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1~Balthasar

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Irgendetwas stimmte nicht.

Balthasar spürte es, als er das Fenster öffnete. Auf den ersten Blick war alles wie gewohnt: Die jungen Linden wiegten sanft ihre Äste, und eine Brise wehte klare Morgenluft in das Wohnzimmer. Sie streichelte Balthasars schlohweißes Haar – doch da war noch etwas anderes: ein feines, unglaublich leises Vibrieren, viel schwächer als der Flügelschlag einer Wespe und dennoch nicht zu ignorieren.

Balthasar überlegte. Vielleicht war es am besten, seine Schachpartie mit Hans Tannemann im Stadtpark abzusagen und sich im Haus zu verbarrikadieren. Hans war Balthasars einziger Freund, wenn er überhaupt so etwas wie Freunde hatte: ein Jungspund von gerade mal fünfundsiebzig Jahren. Dennoch jammerte er, seitdem sie sich vor zwei Jahren im Supermarkt kennengelernt hatten, Balthasar jedes Mal mit seinen zahlreichen Wehwehchen die Ohren voll: Hans war übergewichtig, hatte Schmerzen im Kreuz, Probleme mit dem Blutdruck und war blind wie ein Maulwurf mit Augenbinde – wobei sich Letzteres auf nicht verzehrbare Gegenstände zu beschränken schien.

Apropos, ich muss dringend etwas zum Essen besorgen, fiel Balthasar jetzt ein. Mindestens zehn Köpfe Rotkohl, fünf Packungen Eisentabletten und acht Salamipizzen brauchte er, um sich zwei Wochen lang verkriechen zu können … nicht zu vergessen drei Schachteln Assam-Tee, die einzige Teesorte, die sein empfindlicher, chronisch fehlernährter Magen vertrug.

Mit einem geschickten Manöver wendete Balthasar seinen Rollstuhl und fuhr in den Parkettflur zum Schirmständer, den er als Hutablage zweckentfremdete. Mit dem schwarzen Krempenhut auf dem Kopf schloss er die Tür auf und verließ die Wohnung.

Fünf Minuten später wartete er an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus, der ihn in die Homburger Innenstadt bringen würde.

Der Himmel war bedeckt. Ein leichter Regen nieselte herab und benetzte die weißen Härchen auf Balthasars langer, schmaler Nase. Das störte ihn jedoch viel weniger als dieses Vibrieren, das er unter freiem Himmel noch deutlicher spürte als in der Wohnung. Beunruhigt klappte er den Kragen seines braunen Fleecemantels hoch und zog den Kopf tief zwischen die Schultern. Dann kam er ins Grübeln. Warum war er eigentlich beunruhigt? Was immer da im Anmarsch war, konnte ihm nicht viel tun – sicher, er war alt, behindert und schwächlich.

Doch er war alles andere als gebrechlich … und er hatte zwei Waffen, um sich zu schützen: Seinen überragenden Verstand, der bestens auf Problemlösung trainiert war. Und den Tod.

Niemand wunderte sich, wenn ein lahmer alter Mann plötzlich hopsging. Die Menschen vergruben seinen Körper, vergaßen ihn – und schon war er frei, um weiterzuziehen. Das funktionierte natürlich nur, wenn der lahme alte Mann nicht wirklich tot war. Und nicht wirklich tot war Balthasar schon sehr, sehr lange …

Mittlerweile konnte er sich besser totstellen als jeder Tote; und wenn die Luft rein war, scharrte er sich schneller aus der Erde als Houdini blinzeln konnte. Anschließend musste er nur noch die Identität wechseln, und Simsalabim, war er sämtliche Altlasten los – abgesehen von seinem Vermögen natürlich, das er vorsorglich auf mehreren Konten verwahrte. Dank einiger glückreicher Börsenspekulationen war Balthasar nämlich steinreich. Na ja, beinahe … Jedenfalls hatte er genug Geld, um nicht mehr auf das Mitleid anderer angewiesen zu sein. Er konnte sein Schicksal selbst bestimmen. Und er würde es wieder tun.

