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8~Kadence

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Ein kühler Wind strich über Kadences Wange und machte ihr eine Gänsehaut. Hatte sie das Fenster offengelassen? Benommen stemmte sie sich gegen die Unterlage, bis sie aufrecht saß, streckte sich und rieb ihre Augen.

Dann sah sie sich um. Sie hockte auf einem zerwühlten Bett in einem kleinen, weiß gestrichenen Zimmer. Gegenüber befand sich ein gekipptes Fenster, vor dem sich weiße Spitzenvorhänge bauschten. Dahinter bot sich Kadence offene Sicht auf den strahlend blauen Himmel. So was, dachte sie. Habe ich etwa verschlafen?

Da entdeckte sie die zerbeulten Umzugskisten neben dem Bett.

Oh nein! Ich habe noch gar nicht aufgeräumt!

Geschwind sprang sie aus dem Bett, um sich anzuziehen, und stellte fest, dass sie bereits angezogen war. Moment mal … wie war sie eigentlich hierhergekommen? Sie erinnerte sich, dass sie vergangene Nacht gegen halb zehn Bert mit dem Fahrrad herbringen wollte. Das musste sie auch getan haben, denn Bert lag zu einer Kugel zusammengerollt auf dem Fußende ihrer Matratze und schlief friedlich. Seltsam …

Kadence kletterte aus dem Bett und verließ das Zimmer, um nach Herrn von Gundelstein zu sehen. Als sie in den Flur trat, schämte sie sich: Was für ein Durcheinander sie und Millie hinterlassen hatten!

Sie fand den alten Herrn in seinem Wohnzimmer, wo er, wie üblich, vor dem Fenster saß und grüblerisch auf die Straße hinaussah. Kadence hatte ihn noch nie außerhalb seines Rollstuhls gesehen, aber bisher hatte sie die Wohnung auch immer um spätestens sieben Uhr abends verlassen.

„Guten Morgen“, grüßte sie schüchtern. Herr von Gundelstein fuhr ein Stück rückwärts und wendete seinen Rollstuhl, sodass er ihr gegenübersaß.

„Guten Morgen, Kadence. Haben Sie gut geschlafen?“

Irgendetwas in seinem Blick irritierte Kadence – eine Mischung aus Interesse und Misstrauen, die sie von ihm nicht kannte.

„Ja, danke, viel zu gut. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung, ich werde hier gleich aufräumen. Aber zuerst mache ich uns Frühstück … Wie spät ist es denn?“

„Halb zwölf, aber machen Sie nur.“

„Was?“

Entsetzt stürmte Kadence ins Bad, wobei sie über einen Nähkasten stolperte, der mitten im Flur lag. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihren ganzen Haushalt hierher zu schleppen? Wo sollte sie all das Zeug hintun? Sie richtete mal wieder mehr Chaos an, als dass sie eine Hilfe war … aber nicht mehr lange.

Nachdem sie sich rasch um ihre Toilette gekümmert hatte, kochte sie Kaffee, setzte Suppengemüse auf und packte anschließend die Kisten aus. Sie wollte eben beginnen, sich einzurichten, da klingelte es an der Tür.

„Machen Sie bitte auf, Kadence? Ich klemme hier gerade fest.“

Flink hüpfte Kadence auf die Füße, eilte zur Eingangstür und blickte durch den Türspion. Doch der Flur war leer. Wahrscheinlich hatte sich jemand in der Tür geirrt. Sie war im Begriff sich umzudrehen, als es erneut klopfte.

„Hallo?“, erklang ein hohes Stimmchen. „Ist jemand zu Hause?“

Als Kadence die Tür öffnete, staunte sie: Vor ihr stand ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, und lächelte sie fröhlich an.

Ihr Gesicht war rund, mit einer kleinen Stupsnase ausgestattet und von langen, dunkelblonden Locken umrahmt. Sie trug ein rosafarbenes Blümchenkleid, das knapp über die Knie reichte, und gleichfarbige Lackschuhe mit Häschen-Muster und „Honeybunny“-Aufschrift. In ihrer rechten Hand hielt sie die Tatze eines karamellbraunen, knopfäugigen Plüschbären, der so groß war, dass sie ihn hinter sich herschleifen musste. Doch all das war es nicht, was Kadence völlig in den Bann zog. Es waren die Augen des Mädchens: groß und strahlend grün wie junger Klee.

Ein Bild zuckte wie ein Déjà-vu durch Kadences Kopf. Doch ehe sie es fassen konnte, rieselte es wie Sand durch die Maschen ihres Verstandes und verschwand in ihrem Unterbewusstsein.

