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胠篋 (qū qiè)
Kisten aufbrechen

Dieses Kapitel wird bereits von Sima Qian als Teil des Zhuangzi erwähnt. Es widmet sich der Frage, ob es legitim sei, Grenzen zu überschreiten, und gelangt zu einer originellen Antwort: die kleinen Diebe werden bestraft, die großen Räuber als Würdenträger geehrt. Wer als Dieb oder Räuber erfolgreich sein möchte, benötigt Dao, eine Methode und Moral. Die Gier der Oberen nach immer mehr führt dagegen zu gesellschaftlicher Unruhe.

10.1

Wo Kisten aufgebrochen, Säcke geplündert und Truhen von Dieben geöffnet werden, dort wappnet man sich, um sich zu schützen, mit Seilen und Schnüren, die festgezurrt werden, verstärkt Riegel und Schloss – gewöhnlich nennt alle Welt das klug. Doch wenn ein richtig großer Dieb kommt, dann lädt er sich die Truhe auf den Rücken, schleppt die Kiste weg, wirft den Sack über die Schulter und rennt davon, wobei er nur bangt, ob die Schnüre und Stricke, Riegel und Schlösser auch ja fest genug halten! Heißt das nicht, dass derjenige, der von allen klug genannt wird, nur für den großen Dieb gehortet hat?

Daher lasst mich versuchen zu erklären, was ich meine: Derjenige, den gewöhnlich alle Welt klug nennt, hat er nicht für den großen Dieb gehortet? Und schützen nicht diejenigen, die weise genannt werden, den großen Dieb? Woher weiß ich, dass es sich so verhält? Im Staat Qi konnten einst die Menschen in benachbarten Orten einander sehen, die Hühner und Hunde konnten einander hören; um Netze zum Fischen auszuwerfen, den Boden mit Pflug und Hacke zu beackern, reichte das Land 2000 Quadratmeilen weit. Alles war vereint innerhalb der vier Grenzen: Ahnentempel, Tempel für den Gott des Ackers und der Feldfrüchte, die Verwaltung der Dörfer und Weiler entsprach in allem den Gesetzen der Weisen!

Doch eines Tages ermordete Tian Chengzi (Vollendeter Feldbauer) den Herrscher von Qi und riss sein Land an sich. War es nur das Land, das er an sich gerissen hat? Zugleich riss er damit die Gesetze an sich, die die Weisen und Gelehrten erlassen hatten. Zwar haftete Tian Chengzi der Ruf eines Diebes und Räubers an, er selbst aber verbrachte sein Leben in Ruhe und Frieden wie [die Könige] Yao und Shun; die kleinen Staaten wagten es nicht, ihn zu verurteilen; die großen Staaten wagten es nicht, ihn anzugreifen; zwölf Generationen herrschte sein Clan über das Land Qi. Bedeutet dies nicht, dass er, indem er den Staat mitsamt den Gesetzen der Weisen und Gelehrten an sich riss, damit sich selbst als Dieb und Räuber geschützt hat?

Lasst mich noch einmal versuchen, es zu erklären: Derjenige, den alle Welt gewöhnlich für klug hält, hortet er nicht für den großen Dieb? Und derjenige, der vollkommen weise genannt wird, schützt er nicht den großen Dieb? Woher weiß ich, dass es sich so verhält? Einst wurde Longfeng (Stoßender Drache) geköpft, Bigan (Unvergleichlicher Kämpfer) wurde das Herz herausgerissen, Changhong (Prächtige Sternfrucht) der Bauch aufgeschlitzt, Zixu (Kleiner Beamter) ließ man verwesen – diese vier waren kluge Männer und konnten dennoch nicht verhindern, dass sie getötet wurden.

