beanspruchung zerfällt. Ein wichtiger Aspekt, der aus der Beobachtungen von den biologischen Verwandten des Menschen abgeleitet wurde, ist hier die Bindung. Bindung ist ein Begriff, der eine gewisse Stabilität des Austauschs charakterisiert. Das Baby gibt eigene Reaktionen, Zärtlichkeiten, Anklammern, bezogene Signale; die Mutter antwortet mit Zärtlichkeiten, Zuwendungsreaktionen, Nahrung, Schutz. Je verlässlicher der Austausch funktioniert, desto stabiler Bindung und Reizschutz. Die Bindung beruht darauf, dass sich das Kind mit Menschen identifizieren kann, die sich untereinander konstruktiv austauschen.
Je fester das Kind gebunden ist, desto eher und kraftvoller kann es die Eltern verlassen. Wer eine genügend gute frühe Umwelt hatte, wird problemlos nach einer besseren späten Umwelt suchen; wem sie fehlte, der klammert sich an den Mangel und fürchtet sich vor neuen Bindungen; wer weiß, ob er es dort nicht noch schlechter trifft.
Besser als das unbekannte Gute ist das bekannte Übel allemal – so lautet das Motto der unsicheren Bindung, der defensiven Idealisierung. »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht«. Wer verlässlich gebunden ist, macht sich auf zu erobern: »Öfter mal was Neues, und wo es mir gut geht, da ist meine Heimat!«
Die defensive Idealisierung ist rückwärts gewandt. Sie orientiert sich daran, nicht zu verlieren. Die flexible Idealisierung hingegen ist dynamisch; sie glaubt an eine Steigerung nach einem Umbau. Es darf etwas abgerissen werden, wenn die Zuversicht realistisch ist, es nachher schöner zu errichten.
Das schöpferische Selbstgefühl speist sich aus der Grandiosität des frühen Narzissmus. Das Kind hat darauf vertraut, dass die Realität seinen Fantasien einen ebenso guten Nährboden bietet wie früher die Mutter. Kreativität ist immer auch Pflege dieser Komponente des Selbstgefühls. Wenn dieser pflegliche Umgang mit der eigenen Kreativität gelingt, d.h. wenn die Grandiosität flexibel ist und Kritik zugelassen wird, dann kann der Mensch schöpferisch bleiben, wenn einmal Erfolg ausbleibt oder die Umwelt ihn nicht bestätigt.