Sicher, Homburg hatte schöne Seiten – vor allem die jungen Studentinnen, die Balthasar oft aus seinem Fenster beobachten konnte, weil er in der Nähe der Uniklinik wohnte. Doch vier Jahre an einem Ort waren genug. Erst recht, wenn hier merkwürdige Dinge zu passieren begannen …

Balthasar war froh, als der Bus endlich um die Ecke schnaufte. Er ließ sich vom Busfahrer, einem gutmütigen Tataren, in den Passagierraum helfen und wenige Minuten später im Zentrum absetzen. Dort rollte er friedlich über den Christian-Weber-Platz Richtung Gemüsehändler, um sich seinen Bio-Kohl zu holen.

Das Vibrieren traf ihn völlig unvorbereitet: ein penetrantes, ohrenbetäubendes Surren, das sich in seinen Kopf bohrte wie ein gefräßiger Wurm in einen Apfel. Balthasar schrie auf und presste die Hände gegen die Ohren. Dann überwältigte ihn die Angst. Hastig umfasste er die Räder und stieß sich ab. Lass mich in Frieden! Der Rollstuhl bewegte sich schneller und schneller, bis Balthasar ihn nicht mehr hätte stoppen können.

Das hatte er nun davon! Er hätte sich längst nach Rostock absetzen sollen, wie er es seit Wochen plante. Er hätte sich in einen Fluss stürzen sollen und dann …

Plötzlich ruckte es. Balthasars Oberkörper wurde nach vorne geschleudert. Der Rollstuhl ächzte metallisch, und dann – Stille.

Balthasar blinzelte. Zehn Zentimeter vor ihm klaffte ein riesiges, schwarzes Loch im Boden. Das Surren hatte aufgehört. Dafür vernahm Balthasar etwas anderes: ein rasches, flatterndes Pochen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nicht sein eigenes Herz war, das er hörte. Und einen weiteren Moment, bis er den heißen Atem wahrnahm, der von hinten seine Wange streifte. Jemand zog ihn rückwärts vom Loch weg. Dann klackten die Bremsen des Rollstuhls.

„Meine Güte, das war knapp! Geht es Ihnen gut?“

Balthasar wunderte sich. Er war immer noch auf dem Christian-Weber-Platz, doch viel näher an der Straße als vorhin, direkt neben dem kastenförmigen Kaufhaus namens H&M. Doch was noch viel außergewöhnlicher war: Vor ihm kniete eine Frau.

Ihr Blick glitt forschend über sein Gesicht. Ihre Hände lagen auf seinen, die die Armstützen des Rollstuhls umkrallten.

„Alles in Ordnung?“

Balthasar schluckte trocken. „Ich … denke schon …?“

Die Frau atmete durch. „Gott sei Dank! Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Was ist denn mit Ihnen passiert?“

Verwirrt musterte Balthasar ihr schmales, überhitztes Gesicht. Sie war jung, vielleicht Anfang Zwanzig. Fast noch ein Kind … ein ausgesprochen hübsches Kind: Rötlich schimmerndes, kastanienbraunes Haar fiel aus einem zerzausten Zopf über ihre Schulter und verdeckte eines von zwei weit aufgerissenen azurblauen Augen. Während sich das Mädchen zu Balthasar hinabbeugte, bauschte sich ihre weite, blassblaue Regenjacke und bot freien Blick auf eine leicht schlaksige und doch frauliche Figur in Wollpulli und Jeans.

Leider war Balthasar noch zu durcheinander, um angemessen auf diesen Anblick zu reagieren.

„Wo kommt denn auf einmal dieses Loch her?“, murmelte er. Dann erblickte er das rote Absperrband in seinem Schoß. Oh.

