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10~Balthasar
ОглавлениеWenn jemand Balthasar gefragt hätte, was er am wenigsten an sich mochte, hätte er die Antwort sofort gewusst: Es war seine Neugierde – dieses schreckliche, juckende Gefühl, das sein unersättlicher Verstand heraufbeschwor, um mit Informationen gefüttert zu werden. Die Vernunft mochte protestieren, unterlag jedoch meist kläglich und überließ Balthasar den blödesten Ideen. Selbst sein Vampirismus war ein Resultat davon:
Anno 412 sandte Balthasars damals noch etwas unkultivierter Verstand die Neugierde aus, um herauszufinden, wie wohl die nackten Schenkel der blutjungen Nachbarstochter aussahen. Die verflixte Neugierde trieb den unschuldigen, damals 78-jährigen Balthasar auf das Dach einer Scheune, wo die schamlose Neugierde die begehrte Information zu erhalten hoffte.
Doch statt Fräulein Sieglinde durch das Fenster zu erblicken, rutschte Balthasar vom Dach, landete hart auf dem Hintern und verletzte sich die Wirbelsäule. So lag er in der darauffolgenden Nacht bewegungsunfähig im Bett, als plötzlich ein besoffener Vampir durch sein Fenster flatterte und ihm mir nichts, dir nichts in seinen rechten Gichtzeh biss.
Die Angelegenheit stellte sich rasch als Versehen heraus: Auch der Vampir hatte das Zimmer des Fräulein Sieglinde angepeilt. Er bedauerte seinen Irrtum zutiefst (er spuckte, als hätte er an einer Kröte geleckt), doch es war zu spät: Balthasar verlor das Bewusstsein, und als er wieder aufwachte, hatte er vier stummelige Reißzähne – nach fünfundzwanzigjähriger Zahnlosigkeit!
Von dieser winzigen Verbesserung abgesehen hatte die Verwandlung nur einen Effekt, nämlich Balthasars alten, verkrüppelten Körper für die Ewigkeit zu konservieren. Nie wieder würde er auf Dächer klettern können. Nie wieder würde er etwas spüren – bis auf diesen abscheulichen Blutdurst. Es schüttelte Balthasar immer noch, wenn er an seine ersten Wochen als “Jungvampir“ dachte. Erst, als er die lindernde Wirkung des Rotkohls entdeckte, wurde seine Lage erträglicher – mehr aber auch nicht.
Die erniedrigende Hilflosigkeit der darauffolgenden Jahrhunderte, das Gefühl, den Menschen lästig zu sein, die quälende Langeweile, die Angst, entlarvt zu werden, das endlose Nomadenleben voller Tode, die er nicht gestorben war … all dies hatte Balthasar einzig und allein seiner Neugierde zu verdanken.
Und sie war noch lange nicht fertig mit ihm …
Es war exakt zwei Uhr sechsunddreißig, als er seine lange Nase um die Ecke seiner Schlafzimmertür steckte und den Blick misstrauisch durch den Flur schweifen ließ: Alles war dunkel und ruhig – abgesehen vom Schnarchen des Katers, der als rundes, graues Etwas auf dem untersten Plüschplateau des Kratzbaumes seiner Lieblingsbeschäftigung nachging. Balthasar mochte eigentlich keine Haustiere, aber Bert mochte er. Unter anderem auch, weil der Kater Hauptmann Gregor nicht mochte, nicht einmal in seiner lächerlichen, kulleräugigen Greta-Gestalt. Das Tier musste eine ungeheuer gute Menschenkenntnis haben – eine Eigenschaft, die es mit Balthasar teilte.
Balthasar hatte Gregor von Anfang an misstraut. Obwohl er ihn bei sich wohnen ließ, hielt er ihn für einen hitzköpfigen, arroganten, unverschämten Flegel, der plante, Kadence zu manipulieren und für Militärzwecke zu missbrauchen. Nicht, dass es Balthasar sonderlich interessiert hätte, was aus Kadence wurde. Aber was Gregor tat, verletzte sein Anstandsgefühl.
