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2~Kadence

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Was ist bloß in mich gefahren?

Dieser Satz echote während des ganzen Nachmittags durch Kadences Kopf. Sie dachte es, während sie den alten Mann in einen klapprigen Aufzug aus den fünfziger Jahren schob und mit ihm in den zweiten Stock fuhr. Sie dachte es, während sie ihm in seine parkettbelegte Wohnung folgte, die aus einem schmalen Flur, drei Zimmern, einem kleinen Bad mit Wanne und einer hellen Küche mit gelben Vorhängen bestand. Und auch jetzt, während sie sich im Wohnzimmer gegenübersaßen – Kadence in einem samtbezogenen Ohrensessel und der alte Herr in seinem Rollstuhl – und jeder seinen Tee schlürfte, fragte sich Kadence, was in aller Welt in sie gefahren war.

Unschlüssig, was sie sagen sollte, ließ sie den Blick über die Einrichtung wandern: Ein riesiger roter Perserteppich bedeckte den hellen, nach Bohnerwachs duftenden Parkettboden, auf dem sie saßen. In einer Ecke stand ein geschmackvoller Holzsekretär mit einer antiken Leselampe aus Messing. An der Wand reihten sich mehrere überquellende Bücherregale und sogar ein altes Jugendstilklavier mit Kerzenständern am Notenpult. Dort, wo keine Schränke waren, hingen Imitate von Monet-Gemälden – liebliche Sommerlandschaften in Pastellfarben. Der ganze Raum war dank der weiten Fenster lichtdurchflutet. Schön …

„Leben Sie alleine hier?“, durchbrach Kadence die Stille. Herr von Gundelstein nickte. Er wirkte ein wenig blass um die Nase, vielleicht stand er noch unter Schock. Womöglich litt er aber auch einfach an Blutarmut wie viele alte Menschen.

Wenn sie ihn sich so ansah, war das sogar wahrscheinlich: Der Arme war ja nur Haut und Knochen! Seine gründlich rasierten Wangen waren eingefallen und sein schütteres weißes Haar stumpf. Die kleinen, hellgrauen Augen jedoch funkelten vor Leben und Intelligenz.

„Haben Sie denn noch Angehörige in der Stadt?“, fragte Kadence weiter. Ihr war aufgefallen, dass nirgends Fotos aufgestellt waren. Herr von Gundelstein nippte an seinem Assam-Tee.

„Meine Verwandten sind bereits gestorben.“

„Was, Sie meinen alle?“

Der alte Mann zuckte derart zusammen, dass es Kadence sofort leidtat. „Entschuldigen Sie bitte, es geht mich natürlich nichts an.“

„Ach, es ist schon lange her. Ein Flugzeugunglück, wissen Sie.“

„Oje …“, hauchte Kadence, überwältigt von Mitgefühl. Armer alter Mann.

„Also haben Sie niemanden, der für Sie sorgt? Kommt nicht wenigstens der Pflegedienst vorbei?“

„Ich komme schon zurecht … Und Sie? Leben Sie hier mit Ihrer Familie?“

Kadences Magen verkrampfte sich. Sie lächelte bitter.

„Ach nein … Ich bin hier aufgewachsen, aber meine Eltern sind vor zwei Jahren nach Berlin gezogen, und mein Freund hat vor einer Woche mit mir Schluss gemacht.“

Sie hielt die Luft an. Zum hundertfünfzigsten Mal: Was war heute in sie gefahren? Hier saß sie im Wohnzimmer eines Wildfremden und vertraute ihm Dinge an, über die sie nicht einmal mit ihrer besten Freundin gerne sprach.

„Dafür habe ich jetzt einen Kater“, lächelte sie, um ihren Fauxpas wiedergutzumachen. Herr von Gundelstein zog eine seiner beweglichen weißen Augenbrauen in die Höhe.

„Tut mir leid, mit Schmerztabletten kann ich nicht dienen.“

Das brachte Kadence zum Lachen: „Aber nein, keine Kopfschmerzen. Ich meine, ich habe einen echten Kater. Eine männliche Katze. Sie heißt Bert. Martin … äh … mein Ex-Freund hat ihn mir sozusagen vererbt.“

„Sie haben wohl viel für die beiden getan.“

„Ach, Bert ist nicht sehr anspruchsvoll. Und Martin … tja …“

Kadence überlegte. Was konnte sie über Martin sagen?

Eigentlich kaum etwas. Dabei kannte sie ihn schon über ein Jahr. Sie sah ihre erste Begegnung vor sich, als wäre es erst gestern gewesen …

Damals hatte Martin als Assistenzarzt in der Psychiatrie angefangen, auf derselben Station, wo auch Kadence arbeitete.

„Oho!“, hatte Millie, ihre Kollegin und beste Freundin, gerufen, als sie seine stattliche Statur erblickten. „Ein Mister Anabolikum! Herr, beschütze uns …“

Kadence konnte ihren Hohn nicht teilen. Zwar hatte auch sie keine Vorliebe für Muskelprotze, doch Martin war … irgendwie nett. In den darauffolgenden Wochen nahm er sie oft beiseite, scherzte mit ihr und veräppelte jeden, der gemein zu ihr war. Bald fühlte sie sich in seiner Gesellschaft so sorglos und unbeschwert, dass sie am liebsten den ganzen Tag bei ihm gewesen wäre. Und ab da ging es mit ihr bergab.

