Читать книгу Nur keine Krise - Wolfram Pirchner - Страница 10
Ist jede Krise eine Identitätskrise?
ОглавлениеJa, natürlich, die Krise an sich stellt die Identität infrage, das habe ich jahrelang gelernt, erfahren und davon bin ich auch überzeugt. Und in den gescheiten Büchern steht das auch so. Daniela Domig hat mir in einem unserer vielen Gespräche recht gegeben: Sie meint, dass dieses Infragestellen der Identität sowohl bei der Entwicklungskrise als auch bei der traumatischen Krise stattfindet.
Damit eine Entwicklung weitergeht oder weitergehen kann, müssen wir Altes zurücklassen, wir müssen loslassen, um Platz für Neues zu schaffen. Möglicherweise gibt es einen Abschied von einer geliebten Person, von einem nahestehenden Menschen, einen Abschied von einer beruflichen Situation usw. Der Abschied, in welcher Form auch immer, muss vollzogen werden, bevor man Neues in Angriff nimmt. Dieser Prozess geht langsam vonstatten, das habe ich am eigenen Leib erfahren müssen oder dürfen. Das ist im Nachhinein immer Anschauungssache.
Kreativität und Angst sind nicht kompatibel.
Bei der traumatischen Krise ist das problematischer – die passiert von einem Moment auf den anderen, schlägt gnadenlos zu und verändert unser Leben in der Sekunde. Aufgrund dieser »Plötzlichkeit« stehen uns keine Ressourcen mehr zur Verfügung. Gerade während ich diese Zeilen schreibe, erfahre ich, dass ein Geschwisterpaar, ein 16-jähriger Bub und eine 21-jährige junge Frau, die Kinder einer entfernten Bekannten, in der Nacht tödlich verunglückt sind. Da stelle ich mir, wie bei manchen dieser gehörten, erfahrenen Katastrophen die Frage: Wie würde ich reagieren? Könnte ich darauf überhaupt reagieren? Da fühle ich allein durch die Vorstellung eine lähmende Schwere in mir, wenn ich an die geballte Schrecklichkeit, an diese Katastrophe denke, die dann unwiderruflich das Leben der Betroffenen beherrscht und nachhaltig prägt. Alleine beim Gedanken, dass eines meiner beiden Kinder sterben würde – also sterben werden sie schon irgendwann einmal –, aber die Vorstellung, dass sie »vor mir gehen«, ist unerträglich, schmerzlich und unvorstellbar.
Auch Naturkatastrophen brechen unangekündigt über uns herein. Erinnerst du dich noch an die schrecklichen Bilder vom Tsunami vom 26. Dezember 2004 im Indischen Ozean? Über 230 000 Menschen sind damals gestorben. Wenn du die Nachrichten im TV siehst, Radio hörst oder Zeitungen liest, dann erfährst du jeden Tag von den fürchterlichsten Geschehnissen und Entwicklungen im In- und im Ausland. Krise hier, Krise da, Katastrophen en masse. Wir fühlen uns immer weit entfernt davon. Das ist ein interessantes Phänomen. Wir beobachten, nicken betroffen, sind berührt, aber wir sind weit weg. Auch wenn, wie in meinem Fall, in unserem Dorf vor Jahren zwei Menschen erschossen worden sind, keine 200 Meter von unserem Haus entfernt. Auch wenn auf der Strecke nach Hause der junge Mann aus der Nachbarschaft gegen einen Baum kracht und verbrennt, wenn die Kinder von Bekannten verunglücken, wenn sich der Anrainer in der Nähe im Garten erschießt. Alles erlebt, alles erfahren und doch gefühlt weit weg. Es ist alles real, alles passiert, aber nicht im eigenen (noch) geschützten Bereich. Hilft da ein kurzes Durchatmen, verbunden mit dem Gedanken »Gott sei Dank, uns hat es nicht erwischt …«?
Wir müssen loslassen,
um Platz für Neues zu schaffen.
Das Wort »Krise« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »trennen« und »unter-scheiden«.