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6~Gregor

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„Hallo, hören Sie mich?“

Die Stimme klang dumpf und dünn, als würde jemand durch ein langes Rohr zu ihm sprechen. Gregor atmete tief ein, roch feuchtklare Nachtluft, Laub, Asphalt … und einen Hauch Jasmin.

„Was zum …“

Er blinzelte benommen und wollte sich aufrichten, wurde jedoch an den Schultern zurückgedrückt.

„Ganz ruhig, Sie sind bestimmt ohnmächtig geworden. Ich rufe jemanden, der Ihnen hilft.“ Gregor hörte kaum zu. Jetzt wusste er nämlich, was passiert war.

„Aach, verdammter Mist!“

Ohne die Person, die ihn geweckt hatte, zu beachten, setzte er sich auf und presste die Hände an seinen Kopf. Ihm war, als würde jemand im Takt seines Herzschlages mit einem Beil auf seinen Schädel einhacken.

Es geschah ihm nur recht. Was hatte er sich bloß gedacht? Wie hatte er so dämlich sein können, nach nur einem Monat ein weiteres Suchsignal auszusenden? Er hatte es aus purer Verzweiflung getan, weil ihm sonst nichts mehr eingefallen war. Nun hatte er den Salat: Seine Kräfte waren futsch und er hatte wer weiß wie lange bewusstlos auf der Straße herumgelegen – alle Viere von sich gestreckt wie ein Spanferkel auf dem Serviertablett. Hätten die Bergländer ihn so aufgefunden, hätten sie leichtes Spiel mit ihm gehabt. Es war reines Glück, dass sie …

„Geht es Ihnen gut?“

Gregor zuckte zusammen. Diese Stimme … Böses ahnend drehte er sich zu ihr um – und war gleich doppelt entsetzt. Zum einen, weil er die großen meerblauen Augen, die ihn sorgevoll anblickten, kannte. Zum anderen, weil er das Gesicht, das sich in diesen meerblauen Augen spiegelte, noch sehr viel besser kannte: das Gesicht des Gesichtslosen – sein eigenes Gesicht …

„Whooaa!“ Gregor sprang auf die Füße. Er torkelte ein paar Schritte rückwärts. Dann endlich kreuzte er die Arme vor dem Kopf. Doch es war zu spät: Die Pflegerin des Alten hatte ihn gesehen. Sie wusste, wie er in Wirklichkeit aussah. Auf der ganzen Welt wusste nur seine engste Familie, wie er in Wirklichkeit aussah!

Aber wie konnte das sein? Er hatte doch extra die Gestalt eines Joggers angenommen … Plötzlich fiel es ihm ein: Das Suchsignal! Es hatte ihm nicht nur sein Bewusstsein geraubt, es hatte ihm auch noch seine ganze Magie abgezapft, einschließlich derjenigen, die er brauchte, um seinen Tarnzauber aufrechtzuerhalten. So eine Sch…!

„Ich … äh, hole dann mal jemanden aus der Klinik …“

Das Mädchen war inzwischen aufgestanden. Sie trat ein paar Schritte rückwärts und stolperte über ihr Fahrrad, das scheppernd umfiel. Eine Kiste polterte auf den Boden, und ihr Inhalt miaute kläglich. Doch Gregor starrte nur auf das Mädchen. Er sah sie vor sich, wie sie in der Küche des Alten saß und Gemüse klein schnitt. Sie ist völlig harmlos, meldete sich sein Gewissen. Lass sie laufen.

Aber er konnte sie nicht laufen lassen. Einige Bergländer besaßen die Fähigkeit, aus menschlichen Erinnerungen Bilder abzurufen. Er musste seine Identität schützen. Es durfte keine Zeugen geben …

„Tut mir leid“, flüsterte er und ging auf das Mädchen zu. Ihre Augen weiteten sich. „Was haben Sie vor?“

Plötzlich sprang wie aus dem Nichts ein graues, fauchendes Fellknäuel zwischen Gregor und das Mädchen. Das Viech machte einen Buckel, und seine Augen glühten wie heiße Kohlen.

Gregor packte es an einer Speckfalte am Genick und warf es in die Büsche. Das Mädchen schrie: „Bert!“ Es weinte, und Gregor kam sich vor wie ein Monstrum, als er seine Hände nach ihr ausstreckte. Keine Zeugen! Keine Zeugen!

Er hatte sie noch nicht berührt, da fiel sie plötzlich in Ohnmacht und blieb regungslos auf dem Asphalt liegen. Gregor starrte verwirrt auf sie hinab. Dann spürte er den Wind.

