Читать книгу Still - Zoran Drvenkar - Страница 21

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Mein Kontaktmann war Pero Kostrin, und mir ist nie ganz klargeworden, ob er Kroate oder Serbe ist. Er behauptete, beides zu sein, denn das wäre sicherer. Unser erstes Zusammentreffen ist über ein Jahr her. Ich hatte da die Verwandlung zu Mika Stellar schon vollführt, fühlte mich aber noch fremd in meiner falschen Haut. Einen Monat lang habe ich jeden Nachmittag mit Pero verbracht. Ich hatte nur diese eine Chance und durfte sie nicht verspielen. Die Zeit lief, der nächste Winter stand bevor.

Unser Zusammensein hat mich dreitausend Euro gekostet.

Auf diese Weise habe ich sie gefunden.

Pero ist zweiundfünfzig Jahre alt und arbeitet bei der Stadtreinigung. Sein Name taucht in den Chats immer wieder auf. Kein Nickname, sondern sein wahrer Name, denn Pero hat nichts zu verbergen. Auch wenn viele sich outen wollen, besitzt kaum einer den Mumm dazu. Pero dagegen hat sich preisgegeben und galt in der Szene als Held, weil er freiwillig im Gefängnis saß. Er hat es für seinen Mentor getan. Nach dreieinhalb Jahren wurde er als therapiert entlassen.

Pero ißt nach der Arbeit am U-Bahnhof Ruhleben immer an derselben Imbißbude – weiße Stehtische, gelbe Sonnenschirme, rote Aschenbecher aus Plastik. Ich stellte mich zu ihm. Ein Blick genügte. Er sah mich an, er sah weg. Ich aß meine Boulette, er seinen Leberkäse. Die Tische draußen waren alle mit Rauchern besetzt. Ein Mann wollte sich zu uns stellen. Pero sagte ihm, der Platz wäre nicht frei. Wir blieben allein. Pero trank sein Bier, ich meine Cola. Als wir fertig waren, schaute er zum U-Bahneingang. Ich ließ ihn vorgehen und folgte nach einigen Minuten.

Der Bahnsteig liegt oberirdisch, und man schaut auf die Charlottenburger Chaussee hinunter. Eine U-Bahn kam und fuhr wieder ab. Pero wartete am Ende des Bahnsteigs auf einer Bank. Ich setzte mich neben ihn.

– Mein Name ist Mika, sagte ich, Du bist Pero, nicht wahr?

– Scheiße, sagte Pero und schwieg. Auch wenn er für alle sichtbar war, hieß das noch lange nicht, daß er gefunden werden wollte. Heldentum hin oder her, die Gefahr lauert überall. Pero sieht sich als Opfer. Da er keine Chance mehr hat, unter dem Radar zu leben, zeigt er sich. Dafür wird er respektiert.

Eine U-Bahn fuhr ein und fuhr wieder ab.

Pero wischt sich die feuchten Hände an der Hose ab.

– Ich verkehre nicht mehr in diesen Kreisen, sagte er, Ich bin raus.

Wir wußten beide, daß es kein raus gibt. Er sagte es, weil er es sagen mußte. Es gehört zur Etikette. Falls jemand zuhört, der nicht zuhören sollte. Pero ist seit fünf Monaten auf Bewährung draußen, er hat Auflagen zu erfüllen, er muß Abstand halten zu Gleichgesinnten.

– Ich will nicht in den Kreis, sagte ich.

Sein Lächeln hatte Kanten.

– Was willst du dann?

Ich antwortete nicht, ich hielt seinem Blick stand, er sah mich lange an, schaute dann den Bahnsteig hinunter und stand auf.

Eine U-Bahn fuhr ein und fuhr wieder ab.

Ich blieb allein zurück.

Am nächsten Tag erwartete ich Pero wieder nach der Arbeit. Es war ein Vorgeschmack auf den Pub. Geduld. Dieses Mal lud ich ihn ein. Currywurst mit Pommes und dazu ein Bier. Er war zufrieden, wir aßen, wir schwiegen, ich bestellte ein zweites Bier für ihn. Zehn Minuten später saßen wir auf dem Bahnsteig und betrachteten die Charlottenburger Chaussee, als wäre sie ein zäher Fluß, auf dem die Autos dahintrieben. Pero sagte, er könnte sich an meine Besuche gewöhnen. Er rieb die Fingerspitzen aneinander. Ich steckte ihm zweihundert Euro zu und bat ihn, von sich zu erzählen.

– Von Anfang an?

– Von Anfang an.

Ein leichter Nieselregen kam auf die Stadt herunter. Der Fluß kam ins Stocken. Eine Baustelle vor dem Bahnhofseingang sorgte für einen Stau, und natürlich war kein einziger Bauarbeiter zu sehen. Wagen hupten, Wagen drängelten. Sie wollten zu Ikea, sie wollten zum Baumarkt, sie wollten nach Hause. Ich sah ihnen dabei zu, während Peros Stimme mich an das Geräusch eines Kreisels erinnerte, kurz bevor er austrudelt und umkippt. Seine Worte waren hastig geflüstert. Er sprach von seiner ersten Liebe, dem Sohn eines Freundes. Damals war Pero Anfang zwanzig. Ein Jahr lang lief es problemlos. Er paßte am Wochenende auf den Jungen auf und ließ ihn bei sich übernachten, es war das übliche Programm. Pero kannte die Familie und war ein alter Freund. Er hatte immer Zeit, und so sparten sich die Eltern einen Babysitter. Wozu sind Freunde da? Sie bemerkten zwar die Veränderungen an ihrem Sohn – die Launen, das Schweigen, die überraschenden Wutausbrüche – sahen aber keine Verbindung zu ihrem guten Freund Pero. Ein Psychologe wurde zu Rate gezogen, ein Feriencamp im Sommer geplant. Erst als die Mutter einen Blutfleck in der Unterwäsche des Jungen entdeckte, kam es heraus. Der Vater brach Pero den rechten Arm und schlug ihm die Vorderzähne aus, erstattete aber keine Anzeige. Scham und Schande. Pero kam glimpflich davon. Er bereute keine Minute.