„Ich frage mich, wie lange sie noch an diesen Wasserleitungen arbeiten wollen“, knurrte er peinlich berührt. „Dieses Loch ist ja gemeingefährlich!“

„Allerdings. Sie hätten sich das Genick brechen können, wenn Sie hineingefallen wären.“

Balthasar rückte benommen seinen Hut zurecht. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte ihm das durchaus passieren könnten. Das Mädchen stieß einen weiteren Seufzer aus und erhob sich. „Warten Sie einen Moment.“ Sie verschwand aus Balthasars Blickfeld, kehrte aber rasch zurück und legte ihm seine schwarze Lederbörse in den Schoß.

„Das haben Sie vorhin verloren. Ich wollte sie Ihnen wiedergeben, aber dann rollten Sie plötzlich los, als wäre jemand hinter Ihnen her. Sie … haben nicht zufällig Stimmen gehört, die Ihnen das befohlen haben?“

„Nein, aber anscheinend haben sich die Bremsen gelöst …“

Balthasar steckte seine Börse in die Manteltasche. „Danke für Ihre Hilfe, Fräulein.“

Das Mädchen betrachtete ihn noch immer mit schief gelegtem Kopf, so eindringlich, dass er errötet wäre, wenn er gekonnt hätte.

„Nein, so kann ich Sie nicht alleine lassen. Dieses Ding ist ja offensichtlich kaputt, und wenn so etwas wieder passiert … kommen Sie, ich schiebe Sie nach Hause und mache Ihnen einen Tee gegen den Schreck.“

„Was?“

Was wollte diese Frau von Balthasar? Zugegeben, die Vorstellung, sie für sinnliche Vergnügungen in seine Wohnung zu locken, hatte ihren Reiz. Aber das hier ging Balthasar jetzt doch ein wenig zu schnell – und vor allem zu einfach!

Er wusste ja nicht einmal, ob er ihr trauen konnte. Als das Surren eingesetzt hatte, musste sie ganz in seiner Nähe gewesen sein … Nein, diese Angelegenheit gefiel Balthasar ganz und gar nicht. Er wollte protestieren, doch da setzte sich sein Rollstuhl in Bewegung.

„Wer sind Sie eigentlich?“, raunzte er etwas unhöflich.

„Mein Name ist Kadence Isberg“, antwortete das Mädchen. „Ich bin Krankenschwester in der Uniklinik.“

„Kadence?“, wiederholte Balthasar, während lateinische Konjugationen durch sein Hirn ratterten. „Cadens“ war Partizip Präsens aktiv von „cadere“. Somit hieß das Fräulein … die fallende Isberg? Komischer Name …

„Balthasar von Gundelstein, sehr erfreut“, erwiderte Balthasar automatisch – und biss sich auf die Zunge. Verdammt, jetzt wusste sie, wie er hieß!

„Wo wohnen Sie denn?“, fragte die Fallende.

„Ähm … ähm …“

Der Rollstuhl blieb so abrupt stehen, dass Balthasar beinahe vornüber auf den Asphalt klatschte. Das Mädchen beugte sich über seine Schulter.

„Oh nein … könnte es sein, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben? Dann bringe ich Sie besser gleich in die Neurologie.“

Gott bewahre! Balthasar kannte Krankenhäuser nur aus Büchern und Fernsehen, doch er wusste sehr gut, was dort lauerte: Pathologen – Leichenschänder! Jemand wie Balthasar würde unweigerlich bei ihnen landen. Und ihnen entging nichts …

„Nein!“, schrie Balthasar. „Keine Klinik! Krautstraße 97, da wohne ich!“

„Ah, okay. Das ist in diesem ruhigen Viertel am Waldstadion, richtig?“

Balthasar drückte die Fingerspitzen auf seine Nasenwurzel und nickte schicksalsergeben. Noch nie hatte er jemandem seine Adresse verraten. Nie! Er war so verärgert über seine eigene Unbeholfenheit, dass er sogar das unheimliche Surren und seine Todesangst vergaß.

So wunderte er sich auch nicht über die Gestalt, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einer Betonsäule stand und ihn aus schmalen, kleegrünen Augen ansah.

Itthona

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