Mit lautem Getöse wehte er durch die Baumkronen und stach wie mit spitzen Nadeln in seine Augen. Die Luft begann zu pulsieren – langsam erst, dann immer schneller, bis Gregor das Vibrieren in jedem einzelnen Knochen fühlte.

Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Na toll!

Er erschien aus dem Nichts, direkt vor Gregors Nase: Ein Schatten, zunächst nur knopfgroß, der auf Menschengröße wuchs und wie ein schwarzes Loch wahllos Materie ansaugte: Laub, Müll, Steine, Sand.

Es vergingen keine fünf Sekunden, da stand ein gut drei Meter großer Müllgigant vor Gregor und grinste ihn mit seinem Kaugummipapier-Mund hämisch an.

„Hallo, Greg“, dröhnte eine rasselnde Bassstimme. „Lange nicht gesehen. Du hättest mir ruhig Bescheid sagen können, als du Hamburg verlassen hast.“ Er wedelte tadelnd mit einem Zeigefinger, der aus einem dreckigen alten Kugelschreiber bestand. Gregor schluckte schwer.

„Ich … äh … hatte es leider eilig.“

„Nicht einmal eine Nachricht hast du mir hinterlassen. Ich bin wirklich enttäuscht.“ Der Müllhaufen schüttelte seinen Erdklumpen-Kopf, aus dem ein Büschel Gras herauswuchs. Die langen Halme fielen über seine winzigen schwarzen Kiesaugen wie bei einer besonders kessen Frisur.

Eine Schweißperle löste sich von Gregors Stirn und rollte kitzelnd über seine Schläfe.

Das war kein böser Traum: Vor ihm stand Hauptmann Tassud, der Schattengebieter Berglands. Er hatte Gregor eingeholt – und obwohl er gerade aussah wie eine Witzfigur, machte Gregor sich nichts vor: An seinen schlechten Tagen besaß Tassud mehr Zauberkraft in seinem kleinen Finger als die meisten Magier überhaupt. Gregor, der gerade sein zweites Suchsignal ausgesendet hatte, besaß zurzeit etwa so viel Zauberkraft wie der fette Kater hinten im Busch. Dass nun auch Tassud seine wahre Visage kannte, war somit sein geringstes Problem. Er war geliefert, und zwar so was von.

„Es war eine gute Zeit in Hamburg“, plauderte er los, um Zeit zu schinden. „Aber irgendwann hat man die Großstadt satt.“

Tassud brach in schepperndes Gelächter aus.

„Ach so, dem Herrn war nach Landluft, soso … Nun lass mal die Späße, Greg. Du hast dich heimlich davongemacht und geglaubt, du könntest mich abhängen. Hältst du mich wirklich für so bescheuert?“

„Aber ich habe dich doch abgehängt, oder nicht?“, wandte Gregor ein. „Sonst wärst du schon früher gekommen.“

Das Grinsen gefror auf Tassuds Kompostgesicht.

„Nun, jetzt bin ich jedenfalls hier. Und du, mein Freund, hast deine letzten Kraftreserven umsonst verschwendet. Nie und nimmer ist unsere Waffe in einem solchen Provinznest!“

Eure Waffe? Ha, von wegen!“ Gregor straffte die Schultern und machte sich so groß, dass er Tassud fast bis an die Brust reichte. Der Bergländer wusste, dass Gregor wehrlos war, es war also sowieso egal.

„Die Waffe gehörte unserem Weißen Weisen Arawin, ihr elenden Geschichtsverdreher!“, verkündete er inbrünstig. Tassud knirschte mit den Kieselzähnen.

„Das ist dann wohl mein Stichwort.“ Mit einer dramatischen Geste hob er seine ausgestreckten Arme und richtete die Fingerspitzen auf Gregor. „Verabschiede dich vom Leben, Silvestrianer!“

Gregor verschränkte die Arme vor der Brust und blickte trotzig zurück. Das Herz hüpfte wild in seiner Brust, als wollte es das sinkende Schiff verlassen, doch Gregor dachte nicht daran, um Gnade zu winseln. Niemals! Und vor Tassud schon gar nicht.

Es war seltsam. Früher hatte er sich immer ausgemalt, dass er einmal im Krieg oder als alter zahnloser Greis umgeben von seinen Enkeln sterben würde. Beides waren würdevolle Tode … Und das hier würde auch gleich zu einem werden, verflixt noch mal!

Gregor spannte seine Muskeln und setzte zum Sprung an. „Lang lebe König Randolf!“, schrie er. „Lang lebe Silvestria!“

Tassuds Gesicht streckte sich vor Verblüffung.

Jetzt glotzt du blöd, dachte Gregor mit Genugtuung – bis ihm aufging, dass Tassud ihn gar nicht beachtete. Vielmehr starrte er an Gregor vorbei …

Überrascht drehte er sich um – und sog scharf die Luft ein.