Wenn Martin in der Nähe war, schien in Kadences Kopf ein Zahnrad zu blockieren: Sie wurde fahrig, ließ Nachttöpfe fallen, verwechselte Blutröhrchen und stach sich bei der Blutzuckerkontrolle in den eigenen Finger. Und als Martin ihr einmal vom Ärztezimmer aus zuzwinkerte, überfuhr sie mit einem leeren Patientenbett versehentlich Oberschwester Brunhilde.

„Kadence Isberg! Jetz’ hann isch aber die Faxen dicke! Du Dummbeidel wirschd uns noch alle umbringe!“, echauffierte sich die Oberschwester, während sie ihren breiten Hintern aus dem Wäschewagen befreite.

„Gibt es ein Problem, Mädels?“

Martin trat an die vor Bestürzung erstarrte Kadence heran und legte beschützend die Hand auf ihre Schulter. Bei seinem Anblick plusterte sich Oberschwester Brunhilde auf wie eine wütende Pute.

„Misch du dich da gefälligst net ein, Jungsche! Des isch unsre Saach!“

„Martin … ist schon gut …“, stammelte Kadence mit glühenden Wangen. Am liebsten wäre sie selbst in den Wäschewagen gekrabbelt.

„Nein, das hier ist alleine meine Schuld“, versicherte Martin ritterlich und drückte ihre Schulter, während er mit der anderen Hand das Bett lässig aus dem Weg schob.

„Ich habe Kadence abgelenkt, es tut mir sehr leid. Bitte schimpfen Sie nicht mit ihr.“

„Ähs hat sisch aber net ablenke zu lasse! Passen Sie nur uff, die wird uns alle umbringe! Fuffzehn Beschwerden alleine diesen Monat! Fuffzehn!“

„Nun seien Sie doch nicht so streng. Jeder hat mal eine schlechte Phase. Stimmt’s, Kady?“

An diesem Tag gingen sie das erste Mal miteinander aus und wurden sofort ein Paar.

Martin war für Kadence der sprichwörtliche strahlende Ritter in weißem Kittel. Sie hätte alles, und zwar wirklich alles für ihn getan. Wenn er abends etwas mit ihr unternehmen wollte, ging sie mit, egal, wie müde sie war. Als er eine schwere Magen-Darm-Grippe hatte, wachte sie drei Nächte lang an seinem Bett und steckte sich schlimmer an als er. Sie kochte für ihn, putzte seine Wohnung, fütterte seinen Kater und verteidigte ihn, wann immer jemand ein böses Wort über ihn verlor.

Das schloss auch Millie mit ein.

„Ich will dich ja nicht nerven“, begann diese, als sie sich eines Abends zum Feierabend umzogen. „Aber ich habe deinen Martin vorhin mit der blonden Neurologin in der Cafeteria sitzen sehen, und er hatte seine Stielaugen eine Etage tiefer als es mir gefällt.“

„Vielleicht hat er auf ihr Namensschild geschaut“, murmelte Kadence, während sie ihre Turnschuhe band – und einen der Schnürsenkel abriss.

Millie knabberte an ihrem kugelförmigen Unterlippenpiercing. „Kady … sei mir nicht böse, aber ich schwöre, der geht fremd.“

„Unsinn, so etwas würde er nicht tun.“

Plötzlich knallte neben Kadences Kopf die Spindtür zu.

„Verdammt, ich kann das nicht länger mit ansehen! Du bist dreiundzwanzig und könntest jeden haben! Doch dein Leben dreht sich nur um einen Typen, der sich durch die halbe Klinik vö…“

„Emilia!“

Millie schüttelte ihre blauschwarze Mähne und schnaubte.

„Okay. Dann sag mir mal, wann er das letzte Mal etwas für dich getan hat. Wann hat er dir Blumen mitgebracht? Oder ist mit dir irgendwohin gegangen, wo du hinwolltest?“

„Er lernt eben für seine Promotionsprüfung, Millie. Das ist eine wichtige und kritische Phase. Als seine Freundin muss ich darauf doch Rücksicht nehmen …“

„Dass ich nicht lache. Der Arsch nutzt dich nach Strich und Faden aus!“

Nun, im Nachhinein musste Kadence ihrer Freundin zugestehen, dass sie wohl mehr Menschenkenntnis besaß als sie. Wobei es in den letzten Wochen nicht einmal ihr selbst entgangen war, diese feine Distanz, die sich zwischen ihr und Martin gebildet hatte wie eine durchsichtige Wand …

Eines Tages erhielt sie eine SMS von ihm:

„Ich denke, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen“, schrieb er. „Du bist einfach zu gut für mich oder ich nicht gut genug für dich … Tut mir leid. Bert darfst du aber behalten. Der dicke Pastetenvernichter mag dich sowieso lieber als mich, und vielleicht tröstet er dich ein wenig. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, du findest dein Glück. Martin.“

Damit war das Thema für ihn erledigt – einfach so. Kadence hatte bis heute nicht begriffen, was da eigentlich passiert war. Aber langsam formte sich eine dunkle Ahnung in ihr.