Sicher, Balthasar hatte in seinem langen Leben unzählige Frauen erobert, jedoch nie unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Selbst als er – noch vor seiner Rotkohlära – versuchte, die Hälse junger Mägde zu erreichen, hatte er die Mädchen nie mit Liebesschwüren oder glühenden Blicken eingelullt. Er hatte gewartet, bis sie ihm den Rücken zukehrten, und sie dann mit einem Knüppel niedergestreckt. Schonend und respektvoll, ohne Heuchelei und verletzte Gefühle.
Nun war Kadence zwar eine Plage biblischen Ausmaßes, die nichts als Chaos verursachte. Aber sie wohnte unter Balthasars Dach, und so fühlte er sich für sie verantwortlich. Viel konnte er in seiner Lage nicht tun. Doch er konnte dafür sorgen, dass ihm nichts Wesentliches entging.
Vorsichtig schob er sich in den Flur, vorbei an der Wohnzimmertür, hinter der Gregor alias Greta auf einem aufklappbaren Gästebett schlief – eines der vielen nutzlosen Dinge, die Kadence hergebracht hatte. Sich selbst hatte das Mädchen im kleinsten Raum der Wohnung einquartiert, dem Zimmerchen zwischen Eingangstür und Küche. Balthasar hatte diesen Raum immer als Abstellkammer genutzt. Da er aber keine Hemmungen hatte, alte Sachen wegzuwerfen – was in seiner Lage von großem Vorteil war – und auch nie kopflos einkaufte, war der Raum bis auf ein altes Bett, einen schmalen Eichenschrank und ein paar Kisten mit alten Büchern praktisch leer gewesen. Früher einmal. Balthasar betrachtete die weiß lackierte Tür mit einem tiefen Seufzer. Dann wandte er sich ab und rollte zur Eingangstür.
„Hey!“
Balthasar zuckte zusammen. War er etwa schon aufgeflogen?
„Pssst, Hey! Hier unten!“
Zu seiner Erleichterung erblickte er die schwarzen Umrisse des Plüschbären, der zu seinen Füßen neben dem Eingang saß.
„Wo willst du hin?“
Balthasar knurrte. „Habe ich jetzt schon Wachposten vor meiner Tür? Darf ich meine eigene Wohnung nicht verlassen?“
„Kommt drauf an. Wo willst du hin?“
„Das sage ich dir nicht. Es ist geheim.“
„Gehst du auf Beutezug?“
Balthasar beschloss, auf derartige Frechheiten nicht einzugehen.
„Nimm mich mit!“, flehte der Bär. „Mir ist so langweilig.“
„Dann schlaf doch wie jeder normale … äh … Teddy um diese Zeit.“
Tassud schnaubte. „Sehr witzig. Hast du schon mal versucht, ohne Körper zu schlafen?“
Balthasar öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Das hatte er in der Tat noch nicht.
„Ich muss hinaus, ich habe etwas zu erledigen“, erklärte er barsch.
„Nimm mich mit!“, fiepte der Bär.
„Nein, nein und nochmals nein!“
„Nimm mich mit oder ich schreie!“
Ein weicher Nachtwind streichelte Balthasars Wangen, als er und der Bär das kleine Backsteinhaus verließen und zwischen blühenden Magnolien durch den schmalen Vorgarten rollten.
„Was siehst du?“, wollte Tassud wissen.
Es muss wirklich unangenehm sein, die ganze Zeit in einem schwarzen Ei herumzugeistern, überlegte Balthasar. Noch viel schlimmer, als ewig an einen Rollstuhl gefesselt zu sein.
„Wir fahren gerade auf den Bürgersteig hinaus“, erklärte er, „und jetzt biegen wir nach links in Richtung Waldstadion ab.“
Abgesehen von den zarten, schwach belaubten Lindenästen, die im Wind hin und her wippten, rührte sich nichts auf der Straße. Die hohen Laternen beleuchteten mit ihrem bleichen Schein wie üblich sich selbst und sonst nichts.