Es war die Pflegerin. Sie stand reglos da wie ein Strich in der Landschaft. Die langen dunklen Haare fielen strähnig über ihre Stirn und verdeckten ihr Gesicht – bis sie ihren Kopf hob und Gregor und Tassud aus tiefblauen Augen anblickte. Eine einsame Träne rollte über ihre Wange.

Dann explodierte die Welt.

Gregor, der es kommen sah, hechtete im letzten Moment zur Seite, ehe eine haushohe Welle aus schneeweißen Flammen die Straße überrollte. Tassud hatte nicht so viel Glück. Die Explosion schleuderte ihn gut zwanzig Meter rückwärts mitten in das schwarze Baumlabyrinth. Es regnete Erdbrocken und verkokeltes Gras.

Gregor robbte zum Straßenrand und kroch in den erstbesten Busch, wo er dem Kater von vorhin begegnete. Das Tier kauerte platt wie eine Flunder im Laub und war so sehr damit beschäftigt, sein Frauchen anzustarren, dass es Gregor ignorierte.

Dann fuhr ein neuer Windstoß durch den Wald, gefolgt von einem bienenschwarmartigen Summen. Tassud kommt zurück!, dachte Gregor. Er beschafft sich einen neuen Körper.

Das Mädchen stand immer noch bewegungslos auf der Straße. Lange, braune Strähnen strichen im Wind um ihre Schultern. Ihre Augen waren geschlossen.

Gregor konnte es nicht fassen. Sie schläft?

Plötzlich verstummte das Summen. Es wurde totenstill. Gregor und der Kater hielten die Luft an.

Dann ging alles ganz schnell: Aus dem Nichts stürzte eine gewaltige, silbergraue Meute mit Höllenlärm auf das Mädchen zu – Raben, mindestens dreihundert Tiere mit rubinroten Augen und messerscharfen Krallen. Tassud, dieser verflixte Teufelskerl, steuerte sie alle gleichzeitig!

In Sekundenbruchteilen wurde das Mädchen von einer metallisch schimmernden, zappelnden Kugel aus befiederten Körpern verschlungen. Gregor spürte den Impuls, den Blick abzuwenden. Das überlebt sie nicht, dachte er in einer Mischung aus Grauen und Mitleid. Sie werden sie in der Luft zerreißen!

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da rollte ihm eine Druckwelle entgegen, so stark, dass er sich an einer Wurzel festhalten musste, um nicht davongeweht zu werden. Kreischend stoben die Raben auseinander, als hätten sie dem Teufel persönlich ins Auge geblickt.

Kaum waren sie in der Luft, verdunkelte sich ihre Farbe. Sie zerbarsten zu Tausenden von tiefschwarzen Federn, die zu Boden rieselten und dort zu einer pechartigen Flüssigkeit zerschmolzen.

In kleinen Bächen floss das Pech zu einem Straußenei-großen Klumpen zusammen, der wie ein kalter Stein regungslos auf dem Asphalt liegen blieb.

Abrupt wurde es still. Kein Vibrieren mehr, kein Wind, kein Krähen.

Gregors Blick sprang auf das Mädchen zurück. Sie stand immer noch da, völlig unversehrt, mit geordneten Haaren und hängenden Armen. Sie lächelte sogar ein wenig.

Auf ihrer rechten Schulter hockte ein weißer Rabe. Sein scharfer, elfenbeinfarbener Schnabel näherte sich langsam ihrem Kopf. Gregors Glieder zuckten, intuitiv wollte er aufspringen und sie warnen. Doch dann erkannte er, dass der Vogel sie bloß sanft an der Schläfe kraulte. Im nächsten Moment löste er sich in weißen Nebel auf.

Gregor musste nicht lange überlegen, was das alles bedeutete: Er war ein Idiot. Ein Volltrottel. Eine Blindschleiche. Die ganze Zeit über war es vor seiner Nase gewesen. Wie hatte er es nur übersehen können?

Während er fieberhaft überlegte, was er tun sollte, raschelte es neben ihm im Gebüsch. Der Kater kroch ins Freie und näherte sich geduckt seiner Herrin. Wenige Meter vor ihr blieb er stehen, setzte sich und betrachtete sie mit schräg gelegtem Köpfchen. Als sie nicht reagierte, maunzte er fragend.

Endlich blickte das Mädchen zu ihm hinab. Ihre Schultern hoben und senkten sich. Sie blinzelte, als erwachte sie aus einer Art Trance. „Bert …“, flüsterte sie heiser. Dann brach sie zusammen.

