Читать книгу Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit. Gesamttext - Zhuangzi - Страница 57
Оглавление外篇
Äußere Kapitel
8
駢拇 (pián mǔ)
Miteinander verwachsene Zehen
Was ist natürlich? Was ist gekünstelt? Wo liegt die Grenze? Ausgehend von ungewöhnlichen Körperformen, unterzieht Zhuangzi in diesem Kapitel Kultur und Ethik einer kritischen Betrachtung: Gehören sie zur Natur des Menschen oder führen sie ins Unglück, zumindest, wenn man es mit ihnen übertreibt?
8.1
Miteinander verwachsene Zehen oder ein sechster Finger – so etwas bringt die Natur zuweilen hervor, aber um Lebenskraft zu erlangen, sind sie überflüssig. Ein Geschwulst oder eine heraushängende Warze bringt der Körper zuweilen hervor, aber um Natürlichkeit zu erlangen, sind sie überflüssig. Wer Menschlichkeit und Rechtschaffenheit vervielfacht und nutzt, bringt sie in Verbindung mit den fünf Organen, aber dies entspricht nicht dem Dao und der Lebenskraft. Daher sind Verwachsungen zwischen den Zehen nutzloses Fleisch, ein zusätzliches Glied an der Hand ist ein nutzloser Finger; wer auf vielerlei Weise Verwachsungen und Anhängsel auf der natürlichen Form seiner fünf Organe wachsen lässt, der übertreibt auch im Gebrauch von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit und strebt danach, in vielerlei Art und Weise sein Hör- und Sehvermögen anzuspannen.
Daher: Wer sein Sehvermögen übersteigert, kann die fünf Farben nicht unterscheiden, lässt sich betören von Linien und Mustern, lässt sich blenden von Grün und Gelb sowie Schwarz und Grün auf den Kleidern, nicht wahr? Li Zhu (Roter Abschied) war so einer. Wer sein Hörvermögen vervielfacht, den verwirren die fünf Töne, der lässt sich betören von den sechs Tönen, [von Musikinstrumenten aus] Metall und Stein, Seide und Bambus, von der Gelben Glocke und der Großen Trompete – nicht wahr? Meister Kuang (Virtuos) war so einer.
Wer es mit der Menschlichkeit übertreibt, hält die Tugend hoch und unterdrückt seine Natur, um seinen Ruhm und Ruf zu vergrößern, verführt mit Flöte und Trommel alle unterm Himmel, unerreichbare Ziele anzustreben, nicht wahr? Zeng Can (Überraschung) und Shi Qui (Geschichtsschreiber) waren von dieser Art. Wer ausufert in Erörterungen und seine Worte wie Ziegel aufstapelt oder wie Knotenschnüre miteinander verknüpft, der lässt seinen Herz-Geist schweifen zwischen »hart« und »weiß«, »gleich« und »verschieden«, der verausgabt sich in kleingeistigen Lobhudeleien und nutzlosen Reden, nicht wahr? Yang Zhu und Mo Di waren von dieser Art.
Daher: All das sind Methoden, Verwachsungen und Auswüchse zu vervielfachen, nicht das natürliche Maß unterm Himmel. Das rechte Maß ist: den ursprünglichen Zustand seines Lebens nicht zu verlieren. Daher wird als passend betrachtet, was nicht verwachsen ist; und Auswüchse werden nicht als zusätzliche Zehen betrachtet; als lang wird nicht betrachtet, was überflüssig ist, als kurz wird nicht betrachtet, wo etwas fehlt. Daher: Die Wildente hat kurze Füße, doch würde man sie langziehen, würde es sie schmerzen; der Kranich hat lange Beine, doch würde man sie kurzschneiden, wäre er traurig. Daher: Was von Natur aus lang ist, soll nicht kurzgeschnitten werden; was von Natur aus kurz ist, soll nicht langgestreckt werden – auf diese Weise beseitigt man keinen Kummer.