„Eine richtige Nacht-und-Nebelaktion!“, freute sich Tassud. „Ist das nicht zufällig ein Umweg zum Bahnhof? Ich müsste nämlich dringend mal einen Abstecher nach Hamburg machen …“
„Was willst du denn dort?“
„Hm, nichts Wichtiges. Nur dafür sorgen, dass mein Körper nicht verhungert und so.“
Das war eine interessante Information, doch Balthasar war zu abgelenkt, um weiter über sie nachzudenken. Er spähte in die Ferne. Ja, da hinten an der Kreuzung war es gewesen. Vielleicht gab es ja noch Spuren auf dem Asphalt? Oder irgendetwas anderes, das ihm half, sich besser zu erinnern …
„Hey, ich hab dich was gefragt. Hörst du mir überhaupt zu?“
„Weshalb bittest du nicht Gregor, dich hinzubringen?“, murmelte Balthasar abwesend, während er immer noch die Kreuzung betrachtete. Tassud stöhnte frustriert.
„Hast du denn nicht verstanden, was ich dir vergangene Nacht erklärt habe? Gregor und ich sind Offiziere befeindeter Staaten. Eher würde er auf meinem Grab die silvestrianische Hymne tanzen, als mir zu helfen, meinen minderwertigen bergländischen Körper zu retten.“
„Dennoch wart ihr früher befreundet.“
Tassud schwieg einen Moment. „Hat Gregor dir das erzählt?“
„Mein lieber Junge, ich hatte über tausendsechshundert Jahre Zeit, das Wesen der Menschen zu erforschen. Da kriegt man einiges mit.“
„So alt bist du schon? Ist ja irre!“
Dieser naive Ausruf klang so ehrlich beeindruckt, dass Balthasar sich dazu hinreißen ließ, dem Bären großväterlich den Kopf zu tätscheln. „Also was ist nun mit Gregor?“
„Er wird mir nicht helfen, Balthasar, dazu ist er viel zu nachtragend. Dass ich ihm aus Hamburg gefolgt bin, hat ihn gar nicht gefreut.“
„Und was ist mit Kadence? Kann sie dir nicht helfen? Gregor hat gesagt, sie hätte dich in dieses Ei gesperrt.“ Was sich vorzustellen Balthasar immer noch nicht in der Lage war.
„Schattenkapsel, nicht Ei“, verbesserte Tassud. „Und nein, sie kann mir nicht helfen, da sie nicht bei Bewusstsein war, als sie es getan hat. Im Grunde hat sie es nicht einmal selbst getan, sondern ihr Schutzgeist.“
Balthasar hielt den Rollstuhl an. „Ihr Schutz-was?“
„Der Schutzgeist ist eine Art Leibwächter, den manche mächtige Magier in unserer Welt besitzen. Wird der Magier unerträglichem psychischen oder physischen Stress ausgesetzt, schaltet sich sein Bewusstsein aus, und der Schutzgeist übernimmt die Kontrolle über seine Kräfte.“
„Du meinst, wie ein Autopilot?“
„Genau. Einer, der darauf aus ist, jede potenzielle Bedrohung kompromisslos auszulöschen. Deshalb hat Greg solche Angst, Kadence unvorbereitet in unsere Welt mitzunehmen.“
Ach so war das … gedankenversunken gab Balthasar den Rädern einen Schubs, sodass der Rollstuhl sich weiterbewegte. Erst als sie bei der Kreuzung ankamen, hielt er erneut an, um sich umzusehen.
Ja, hier war es gewesen. Dort drüben war Gregor gefallen und hatte Kadence mit sich gerissen … und der Wagen war aus Richtung Stadtmitte gekommen: Ein großes sandfarbenes Taxi, gebaut in den Sechzigern, wenn Balthasar sich nicht irrte, mit runden Scheinwerfern, breiten Kotflügeln, Stufenheck und verdunkelten Rückbankfenstern. Das Taxi war haarscharf an Kadence vorbeigesaust, genau in dem Moment, als Gregor an ihrer Hand zog. Danach war es mit röhrendem Motor auf den Hügel zum Wald gerast und verschwunden.
Was jedoch nicht verschwunden war, war eine Momentaufnahme in Balthasars Kopf: Die Zehntelsekunde, als das Taxi an ihm vorbeifuhr und er einen Blick auf den Oberkörper des Fahrers erhaschte. Es war das Merkwürdigste, was er jemals in seinem Leben gesehen hatte – und er hatte in seinem Leben wirklich schon einiges gesehen.