Die Kumpane des Räubers Zhi wandten sich an Zhi und fragten: »Haben Räuber auch ein Dao?«

Zhi sprach: »Wie kann ein Plan aufgehen, wenn man kein Dao hat? Zu ahnen, wo im Haus der Schatz versteckt ist, erfordert Weisheit; als Erster hineinzugehen, erfordert Mut; als Letzter hinauszugehen, erfordert Rechtschaffenheit; wissen, was möglich ist und was nicht, erfordert Klugheit; die Beute gleichmäßig zu teilen, erfordert Menschlichkeit. Wer diese fünf Punkte nicht in seine Vorbereitungen einbezieht, kann unterm Himmel kein großer Räuber werden.«

Aus diesem Grund lässt sich beobachten, dass sich gute Menschen, die sich nicht an das Dao des Weisen halten, nicht durchsetzen; dass Zhi, würde er nicht dem Dao der Weisen folgen, nicht erfolgreich wäre in seinem Tun; unterm Himmel gibt es nur wenige gute, aber viele schlechte Menschen; darum stiftet der Weise unterm Himmel auch nur wenig Nutzen, aber richtet unterm Himmel viel Schaden an.

Mit Weisheit ist hier nicht die daoistische Weisheit, vielmehr die konfuzianische Gelehrsamkeit und Klugheit gemeint. Auf die heutige Zeit übertragen, lässt sich darunter der Nutzen der Wissenschaft verstehen: Er scheint auf der Hand zu liegen und dient der Bequemlichkeit der Menschen; bei genauerem Hinsehen aber ist die Existenz der Menschheit durch die Weiterentwicklung der Wissenschaft und Technik ernsthaft bedroht, so dass es besser wäre, auf viele Annehmlichkeiten zu verzichten, dafür aber das Leben auf der Erde zu erhalten. Die Beschreibung des Landes Qi zu Beginn ähnelt der Schilderung in Laozi, Kapitel 80.

10.2

Daher heißt es: »Wölbt man die Lippen, werden die Zähne kalt; ist der Wein von Lu dünn, wird Handan belagert; wird ein Weiser geboren, erscheinen die großen Diebe.«

Überwinde die Weisen, lass Diebe und Räuber frei laufen, dann kehrt unterm Himmel alles zu seiner ursprünglichen Ordnung zurück. Flüsse trocknen aus, und Täler leeren sich, Hügel ebnen sich ein, und Abgründe füllen sich. Sterben die Weisen aus, verschwinden die großen Diebe; unterm Himmel herrschen Gleichheit und Friede, und es gibt keinen Grund zu stehlen. Sterben die Weisen nicht aus, verschwinden die großen Diebe nicht. Je mehr Gewicht die Weisen in der Regierung genießen, desto mehr Vorteile ziehen Räuber wie Zhi daraus.

Wenn Scheffel und Säcke zum Messen [von Getreide] verwendet werden, dann werden Scheffel und Säcke auch gestohlen; wenn Waage und Gewichte zum Wiegen verwendet werden, dann werden Waage und Gewichte auch gestohlen; wenn Siegel und Stempel als Vertrauensbeweis verwendet werden, dann werden Siegel und Stempel auch gestohlen; wenn Menschlichkeit und Rechtschaffenheit benutzt werden, um Aufrichtigkeit zu zeigen, dann wird mit Menschlichkeit und Rechtschaffenheit auch gestohlen.

Woher weiß ich, dass es so ist? Wer ein Häkchen stiehlt, wird mit dem Tode bestraft; wer einen ganzen Staat an sich reißt, den betrachten alle als Würdenträger; am Tor zu dessen Palast tummeln sich Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, doch hat er nicht Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, Weisheit und Klugheit an sich gerissen? Daher ahmen die Leute den großen Räuber nach, erheben sich zu Würdenträgern, beanspruchen Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, ziehen aus der Verwendung von Scheffel und Säcken, Waage und Gewichten, Siegel und Stempel Vorteile; erhalten sie nur einen Karren und eine Kappe [für ihren Kopf statt einer Krone], stellt sie das nicht zufrieden; droht man ihnen mit scharfen Waffen, hält sie das nicht zurück. Räuber wie Zhi gewichtige Vorteile genießen zu lassen und nicht zurückzuhalten – darin besteht der Fehler des Weisen.

