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Landesstreik aus Verzweiflung
ОглавлениеIn La-Chaux-de-Fonds geht am 20. Mai 1917 eine wütende Volksmenge auf die Barrikaden und befreit den seit zwei Tagen wegen Beleidigung der Armee inhaftierten Sozialdemokraten Ernest-Paul Graber. Er büsst dafür, dass er in der sozialdemokratischen Tageszeitung La Sentinelle Übergriffe von Offizieren auf einen kranken Soldaten angeprangert hat.
Der Lebenskostenindex steigt laufend und die Reallohneinbussen sind unerträglich. Besonders hart betroffen sind die ohnehin schlecht bezahlten Bankangestellten.[20] In Zürich begehren sie auf. Nachdem ihre Forderungen zur Kompensation der Reallohneinbussen von den Direktionen abgelehnt wurden, stellen sie ihre Arbeit am 30. September 1918 für zwei Tage ein und gehen auf die Strasse. Die Arbeiterschaft solidarisiert sich mit ihnen, und wenig später streikt eine Viertelmillion Arbeitnehmende und Gewerkschafter. Zum Jahrestag der Russischen Revolution planen sie Feierlichkeiten und Demonstrationen. Das geht General Ulrich Wille entschieden zu weit; er setzt sich beim freisinnig dominierten Bundesrat durch und beordert den Einsatz von insgesamt hundertzehntausend Mann starken Ordnungstruppen. Diese besetzen sogleich das Bundeshaus und bewachen den Bahnverkehr sowie strategisch wichtige Institutionen und Anlagen. In Zürich marschieren achttausend Kavalleristen und Infanteristen ein, was von den Streikenden als ungeheure Provokation empfunden wird.
Auf dem Zürcher Münsterhof lassen, trotz Verbot, etwa siebentausend Jugendliche die ein Jahr zuvor erfolgte Russische Oktoberrevolution hochleben. Die bürgerliche Öffentlichkeit sieht in dieser Feier ein Vorspiel zur Revolution nach russischem Vorbild. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen kriegsmässig ausgerüsteten Soldaten und Demonstranten. Ein junger Mann stirbt, am Boden liegen 28 Verletzte. Am folgenden Tag lässt der rechtsextreme Platzkommandant Major Emil Sonderegger – späterer Generalstabschef der Schweizer Armee – Handgranaten an seine Truppen aushändigen und erteilt den Befehl, die Schusswaffen gegen widerspenstige Zivilisten einzusetzen. Kurz darauf wird eine ausserordentliche Session der Bundesversammlung einberufen; der Bundesrat erlässt ein neues Truppenaufgebot und unterstellt das Bundespersonal der Militärgesetzgebung.
Das brutale Eingreifen der Armee fordert das «Oltener Aktionskomitee (OAK)» heraus, das sich am 4. Februar 1918 unter dem sozialdemokratischen Nationalrat Robert Grimm zu einem Exekutivausschuss von Partei und Gewerkschaft formiert hat. Dieser ruft für Samstag, den 9. November, zu einem 24-stündigen Proteststreik in den Industriezentren auf. Weil sich die Armeespitze weigert, die Ordnungstruppen abzuziehen, führt die «Zürcher Arbeiterunion» den Streik weiter. Das «Oltener Aktionskomitee» steht unter Druck und ruft für «Montag, den 11. November 1918, 24.00 Uhr» einen unbefristeten schweizweiten Generalstreik aus, der sich einerseits gegen die Armeebesetzung und anderseits gegen die misslichen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Bevölkerung richtet. Über eine Viertelmillion Frauen und Männer folgen dem Aufruf. Im Vergleich zur Deutschschweiz wird der Appell in der Romandie nur zögerlich befolgt. Die Streikleitung fordert unter anderem eine sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Basis des unlängst eingeführten Proporzwahlsystems, das Frauenstimm- und -wahlrecht, die 48-Stunden-Woche, die Sicherung der Lebensmittelversorgung sowie eine Alters- und Hinterbliebenenversicherung.
Eine besonders explosive Stimmung herrscht am Tag nach dem Streikabbruch in Grenchen, wo sich vor dem Nord- und Südbahnhof der aufgestaute Volkszorn entlädt.
Abb. 1:Landesstreik 1918: Streikende und Ordnungsdienst des Landsturms vor den Barrikaden beim Südbahnhof Grenchen.
Obwohl der Generalstreik vom «Oltener Aktionskomitee» als gewaltfreie Anklage geplant war, überschreiten ein paar Desperados die rote Linie. Donnerstag, 14. November 1918, 14.00 Uhr: Sie zertrümmern Eisenbahnweichen, errichten Barrikaden und bestreichen ein Schienenstück mit Schmierseife. Die Situation eskaliert. Eine Gruppe des unter dem Kommando von Major Henri Pelet stehenden Füsilierbataillons 6 eröffnet bei der Kirchstrass-Unterführung das Feuer und schiesst aus nächster Nähe in die Menge. Die Bilanz des Massakers: drei tote junge Arbeiter. Einer der Gefallenen, der 29-jährige Uhrmacher Hermann Lanz, war auf dem Weg zur Apotheke, um für seine kranke Mutter Medikamente abzuholen.
Der Bundesrat schien anfänglich auf einzelne Forderungen der Streikenden eingehen zu wollen, zeigt sich aber unter dem Druck des Parlaments und der Militärführung unnachgiebig. Zwei der neun Forderungen des «Oltener Aktionskomitees» werden schliesslich doch erfüllt: die Proporzwahl des Nationalrates und die 48-Stunden-Woche. Der Landesstreik hat indessen einen tiefen politischen Graben aufgerissen: die extreme Polarisierung der Öffentlichkeit zwischen links und rechts.