Balthasars Gedanken wuselten durcheinander wie ein Schwarm Kaulquappen in einer winzigen Pfütze. Sollte er Tassud in seinen Verdacht einweihen? Wieso eigentlich nicht? Schließlich waren sie beide die Opfer hier. Und natürlich Kadence …
„Wir fahren ja gar nicht weiter“, stellte der Bär gerade fest, da fasste sich Balthasar ein Herz: „Tassud, ich glaube, ich weiß, was hier passiert ist.“
Er schloss die Augen und rief sich das Bild genau ins Gedächtnis: Ein schmaler, schwarzblauer, metallisch schimmernder schuppiger Arm, eine lange dünne Schnauze mit unzähligen spitzen Zähnen … und riesige gelbe Augen mit Schlitzpupillen …
„Toll, das freut mich für dich. Und was ist hier passiert?“
„An dieser Kreuzung ist Kadence heute fast überfahren worden“, entgegnete Balthasar, ohne auf Tassuds quengeligen Ton einzugehen. „Und zwar mit Absicht. Ich glaube, Gregor hat das alles arrangiert, um vor Kadence als Held dazustehen …“
Tassud unterbrach ihn: „Nein!“
„Wieso nicht?“
„Weil ich Greg kenne. Er ist ein Spinner, der alle möglichen blöden Pläne ausheckt. Aber so etwas würde er nicht tun. Wie kommst du überhaupt darauf?“
Balthasar beschrieb ihm den Fahrer des Taxis, doch Tassud ließ ihn kaum ausreden.
„Ein schwarzes, echsenartiges Wesen, sagst du?“ Zu Balthasars Überraschung klang er alles andere als unerfreut. „Aber … das hieße ja …“
„Gute Nacht, die Herren.“ Vor Schreck schleuderte Balthasar beinahe den Bären in die Luft. Hastig wendete er seinen Rollstuhl … und fand sich einer jungen Frau etwa in Kadences Alter gegenüber. Mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen saß sie auf dem Dach eines parkenden Autos. Sie trug einfache Jeans, Turnschuhe und eine graue Kapuzenjacke. Ihr kinnlanges, helles Haar schimmerte beinahe weiß im fahlen Laternenlicht. Eigentlich sah sie wie eine alltägliche Studentin aus … wären da nicht diese strahlend blauen Augen gewesen, die mit scharfem Blick auf Balthasar hinabfunkelten – zwei grelle Farbtupfer in einer schwarzgrauen Welt.
„Eu … Eure Königliche Hoheit!“, fand Tassud seine Sprache wieder.
„Tassud. Wie ich gehört habe, bist du in einer misslichen Lage“, erwiderte das Mädchen mit samtiger, erstaunlich dunkler Stimme.
„Ich … nun ja … es haben sich einige unerwartete Wendungen ergeben, und d… die Dinge sind etwas aus dem Ruder gelaufen.“
„Schon gut, du brauchst es nicht zu erklären. Nachdem wir erfuhren, dass Gregor sich hier in Homburg aufhält, habe ich einen Spion auf ihn angesetzt. Er beobachtet euch und erstattet mir engmaschig Bericht.“
„Das heißt … Ihr wisst von Prinzessin Kadence?“
Das Gesicht des Mädchens zeigte keinerlei Regung.
„Mein Spion hat mir mitgeteilt, was vergangene Nacht geschehen ist. Und dass dieses Mädchen mir wohl verblüffend ähnlichsieht.“
Das nun nicht, dachte Balthasar. Vielleicht die Augen und die Figur. Kadences Gesicht war jedoch schmaler und ihr Kinn nicht so spitz. Plötzlich sprang der Blick des Mädchens – das offenbar tatsächlich Esther, die große bergländische Königin, war – auf Balthasar, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
„Und du bist also der berühmte Vampir im Rollstuhl, der meine kleine Schwester beherbergt?“
Balthasar wollte gerade erwidern, dass er völlig unschuldig sei, ganz gleich, was man ihm vorwerfe, da stutzte er. Hatte sie gerade berühmt gesagt?