Ich denke, dass Menschlichkeit und Rechtschaffenheit nicht zur Natur des Menschen gehören. Wenn Menschlichkeit dem Menschen eigen wäre, würde sie dann so viel Kummer bereiten? Wenn die Zehen miteinander verwachsen sind, und sie werden aufgeschnitten, dann gibt es Tränen; wenn ein sechster Finger von der Hand abgeschnitten wird, dann gibt es Geheule. Von diesen beiden hat der eine zu viel, der andere zu wenig – beiden bereitet es Kummer.
Menschen, denen Menschlichkeit eigen ist in der heutigen Zeit, blicken mit traurigen Augen und voller Sorge auf das Unheil in dieser Welt; Menschen, denen keine Menschlichkeit eigen ist, krempeln die lebendige Natur um in ihrer Gier nach Reichtum und Ruhm. Daher denke ich, dass Menschlichkeit und Rechtschaffenheit nicht zur Natur des Menschen gehören. Von den Drei Dynastien an, wie viel Lärm und Gezänk haben sie unterm Himmel hervorgerufen?
Die Passage spielt auf die Mohisten an, d. h. die Anhänger der Lehre des Mozi (Mo Di), der im 5. Jahrhundert v. u. Z. lebte, umfassende Liebe (兼愛, jiān ài) und gegenseitige Unterstützung (相利, xiāng lì) predigte, die Menschlichkeit (仁, rén) aber der Rechtschaffenheit (義, yì) unterordnete. Er schuf damit den »Konfuzianismus fürs Volk«. Mit den Drei Dynastien sind Xia, Shang und Zhou gemeint.
8.2
Was mit Haken und Schnur, Zirkel und Winkelmaß zurechtgerückt wird, ist zurechtgestutzte Natur; was mit Schnur, Leim und Lack wiederhergestellt wird, büßt seine Lebenskraft ein; das Katzbuckeln und Unterbrechen in Ritus und Musik, das Bekräftigen von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit bei angehaltenem Atem, um den Herz-Geist unterm Himmel zu beruhigen – damit geht ihre gewöhnliche Natürlichkeit verloren. Es gibt sie unterm Himmel, die gewöhnliche Natürlichkeit. Die gewöhnliche Natürlichkeit biegt ohne Haken, richtet gerade ohne Schnur, rundet ab ohne Zirkel, macht rechteckig ohne Winkelmaß, fügt zusammen ohne Leim und Lack, verbindet ohne Stricke.
Daher: Unterm Himmel leben alle natürlich, ohne zu wissen, wie es kommt, dass sie leben; alle erhalten es gleichermaßen, ohne zu wissen, wie es kommt, dass sie es erhalten. Daher: Vom Altertum bis heute sind diese beiden Dinge nicht [voneinander getrennt], nichts kann dem etwas anhaben. Warum soll man mit Menschlichkeit und Rechtschaffenheit die Dinge kitten wie mit Leim und Lack, Schnüren und Stricken und umherwandern zwischen Dao und Lebenskraft? Welche Verwirrung entstünde dann unterm Himmel!
Wer ein wenig verwirrt ist, verwechselt rasch die Richtung; wer sehr verwirrt ist, zerstört seine natürlichen Anlagen. Woher weiß ich, dass es so ist? Seit der große Yu Menschlichkeit und Rechtschaffenheit predigte, um damit unterm Himmel alle irrezuleiten, gibt es niemanden, der nicht sein Leben lang der Menschlichkeit und Rechtschaffenheit hinterherhetzt – entfernen uns Menschlichkeit und Rechtschaffenheit nicht vom Natürlichen?
8.3
Lass uns also darüber sprechen. Seit den Drei Dynastien gibt es niemanden unterm Himmel, der sich nicht irgendwelcher Dinge zuliebe von seiner Natur entfernt. Der kleine Mann opfert sich auf, um Vorteile zu erlangen; der Gelehrte (und der Krieger) opfert sich auf dem Ruhm zuliebe; der hohe Beamte opfert sich auf für die Familie; der Weise opfert sich auf für die Welt. All diese Leute widmen sich ihrer Sache auf unterschiedliche Weise, erlangen in verschiedenem Ausmaß Ruhm und Ruf, aber dass sie ihre Natur missachten und sich aufopfern, darin sind sie eins.