Es verging eine Weile, ehe Gregor sich aus seinem Versteck wagte. Benommen kämpfte er sich aus dem Busch und schlich an das Mädchen heran. Ihr Brustkorb bewegte sich ruhig auf und ab, es schien ihr also gut zu gehen – ganz im Gegensatz zu Tassud.

Gregor konnte sich kaum ausmalen, wie stark ein Zauber sein musste, um ihn in seiner Schattengestalt in eine solche Kapsel zu sperren. Wie hatte sie das nur gemacht?

Mit einem nervösen Seitenblick auf das Mädchen berührte er den inzwischen verhärteten Pechklumpen und spürte Tassuds aufgebrachten Geist darin rumoren. Ein süffisantes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

„Dumm gelaufen, Kumpel.“

Im Inneren der Schattenkapsel knurrte es wie aus einem Tigerkäfig.

„Ich werde dich töten!“, fauchte Tassud mit seiner menschlichen Stimme, die mindestens eine halbe Oktave höher und viel weicher klang, als der kratzige Bass seiner Schattengestalt. „Lass mich raus, du Drecksack!“

Gregor lachte. „Sorry, ich fürchte, dafür bin ich viel zu schwach.“

Dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. Sie lag auf der Seite und hatte die Beine ein wenig angewinkelt wie ein schlafendes Kind. Gregor betrachtete sie eine Weile. Wie harmlos sie aussieht … Was immer für ein Geschöpf sich hinter dieser Fassade verbarg, es hatte sein Versteck gut gewählt.

Gregor gab sich einen Ruck, kniete sich neben sie und beugte sich über ihr Gesicht. An ihrer Wange hing immer noch diese eine Träne, glitzernd wie ein Tropfen aus Glas …

Gregor rang lange mit sich. Sollte er es wagen? Es war auf alle Fälle riskant, aber was blieb ihm schon übrig? Irgendjemand musste das Chaos hier aufräumen.

Langsam streckte er seinen Arm aus und fing die Träne vorsichtig mit dem Rücken seines Zeigefingers auf. Zitternd vor Aufregung leckte er daran – peinlich darauf bedacht, ja nichts zu schlucken – und spürte auf der Stelle sengende Hitze durch seinen Körper schießen. Wow, das Zeug hatte es in sich!

Gregors Fingerspitzen kribbelten vor Magie. Ihm war, als könnte er einen ganzen Wald ausreißen … oder aus dem Stand mindestens drei Suchsignale aussenden – aber das war ja jetzt nicht mehr nötig.

Behände sprang er auf die Füße und wechselte als Erstes die Gestalt zu einem glatzköpfigen Schwergewichtsheber. Aaaah! Das war schon viel, viel besser.

Nun berührte er die Stirn des Mädchens und belegte es vorsichtshalber mit einem tiefen Schlafzauber. So sanft er konnte, hob er sie mit einer Hand vom Boden und sammelte mit der anderen die Schattenkapsel ein.

„Hey, was tust du jetzt?“, schrie Tassud. „Wo bringst du mich hin?“

Gregor hatte Lust, die Kapsel mit aller Kraft gegen einen Baumstamm zu schleudern. Doch damit hätte er Tassud womöglich noch befreit, und für diese Nacht hatte er genug Scherereien gehabt. So begnügte er sich mit einem kleinen Kniescheibentritt.

„Halt die Klappe. Ich muss nachdenken.“

„Wo ist die Frau?“

„Auf meiner Schulter. Und jetzt Ruhe!“

„Dir ist schon klar, mit wem du es da zu tun hast?“, quakte Tassud. „Das ist kein normales Mädchen!“

„Was du nicht sagst, Eierkopf.“

„Sie wird dich vernichten! Befreie mich und überlass sie mir, ich kümmere mich um sie.“

„Haha, träum weiter.“

Daraufhin ließ Tassud eine wüste Schimpftirade auf Gregor los, doch dieser dachte nicht daran, weiter mit ihm zu diskutieren. Stattdessen befahl er munter pfeifend den Spuren des Brandes und des Kampfes, sich selbst zu beseitigen: Innerhalb von Sekunden flogen Erdbrocken von der Straße ins Gebüsch, richteten sich umgefallene Bäume auf, lösten sich die schwarzen Spuren des Feuers von den Rinden. Nur ein paar abgebrochene Äste ließ Gregor liegen, damit die Straße wie nach einem Sturm aussah – für die Menschen hier wohl die einleuchtendste Erklärung für den nächtlichen Krach. Anschließend machte er sich zufrieden auf den Weg.

Endlich!, dachte er. Endlich hat das Glück sich gewendet.

Jetzt durfte er es nur nicht vermasseln. Er würde mit seinem General Kontakt aufnehmen und um weitere Instruktionen bitten. Dann würde alles gut werden.

Itthona

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