„In unserem Palast bist du seit gestern in aller Munde. Ich war schon sehr neugierig auf dich.“
Balthasars Verblüffung war so groß, dass er bloß zu einer angedeuteten Verbeugung imstande war. Aber dann fiel ihm doch etwas zu sagen ein:
„Eure Hoheit, vergangenen Nachmittag ist hier ein großes Taxi mit einem merkwürdigen Chauffeur vorbeigefahren.“
Esther lächelte, was ihren katzenhaften Zügen etwas an Schärfe nahm.
„Richtig, das war Heinrich, ein Mitglied meiner privaten Leibgarde. Ich bitte um Verzeihung, falls er euch erschreckt haben sollte, sowohl was sein Aussehen als auch seinen Fahrstil betrifft. Er hat seinen Führerschein noch nicht lange.“
Sie neigte höflich den Kopf.
„Oh, nicht der Rede wert. Es ist ja nichts passiert.“ Balthasar lachte nervös und machte eine wegwerfende Handbewegung. So was, die Echse hatte einen Führerschein?
„Eure Hoheit“, meldete sich nun wieder Tassud zu Wort. „Verzeiht die Unterbrechung, aber würdet Ihr die große Freundlichkeit besitzen, mich aus dieser Schattenkapsel zu befreien? Dann könnte ich Euch wieder nützlich sein.“
„Aber du bist mir sehr nützlich, Tassud – und zwar genau dort, wo du bist.“
„Ich verstehe nicht ganz …“ Tassuds Stimme zitterte.
„Falls diese junge Frau wirklich meine Halbschwester ist, können wir gar nicht genug Männer in dieser Wohnung haben. Würde ich dich dort rausholen, müsste ich dich hinterher wieder einschleusen.“
„Aber … mein Körper …“, stammelte Tassud mit ersterbender Stimme. Esthers Lächeln wurde weich, beinahe liebevoll.
„Mach dir darüber keine Gedanken, für deinen Körper ist gesorgt. Wir haben ihn längst nach Hause zu deiner Frau gebracht. Sie pflegt ihn, bis er dich wiederhat.“
Balthasar hörte förmlich den Stein von Tassuds Herzen plumpsen. Gleichzeitig wunderte er sich: Tassud war also verheiratet …
„Dennoch, wie könnte ich hier behilflich sein?“, wandte der Bergländer jetzt ein. „Ich kann mich nicht bewegen, nichts sehen, zu niemandem, der außer Hörweite ist, Kontakt aufnehmen.“
Esther glitt elegant vom Autodach, trat an den Rollstuhl heran und beugte sich über den Bären. Ihr zarter Wildblumenduft umhüllte Balthasar wie ein lieblicher Zauber.
„Natürlich kannst du behilflich sein“, versicherte sie. „Du musst unserem Freund hier bei dem, um was ich ihn bitten werde, zur Seite stehen.“
Sie lächelte Balthasar freundlich an, und er musste seinen ersten Eindruck revidieren: Sie war doch schön, wenn auch nicht gerade sein Typ.
„Worum wollt Ihr mich denn bitten?“, fragte er vorsichtig.
Esther hob die leere Hand in die Höhe, wo sogleich wie aus dem Nichts ein kleines rundes Metallkästchen erschien.
„Diese Schatulle beinhaltet genau zwei Dinge: eine magische Glocke und ein Dutzend Kapseln, die den Schutzgeist blockieren.“
„Hadeskapseln …“, hauchte Tassud.
Balthasar hob die Augenbrauen. Tabletten und sonstigem Medizinerkram hatte er schon immer misstraut, daher war er auch nicht sonderlich begeistert, als Esther ihm das Kästchen in die Hand drückte.
„Ich habe keine Eltern mehr“, flüsterte sie unvermittelt. „Meine Schwester ist die einzige Angehörige, die mir noch geblieben ist. Du wirst sicherlich verstehen, dass ich sie bei mir haben möchte?“
Balthasar nickte etwas einfältig. Esther umfasste seine knotigen Finger mit ihrer schmalen, weißen Hand und schloss sie behutsam um das Kästchen.