Zang und Gu hüteten gemeinsam Schafe und verloren einmal all ihre Schafe. Als Zang gefragt wurde, wie es dazu kam, [antwortete er], er habe ein Buch mitgenommen und gelesen; als Gu gefragt wurde, [antwortete er], er habe sich an einem Würfelspiel erfreut. Die beiden hatten sich mit unterschiedlichen Dingen beschäftigt, doch dass ihnen die Schafe abhandenkamen, war ihnen gemeinsam.
Bo Yi starb dem Ruhm zuliebe am Fuße des Shouyang-Berges; Zhi, der Räuber, starb, um Vorteile zu erlangen, auf dem Gipfel des Dongling-Berges. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen gestorben, doch gleichermaßen haben sie ihrer Natur geschadet und ihr Leben verkürzt; warum wird dann Bo Yi der »Rechte« und Zhi, der Räuber, »der Schlechte« genannt?
Unterm Himmel opfert sich jeder für irgendetwas auf. Wer sich für Menschlichkeit und Rechtschaffenheit aufopfert, der gilt gewöhnlich als Edelmann; wer sich für Besitz und Wohlstand aufopfert, der gilt gewöhnlich als Kleinbürger. Dass sie sich aufopfern, darin sind sie eins, doch einige gelten als Edelmann, andere als Kleinbürger; indem sie ihrer Natur schaden und ihr Leben verkürzen, ähneln sich Zhi, der Räuber, und Bo Yi; wo ist da der Unterschied zwischen Edelmann und Kleinbürger?
Wer seine Natur der Menschlichkeit und Rechtschaffenheit unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Ceng und Shi, der hat meines Erachtens keine besondere Begabung; wer seine Natur den fünf Sinnen unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Yu Er, der hat meines Erachtens keine besondere Begabung; wer seine Natur den fünf Tonarten unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Shi Kuang, der hat meines Erachtens kein besonderes Hörvermögen; wer seine Natur den fünf Farben unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Li Zhu, der hat meines Erachtens kein besonderes Sehvermögen.
Meines Erachtens hat Begabung nichts mit dem zu tun, was Menschlichkeit und Rechtschaffenheit genannt wird, sondern mit der Begabung, seine Lebenskraft zu entfalten, und damit genug. Meines Erachtens hat Begabung nichts mit dem zu tun, was Menschlichkeit und Rechtschaffenheit genannt wird, sondern mit der Kunst, seiner ursprünglichen Natur Raum zu geben, und damit genug. Meines Erachtens bedeutet Hörvermögen nicht, dieses und jenes zu hören, sondern sich selbst zu hören, und damit genug. Meines Erachtens bedeutet Sehvermögen nicht, dies und jenes zu sehen, sondern sich selbst zu sehen, und damit genug.
Wer sich selbst nicht sieht, aber dieses und jenes sieht, der findet nicht zu sich selbst, sondern findet nur dieses und jenes; der findet, was andere finden, aber zu sich selbst zu finden, dazu findet er keinen Zugang; er passt sich dem an, woran sich die anderen anpassen, aber er passt nicht zu dem, was zu ihm selbst passt. Er passt nicht zu dem, was zu ihm selbst passt, sondern passt sich dem an, woran sich die anderen anpassen. Ob es sich nun um Zhi, den Räuber, oder Bo Yi handelt – sie haben sich gleichermaßen entfremdet und verloren. Ich fühle mich dem Dao und der Lebenskraft verpflichtet, daher wage ich es nicht, mich zu erhöhen im Namen von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit; und wage es nicht, mich zu erniedrigen, indem ich mich von mir entfremde und verliere.
Das Zeichen 士 wird von einigen Übersetzern als »Gelehrter« gelesen, von anderen als »Ritter«. Zhi war Anführer einer Bauernrevolution, der später den Ehrentitel »Großer Räuber« erhielt. Graham und Ziporyn erblicken im Ende dieses Kapitels ein typisches Beispiel für »primitivistisches Denken«, das sich am Daodejing orientiere, das der Verfasser offenbar zitiere. Ein direktes Zitat lässt sich jedoch nicht erkennen.