Daher heißt es: »Der Fisch sollte dem tiefen Wasser nicht entweichen; die scharfen Werkzeuge des Staates sind nicht da, um sie den Menschen zu zeigen.«

Der Weise ist ein scharfes Werkzeug des Staates, doch nicht, um zur Einsicht im Staat beizutragen. Daher: Wenn die Weisen ihr Wissen wegwerfen, verschwinden die großen Diebe. Zerbrich Jade und zertritt Perlen, so werden die kleinen Gauner verschwinden; verbrenne die Siegel und zerstöre die Stempel, und das Volk kehrt zum Einfachen und Schlichten zurück; zerbrich die Waage und zerstöre die Gewichte, und das Volk hört auf zu wetteifern; setze die von den Weisen geschaffenen Gesetze unterm Himmel komplett außer Kraft, und das Volk kehrt zurück zum ursprünglichen Zustand, sich auszutauschen und zu denken. Bringe in Verwirrung die sechs Tonarten, zerbrich die Flöten und Zithern, verstopfe Musikern wie dem blinden Kuang (Meister Umfassend) die Ohren – und unterm Himmel beginnen die Menschen wieder zuzuhören; beseitige schön gemusterten Zierrat, entmische die fünf Farben, verkleistere Meister Li Zhu (Ohne Zinnober) die Augen – und unterm Himmel beginnen die Menschen wieder klar zu sehen; zerstöre die Haken und zerschneide die Richtschnüre, wirf Zirkel und Winkelmaß weg, brich Zimmermann Chui (Meister Nocheinmal) die Finger – und unterm Himmel entwickeln die Menschen wieder Geschick. Daher heißt es: »Großes Geschick wirkt einfältig.«

Beschneide den Handlungsspielraum von Zeng Can (Langwährend) und Shi Qiu (Geschichtsschreiber), verstopfe den Mund von Yang Zhu (Weide) und Mo Di (Fallenlassen), verwirf Menschlichkeit und Rechtschaffenheit – und die Lebenskraft unterm Himmel beginnt, sich mit dem Vielschichtigen zu vereinen. Wenn die Menschen wieder klar sehen, dann fällt unterm Himmel niemand auf Glanz und Glimmer herein; wenn die Menschen wieder zuhören, dann wird unterm Himmel niemand im Stich gelassen; wenn die Menschen wieder ihrer Klugheit vertrauen, dann wird unterm Himmel nichts in Verwirrung geraten; wenn die Menschen sich wieder an ihre ursprüngliche Wirkkraft halten, dann wird es unterm Himmel nichts Absonderliches geben. Zeng Can und Shi Qiu, Yang Zhu und Mo Di, Meister Kuang und Zimmermann Chui sowie Li Zhu – sie alle zeigen nur äußerlich ihre Wirkkraft, um damit alle unterm Himmel zu blenden und zu verwirren; diese Strategie ist nutzlos.

Beim Spruch vom Fisch, der dem tiefen Wasser nicht entweichen soll, handelt es sich – auf den ersten Blick – um ein wörtliches Zitat aus dem Laozi, Kapitel 36. Beim apokrpyhen Charakter dieses Abschnitts im Zhuangzi, der vermutlich erst in späterer Zeit hinzugefügt wurde, erscheint dies naheliegend. Theoretisch ist es jedoch genauso gut umgekehrt möglich, dass die Verfasser des Laozi sich auf das Buch Zhuangzi gestützt haben. Ebenso ist es möglich, dass den Verfassern des Laozi und des Zhuangzi jeweils eine unabhängige dritte Quelle als Spruchsammlung zur Verfügung stand.