– Wie alt war der Junge? fragte ich.

– Fünf. Niemals werde ich den Kleinen vergessen. Ein Jahr habe ich nur für ihn gelebt. Nur für ihn! Das war es wert. Haut wie ein Pfirsich, Arsch wie ein Apfel, erste Liebe und so, verstehst du?

Plötzlich sah er mich abschätzend an, ich war ein offenes Fenster und er durfte reinschauen. Er brauchte nicht lange zu suchen.

– Scheiße, bist du ein Frischling?!

Er lachte, stieß mich mit der Schulter an.

– Alter, du bist eine verdammte Jungfrau!

Ich lächelte verlegen. Er hatte recht. Ich war eine verdammte Jungfrau.

Nach der ersten Woche holte ich Pero mit dem Auto ab. Das gefiel ihm sehr. Ich war sein Chauffeur, sammelte Geschichten und zahlte gut. Er sprach von der Szene und den Auf und Abs in seinem Leben, er lamentierte über das Elend, immer auf der Suche zu sein, und natürlich erzählte er auch von dem Hunger, der ihn antrieb. Wir fuhren im Schrittempo an Spielplätzen vorbei und er sagte, wo ich halten sollte. Wehmütige Erinnerungen stiegen in ihm auf. Manchmal saß er zwei, drei Minuten einfach nur da, schaute aus dem Wagen und tippte dabei mit einem Fingernagel gegen seine künstlichen Vorderzähne. Manchmal kamen ihm die Tränen.

– Sehnsucht, sagte er, Diese verfluchte Sehnsucht bringt mich irgendwann noch um.

Eines Tages hielten wir vor einer Eisdiele, und er zeigte mir seine neue Liebe. Der Junge hielt die Hand seiner älteren Schwester. Das Mädchen interessierte Pero nicht, sie hätte genauso gut unsichtbar sein können. Der Junge war sechs. Pero verriet mir seinen Namen. Er sagte: »Ich bin treu. Wenn ich verliebt bin, sehe ich keinen anderen an. Das ist wahre Liebe.« Er sagte auch: »Aber ich muß vorsichtig sein. Der Junge wird meine Nummer 9. Ich will das Glück ja nicht herausfordern. Bald feiere ich Jubiläum. Die Nummer 10 muß was ganz Besonderes sein.«

Nach vier Wochen hatte ich alles erfahren, was ich erfahren wollte, und stellte ihm die letzte Frage. Er war überrascht.

– Wozu willst du das denn wissen?

– Ich will verstehen, wie du sowas tun konntest.

Er dachte nach, als hätte er sich noch nie den Kopf darüber zerbrochen, wieso er dreieinhalb Jahre freiwillig hinter Gittern verbracht hat. Als er sprach, war seine Stimme belegt – Emotionen, Ehrfurcht, eine Prise Stolz.

– Wenn du in dieser Welt überleben willst, brauchst du einen Mentor, der dich leitet, der dir sagt, wie die Dinge sind, verstehst du? Einen, der dir erklärt, was geht und was nicht geht. Für deinen Mentor tust du dann alles, denn er ist es, der dir die Augen geöffnet hat. Du beginnst, die Welt als das zu sehen, was sie ist: Keine Illusionen mehr. All das Leiden und der Schmerz machen dich plötzlich zufrieden, verstehst du? Und das sollte das höchste Ziel eines jeden Menschen sein – Zufriedenheit. Ohne Zufriedenheit, existieren wir einfach nur. Deswegen war ich im Knast, verstehst du? Ich war zufrieden damit, die Strafe für meinen Mentor abzusitzen. Ich würde es sofort wieder tun. Mein Leben hat einen Sinn, weil er ihm einen Sinn gegeben hat.

– Und was war danach?

Er sagte, danach wäre der Kontakt abgebrochen.

– Mein Mentor hat sich verändert, sagte er, Er geht jetzt neue Wege.

Ich glaubte ihm. Alles findet ein Ende. Der Mentor ging neue Wege.

Bei unserem letzten Treffen saßen wir wieder auf der Bank, die U-Bahn fuhr ein, die U-Bahn fuhr ab. Plötzlich beugte sich Pero zu mir rüber. Sein Mund war nahe an meinem Ohr. Die Wärme seines Atems. Er nannte mir den Namen des Pubs. Er ließ mich wissen, daß ich den Mentor nicht suchen könne.

– Geh dorthin, sieh dich um, sei geduldig, verstehst du?

Wir beobachteten den Verkehr. Pero wartete auf eine Antwort. Ich sagte, ich hätte verstanden. Wir verabschiedeten uns nicht. Er stieg in die nächste U-Bahn und sah sich nicht nach mir um; ich nahm den Blick keine Sekunde von ihm. Die Türen schlossen sich. Die U-Bahn fuhr ab. Ich saß noch eine Weile da und beobachtete weiter die Charlottenburger Chaussee und wunderte mich, wie das Leben einfach so weitergehen konnte – ein Baum stürzt im Wald um, und niemand bekommt es mit.

Still

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