Читать книгу Still - Zoran Drvenkar - Страница 13

SIE

Оглавление

Sie sind keine Brüder, sie sind keine Freunde. Sie leben außerhalb ihres Lebens ein zweites Leben und nennen es das wahre Leben. In diesem wahren Leben hat jeder seine festen Aufgaben. Jeder steht für sich selbst ein, und zusammen sind sie eins. Sie haben es von ihren Vätern gelernt, ihre Väter haben es von ihren Vätern gelernt, und so geht es über Generationen.

Eine Fackel, die weitergereicht wird.

Ein Licht, das nie verlöscht.

Ihre Zeit ist der Winter, den Rest des Jahres planen sie und arbeiten an den Details der Jagd. Sie gehen dabei minutiös vor und halten immer eine respektvolle Distanz zueinander. Dabei sind sie wie ein See, und wenn das Eis den See bedeckt, ist ihre Zeit gekommen. Ihr normales Leben findet an der Oberfläche statt; unter der Oberfläche und fernab der Blicke toben ihre Seelen – hungrig, gierig und unersättlich. Niemand muß das sehen. Sie haben gelernt, diesen Hunger zu kontrollieren und die Gier in Schach zu halten. Sie haben schon in jungen Jahren von der Unsterblichkeit gekostet und wissen, daß sich ihr Hunger durch nichts stillen läßt. Nur Disziplin hält ihn in Grenzen. Diese Disziplin trennt den Barbaren vom zivilisierten Menschen.

Es ist Sommer, und sie haben das Dach der Hütte repariert und einen Teil des wackeligen Zaunes um das Grundstück herum wieder aufgerichtet. In den letzten Jahren waren es immer dieselben Stellen, an denen die Wildschweine durchkamen. Bisher hat es nicht wirklich gestört, dann aber wurden zwei der Gräber aufgewühlt, und sie wußten, daß es so nicht weitergeht. Sie haben Fallen und Gift ausgelegt, aber es half so wenig wie der Zaun. Andere Maßnahmen mußten ergriffen werden. Die Gefahr ist zu groß, daß eine der Leichen ausgegraben, verschleppt und außerhalb des Grundstücks entdeckt wird.

Die Jagd geht über zwei Tage und Nächte. Sie sind beharrlich. Sie weiten den Radius aus und geben solange keine Ruhe, bis sie mit der Ausbeute zufrieden sind. Am Morgen des dritten Tages lassen sie die Kadaver in eine Felsspalte fallen – acht ausgewachsene Wildschweine mit ihrer Brut. Danach herrscht Ruhe.

Einer kundschaftet die Gegend aus und stellt den Zeitplan auf.

Einer kümmert sich um die Ausrüstung und das Fahrzeug.

Einer kontrolliert die Umgebung und die Nachbarn.

Einer hält die Fäden in der Hand, wägt das Risiko ab und sagt, wann es soweit ist.

Sie haben ihre Beute über einen Zeitraum von vier Monaten beobachtet. Jeder einzelne von ihnen muß seine Zustimmung geben. Zweifel sind dabei sehr wichtig. Nichts darf sich ihnen in den Weg stellen, die Planung muß perfekt und jeder Schritt durchdacht sein.

Jetzt muß nur noch der Winter kommen.

Es ist vor vier Jahren, und der erste Schnee stürzt gegen Mitternacht so schnell vom Himmel, daß die Stadt innerhalb weniger Stunden von einem angenehmen Schweigen umschlossen ist. Der Junge heißt Linus Holm und ist sehr zufrieden mit der Kälte. Er hat beschlossen, in diesem Winter so lange Rad zu fahren, bis es nicht mehr geht. Seine Freunde haben untereinander Wetten abgeschlossen, wie lange er durchhalten werde; seine Eltern halten ihn für verrückt. Linus weiß, daß der Schnee sein Freund ist.

Am Morgen gleitet er auf seinem Fahrrad durch die Straßen und fühlt sich wie ein Entdecker. Er ist zehn Jahre alt und lebt mit seiner Familie in einer Kleinstadt südlich von Bremen. Am Nachmittag verläßt er die Schule und fährt auf Umwegen nach Hause. Seine Reifen schnurren durch die dünne Schneedecke und hinterlassen eine nervöse Spur. Zu Hause lehnt er das Rad an die Fassade und betritt die Küche durch den Seiteneingang. Langsam taut sein Gesicht auf, und die Fingerspitzen prickeln. Er nimmt Cornflakes aus dem Regal, füllt eine Schale und begießt die Cornflakes mit Milch und Ahornsirup.

Als seine Eltern nachhause kommen, steht die Schale auf dem Tisch, und die Cornflakes haben die Milch aufgesogen, so daß kein Tropfen übriggeblieben ist. Sie finden keine Spur von ihrem Sohn. Sein Fahrrad lehnt an der Hauswand, sein Zimmer ist verlassen, der Hausschlüssel liegt neben dem Eingang auf dem Beistelltisch. Um die Stiefel herum hat sich eine Pfütze gebildet.

Die Eltern wissen es nicht, aber sie werden den Jungen nie mehr wiedersehen. Nach einem halben Jahr werden sie das Fahrrad in die Garage stellen. Die Zeit wird sie mit sich reißen, sie werden versuchen, ein zweites Kind zu bekommen, sie werden sich alle Mühe geben, ihr Leben so zu führen, als könnte ihr Sohn jeden Moment durch die Tür treten. Kein Tag wird vergehen, an dem sie nicht auf seine Rückkehr warten. Ihre Liebe wird sie zusammenschmieden. Liebe und Hoffnung. Denn mehr bleibt einem nicht, wenn es draußen Nacht wird und die Lichter eines nach dem anderen verlöschen.

Still

Подняться наверх