„Ich weiß nicht“, murmelte sie, noch immer halb in Erinnerungen versunken. „Irgendwie schien er von mir enttäuscht … umso mehr, je besser er mich kennenlernte …“

Wie bitte?, donnerte Millie in ihrem Kopf. Bist du jetzt völlig übergeschnappt?

Kadence seufzte. Du verstehst das nicht, Millie. Ich wurde in jeder meiner bisherigen Beziehungen verlassen. Das Einzige, was diese Beziehungen gemeinsam hatten, war ich, also muss es irgendwie an mir liegen. Das ist doch ganz logisch.

Ein Räuspern holte Kadence in die Realität zurück – diesmal endgültig. Sie saß immer noch im stillen, lichterfüllten Wohnzimmer Herrn von Gundelsteins. Seine grauen Augen blickten in ihre – voller Mitgefühl und Ruhe, doch gleichzeitig derart durchdringend, als könnten sie in ihre Seele schauen.

„Verzeihen Sie …“, begann er sanft und faltete die knorrigen Hände im Schoß. „Ich hoffe, ich bin nicht indiskret, aber … gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie momentan allein leben?“

Kadence schluckte hart. Jetzt bloß nicht wieder heulen! Die vergangene Woche war schon schwer genug gewesen: Martin jeden Tag in der Arbeit zu sehen, mitzuerleben, wie er sich von ihr abwandte, um mit der neuen Praktikantin zu flirten …

„Ja“, krächzte sie. „Ich bin allein.“ So allein wie nie zuvor …

Herr von Gundelstein kramte in seiner Hosentasche und reichte ihr ein gefaltetes Baumwolltaschentuch, das sie dankbar annahm. Sie schnäuzte sich geräuschvoll.

„Entschuldigung, Sie haben selbst genug Probleme. Ich weiß gar nicht, weshalb ich Sie so vollschwatze.“

„Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Ich höre gerne zu.“

Die hellgrauen Augen lächelten freundlich … und wie von Zauberhand fühlte Kadence sich besser.

„Herr von Gundelstein …“, hörte sie sich sagen.

„Fräulein Isberg?“

„Sie hätten nicht zufällig Interesse an einer Krankenschwester?“

Der alte Herr machte große Augen. „Sie meinen, Sie wollen hier einziehen?“

Kadence stutzte. „Was? Nein, so habe ich das nicht gemeint! Ich … dachte, ich könnte einfach jeden Tag herkommen und ein bisschen für Sie kochen, den Haushalt erledigen und dabei nach Ihrer Gesundheit sehen.“

Herr von Gundelstein wirkte skeptisch.

„Hm … und was ist mit Ihrer momentanen Anstellung? Da gibt es doch bestimmt eine Kündigungsfrist?“

Kadence winkte ab. „Was das angeht, kann ich bestimmt mit Oberschwester Brunhildes Unterstützung rechnen.“

„Will diese Oberschwester Sie etwa so dringend loswerden?“

Kadence schoss das Blut in die Wangen.

„Nun ja, wenn ich ganz ehrlich bin, ist es so, dass ich manchmal … äh, etwas ungeschickt bin.“

Sie senkte den Blick auf ihre Tasse.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe niemals … einen Patienten gefährdet. Ich habe nur ein paar ärgerliche Fehler gemacht und neulich … einen Schrank umgestoßen … leider mit Medikamenten drin …“

„Verstehe.“

„Es waren an die zweihundert Glasampullen“, fuhr Kadence mit zitternder Stimme fort, „und als ich die Scherben aufsammeln wollte, habe ich mich ganz unglücklich geschnitten. Fragen Sie nicht, wie, aber irgendwie habe ich eine Pulsader erwischt und dann war alles voller Blut und die Praktikantin fiel in Ohnmacht und … ach, reden wir nicht mehr darüber.“

Falls überhaupt möglich, wirkte Herr von Gundelstein jetzt noch blasser als zuvor.

„Die Pulsader erwischt …“, hauchte er heiser, die Finger um die Armstützen seines Rollstuhls verkrampft. „Du meine Güte …“

Kadence zog den linken Ärmel ihres Pullovers zurück und brachte einen weißen Verband an ihrem Handgelenk zum Vorschein. „Ich erzähle Ihnen das, damit Sie nicht denken, ich hätte das absichtlich gemacht … ich mag ja gerade ein Tief durchmachen, aber so etwas würde ich niemals absichtlich tun, verstehen Sie? Ich will in Zukunft auch besser aufpassen, aber bitte, bitte stellen Sie mich ein!“

Herr von Gundelstein riss seinen Blick von ihrem Handgelenk los. Er befeuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge, dann schenkte er Kadence ein breites Lächeln.

„Wann könnten Sie denn anfangen?“

Itthona

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