„Bin ich hier richtig bei Balthasar von Gundelstein?“, fragte das Mädchen. Es schien etwas verunsichert, und Kadence ärgerte sich über sich selbst.

„Ja, bist du. Ich bin seine Krankenschwester Kadence. Was kann ich für dich tun?“

Das Mädchen lächelte erleichtert.

„Mein Name ist Greta Schäfer. Ich bin hier, um meinen Opa zu besuchen.“

„Deinen Opa?“

Herr von Gundelstein sagte doch, er hätte keine Verwandten mehr, wunderte sich Kadence. Nichtsdestotrotz trat sie zur Seite, um dem Mädchen Platz zu machen.

„Wenn das so ist, komm nur herein.“

Das Mädchen zupfte noch einmal sein Kleidchen zurecht, dann tapste es an Kadence vorbei in die Wohnung. Kadence folgte ihr neugierig ins Wohnzimmer.

„Herr von Gundelstein, Sie haben Besuch.“

Der alte Herr wandte sich vom Fenster ab und musterte das Kind. Greta strahlte ihn an.

„Opa!“ Sie ließ ihren Bären los, rannte durch das Zimmer und sprang ihm auf den Schoß. „Ich bin so froh, hier zu sein!“, jauchzte sie, während sie seinen Hals umklammerte. „Es ist schon soooo lange her!“

„Ist ja gut, ist ja gut. Ich freue mich ja auch“, murmelte Herr von Gundelstein und tätschelte etwas unbeholfen ihren Arm. Er schien jedoch nicht überrascht, wie Kadence auffiel. Wo wohl die Eltern des Kindes waren?

„Kann ich dir etwas anbieten, Greta?“, fragte sie. „Einen Kakao? Oder Orangensaft?“

„Au jaaaa, ein Kakao wäre fein!“

Kadence machte sich auf den Weg in die Küche. Dabei trat sie aus Versehen auf den Plüschbären.

„Aua!“, rief der Bär.

„Keine Angst“, sagte Greta, als Kadence erschrocken zur Seite sprang. „Das ist nur ein Sprachchip. Er hat tausend Worte gespeichert, die er wahllos ausplappert, und manchmal passt es eben zufällig in den Kontext.“

Kadence hob den Bären in die Höhe und betrachtete ihn aus der Nähe. Ganz schön schwer, das Teil.

„Hat er denn einen Namen?“

„Er heißt Tassilo. Mein Ziehvater hat ihn mir zum siebten Geburtstag geschenkt. Der ist nämlich Elektroinstrukteur.“

„Du meinst wohl Elektroingenieur“, verbesserte sie Herr von Gundelstein.

„Ja, genau! Du bist so klug, Opa. Ich hoffe, ich werde irgendwann auch mal so klug.“

Herr von Gundelstein schniefte. „Wohl kaum …“

„Was sagen Sie denn da?“, rief Kadence empört. „Natürlich wird Greta klug! Sie ist es ja jetzt schon. Welches andere Kind in ihrem Alter kennt schon das Wort ‚Kontext’?“

Doch das Malheur war schon geschehen: Gretas Gesicht wurde tiefrot. Schüchtern nestelte sie an ihrem Blümchenkleid herum. „Ach, das Wort habe ich bloß irgendwo aufgeschnappt … Ich weiß gar nicht, was es bedeutet.“

Kadence hatte tiefes Mitleid mit ihr. Was war nur mit Herrn von Gundelstein los? So unsensibel kannte sie ihn gar nicht – und dann auch noch seiner kleinen Enkelin gegenüber.

„Komm, wir setzten uns in die Küche, und ich mache uns einen schönen Kakao“, lächelte sie Greta ermutigend zu. „Möchten Sie sich uns anschließen, Herr von Gundelstein?“

„Nein, danke, geht ihr nur. Ich bleibe lieber hier am Fenster …“

Kadence seufzte, nahm Gretas Hand und bugsierte sie zusammen mit dem Teddy in die Küche.

Wenige Minuten später saßen sie und das Mädchen einander mit dampfenden Tassen gegenüber und pusteten und schlürften einträchtig vor sich hin. Gretas Beine waren so kurz, dass ihre Füße über dem Boden baumelten. Doch im Gegensatz zu anderen Kindern strampelte sie nicht damit herum, sondern ließ sie artig hängen.

„Du bist sehr nett“, meinte sie auf einmal.