10.3

Bist du der Einzige, der noch nicht vom Zeitalter der vollkommenen Wirkkraft gehört hat? Einst, als Rongcheng (Erfolg durch Geschehenlassen), Dating (Großer Palast), Bohuang (Kaiserlicher Onkel), Zhongyang (Innerstes Zentrum), Lilu (Hüpfende Kastanie), Li Chu (Pferdezüchter), Xianyuan (Wagenbauer), Hexu (Glänzender Beamter), Zunlu (Altes Haus), Zhurong (Ausgleichender Priester), Fuxi (Der sich verbeugt und opfert) und Shennong (Göttlicher Landmann) herrschten, da knüpfte das Volk Knotenschnüre, um sich zu verständigen, aß süße Speisen, kleidete sich schön, erfreute sich an seinen Gebräuchen, wohnte zufrieden in seinen Hütten; die Nachbarn konnten einander sehen, Hühner und Hunde konnten einander hören; die Menschen wurden alt und starben, ohne zu kommen oder zu gehen. In dieser Zeit herrschte vollkommene Ordnung.

Heutzutage sind die Menschen derart zufrieden, dass sie beginnen, die Hälse zu recken, sich auf die Fersen zu stellen und zu rufen: »Oh, da ist ein edler Mensch!«, und sie packen ihren Proviant und eilen zu ihm, lassen ihre Verwandten zu Hause im Stich und vernachlässigen draußen ihre Dienstangelegenheiten für den Herrscher; ihre Fußspuren führen von einem Fürstenhof zum nächsten, ihre Kutschen legen tausend Meilen und mehr zurück – dies ist der Fehler der Oberen, die nach Wissen streben. Wenn die Oberen wirklich nach Wissen streben, statt nach dem Dao, dann breitet sich unterm Himmel Verwirrung aus. Woher weiß ich, dass es so ist?

Je mehr Wissen über das Schießen mit Vorrichtungen wie Bogen und Kreuzbogen, Handnetzen, desto wirrer steigen die Vögel nach oben; je mehr Wissen über das Anbringen von Haken, Fangnetzen, Wurfnetzen, Schleppnetzen und Reusen, desto wirrer tauchen die Fische ins Tiefe; je mehr Wissen über das Aufstellen von Hasenfallen, Schlingen, Käfigen, Klemmeisen, desto wirrer fliehen die Tiere in die Sümpfe; je mehr Vielfalt in den Kenntnissen über Betrug und Intrigen, Tricks und Täuschungsmanöver, Haarspalterei zwischen »hart und weiß«, »Vereintsein im Staub«, desto wirrer sind die Gespräche der einfachen Leute. Daher: Jeder Wirrnis unterm Himmel liegt das Streben nach Wissen als Fehler zugrunde. Daher suchen alle unterm Himmel nach dem, was sie noch nicht wissen, doch niemand weiß danach zu suchen, wann er genug weiß; alle wissen, das Falsche nicht gutzuheißen, doch niemand nennt falsch, was er bereits für gut befunden hat – daraus entsteht große Wirrnis. Daher verfinstert sich oben das Licht von Sonne und Mond, versiegt unten die Lebenskraft der Berge und Flüsse, setzt in der Mitte der Wechsel der vier Jahreszeiten aus; selbst die furchtsamen windigen Würmer, die flatterhaften Insekten – es gibt kein Wesen, das nicht seine Natur verliert.

Wie groß, wahrhaftig, ist unterm Himmel die Verwirrung, die das Streben nach Wissen hervorbringt! Von den Drei Dynastien an verhält es sich so: Das Volk schiebt die Urwüchsigen beiseite und schmeichelt begeistert den Eifrigen; es sagt sich los von teilnahmsloser Gelassenheit und begeistert sich für die Ideen von Schwätzern; die Schwatzhaftigkeit verwirrt alle unterm Himmel.

Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit. Gesamttext

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