„Ich möchte dich bitten, meiner Schwester in einem günstigen Zeitpunkt eine dieser Kapsel zu verabreichen und anschließend mit der Glocke zu läuten. Meine Männer werden dann kommen und sie zu uns nach Hause holen, wo sie hingehört. Dann werde ich ihr alles in Ruhe erklären.“
„Und ihr Schutzgeist?“, fragte Tassud.
„Den befreien wir, sobald wir sicher sein können, dass sie niemandem Schaden zufügen wird.“
„Und das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass Kadence Euch helfen könnte, Euren Krieg zu gewinnen?“, hakte Balthasar, von Natur aus misstrauisch, nach.
„Balthasar!“, stieß Tassud aus. „Nehmt es Euch nicht zu Herzen, Eure Hoheit, er ist nur ein dummer, alter Vampir und weiß nicht, wie man mit einer Königin redet.“
Zur Überraschung beider brach Ihre Majestät in leises Gelächter aus.
„Schon gut, Tassud, du brauchst ihn nicht zu schützen. Er kennt mich nicht und macht sich Sorgen um seine Pflegerin. Das ehrt ihn.“
Balthasar wollte gerade protestieren, entschied sich jedoch im letzten Moment dagegen. Zu sagen, dass ihm Kadence eigentlich egal war, würde vor ihrer Schwester vielleicht kein so gutes Licht auf ihn werfen.
Esther wurde wieder ernst. Sie beugte sich vor und versenkte ihren Blick tief in Balthasars Augen.
„Ich verspreche dir, dass es mir hier nicht um den Krieg geht, sondern wirklich um Kadence als meine Schwester. Und Tassud wird dir bestätigen können, dass ich zu meinem Wort stehe.“
„Das steht völlig außer Zweifel!“, versicherte Tassud ergeben.
„Also machst du es?“ Wo sie ihn so offen und hoffnungsvoll ansah, fand Balthasar keinen Grund mehr, ihre Bitte abzuschlagen. Immerhin hatte sie recht: Sie war Kadences Schwester, und ein unverheiratetes Mädchen hatte seinen Platz immer noch bei seinen Blutsverwandten.
„Also schön, ich mache es. Aber es wird nicht einfach sein, Gregor lässt sie kaum aus den Augen.“
Esther lächelte ihn dankbar an. „Ich bin mir sicher, du findest einen Weg.“
Sie richtete sich auf und schnipste mit dem Finger. Unverzüglich raste ein großes Auto mit quietschenden Reifen um die Ecke – das Taxi vom Nachmittag. Wie von Geisterhand öffnete sich die hintere Tür vor Esther.
„Ich wünsche euch viel Erfolg“, sagte sie würdevoll, ehe sie im schwarzen Bauch des Wagens verschwand.
„Wir werden unser Bestes geben, Eure Hoheit“, versicherte Tassud dienstbeflissen. Balthasar war sich sicher, dass er ordentlich gebuckelt hätte, wäre er nicht körperlos gewesen. Zum Glück war er es …
„Ist sie nicht hinreißend!“, schwärmte er, nachdem sich die Tür geräuschlos geschlossen und das Taxi schlingernd und mit brüllendem Motor erneut hinter dem Hügel Richtung Wald verschwunden war. „Mich wundert bloß, woher sie wusste, dass wir herkommen würden …“
Einige Sekunden grübelten sie über diese Frage. Dann riefen sie wie aus einem Mund: „Der Spion!“
„Jetzt haben wir gar nicht gefragt, wer es ist“, ärgerte sich Balthasar.
„Mich würde auch interessieren, weshalb Gregor seine Aura nicht spürt. Er muss sich sehr gut getarnt haben …“
„Vielleicht ist es ein freier Geist …“, überlegte Balthasar.
Tassud hatte noch eine andere Idee: „Bestimmt ist es Bert.“
Das brachte sie zum Lachen.
„Dann schon eher die tote Spinne an der Küchendecke“, prustete Balthasar. „Oder die wackelige Kachel an der Badezimmerwand.“