Kadence lächelte erfreut. „Danke, du bist auch sehr nett. Wie alt bist du?“

„Ich werde diesen Sommer neun. Und du?“

„Ich werde nächsten Winter vierundzwanzig.“

„Hm … meinst du, Opa freut sich, dass ich da bin?“

Kadence hätte gerne bejaht, war sich aber nicht sicher. Allerdings hatte Herr von Gundelstein auch nicht gerade gejubelt, als sie, Kadence, zugestimmt hatte, bei ihm einzuziehen. Vielleicht gehörte er zu den Leuten, die ihre Freude nicht offen zeigen konnten?

„Er schien zumindest nicht unglücklich, oder?“, antwortete sie ausweichend und beschloss, das Thema zu wechseln. „Du hast gesagt, du hast einen Ziehvater? Wo ist er denn jetzt?“

Greta senkte traurig den Blick.

„Er ist in New York auf einer Geschäftsreise. Das macht er öfter, und ich kann ja nicht für einen Monat alleine in unserer Wohnung in Hamburg bleiben.“

„Ja, aber was ist denn mit der Schule?“

Greta zuckte mit den Achseln.

„Ich habe zwei Wochen Osterferien, und für die restliche Zeit schreibt mir Papa eine Entschuldigung … Normalerweise bringt er mich zu seiner Mutter, wenn so etwas passiert, aber der geht es momentan nicht so gut. Deshalb hat Papa mich und Tassilo in einen Zug gesteckt, damit ich hierher zu Opa komme.“

Kadence war zutiefst schockiert. So ein kleines Mädchen alleine auf eine so lange Zugfahrt zu schicken … Das war mehr als verantwortungslos. Irgendjemand musste sich diesen Ziehvater mal vorknöpfen, soviel war klar.

„Ich wünschte, ich könnte noch bei meinen richtigen Eltern wohnen“, flüsterte Greta. Ihre Unterlippe bebte, dass es Kadence das Herz auswrang. Sie rückte näher an das Mädchen heran und streichelte sanft über ihr blondes Haar.

„Weißt du, ich habe meine Eltern auch verloren, als ich noch ganz klein war.“

Greta sah sie groß an. „Wirklich? Was ist denn passiert?“

Kadence lächelte wehmütig. „Keine Ahnung. Ich war so klein, dass ich mich an überhaupt nichts erinnern kann. Meine zweiten Eltern haben mich adoptiert, als ich ein halbes Jahr alt war. Sie haben mir erzählt, man hätte mich in einem Korb gefunden, der auf dem Weiher drüben im Stadtpark herumschwamm. Ein bisschen wie bei Moses.“ Sie lachte verlegen. „Du hast deine Eltern bestimmt besser gekannt.“

Greta schwieg, was sie als Zustimmung deutete.

„Das ist bestimmt noch viel schwerer, weil man weiß, was man verloren hat. Auf der anderen Seite, na ja … wünschte ich manchmal, ich wüsste, wer meine echten Eltern waren. Und ob sie noch am Leben sind …“

„Vielleicht erfährst du es irgendwann.“

Kadence erwachte aus ihren Gedanken. Greta lächelte sie an. Es war ein stilles, verständnisvolles Lächeln. Und plötzlich ging ihr auf, dass sie die Kleine gar nicht tröstete – sie wurde von ihr getröstet.

Gretas Gesichtsausdruck veränderte sich. „Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.

„Aber natürlich!“

Kadence stand auf und räumte die leere Milchkanne in die Spüle. Nicht zu fassen, um ein Haar wäre sie vor dem armen Kind in Tränen ausgebrochen – sie war wirklich ein hoffnungsloser Fall.

„Spiiiielen!“, krähte es auf einmal, dass Kadence fast das Herz stehen blieb.

„Tassilo!“ Greta hüpfte von ihrem Stuhl und kniete sich vor den Plüschbären, der unter dem Fenster lehnte.

„Was hast du denn schon wieder?“

„Dummkopf! Rausgehen! Spielen!“, plapperte der Bär. „Im Früüühtau zu Beeerge wir gehn, fallera …!”

Greta boxte in den runden Teddybauch.

„Aua!“

„Wehe, du singst noch einmal.“

„Dein Tassilo ist aber ganz schön talentiert“, bemerkte Kadence.

„Ja, vor allem im Nervensägen ist er gut“, brummte Greta.

„Aber eigentlich hat er recht, das Wetter ist doch ganz schön“, überlegte Kadence. „Wollen wir nicht rausgehen und eine Runde spazieren? Deinen Opa können wir auch mitnehmen, es würde ihm bestimmt nicht schaden, ein bisschen frische Luft zu schnappen.“

„Au jaa!“, jubelte Greta, nun wieder ganz Kind, und tanzte im Kreis. „Ich gehe ihn gleich holen. Das wird ein Spaß!“

Itthona

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