Читать книгу Itthona - Zsóka Schwab - Страница 17

11~Kadence

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„Wo gehen wir denn hin?“

Kadence kicherte über Gretas neugieriges Gesicht.

„Das wirst du gleich sehen.“

Sie waren am frühen Vormittag zu Fuß in Richtung Innenstadt aufgebrochen, ehe Herr von Gundelstein sich überhaupt blicken ließ. Kadence hatte ihm Rührei mit Speck zum Frühstück gemacht und einen Zettel mit einer Nachricht hinterlassen, dass sie und Greta gegen Mittag zurück sein würden.

Als sie vergangene Nacht für Greta das Gästebett bezogen hatte, ließ diese nicht zu, dass sie ihr auch beim Umziehen half. „Ich kann das schon alleine, mache ich zu Hause auch immer so.“

Kadence, die nicht aufdringlich sein wollte, ließ sie gewähren. Doch als Greta am nächsten Morgen mit verschlafenen Äuglein und zerzausten Locken aus dem Wohnzimmer tapste, trug sie immer noch das Kleid von gestern. Sie hatte sich überhaupt nicht umgezogen – und wie denn auch? Dieser verantwortungslose Mann von einem Stiefvater hatte dem armen Kind nicht einmal einen Koffer mit Wechselwäsche mitgegeben. Beschämt darüber, dass ihr das bisher entgangen war, beschloss Kadence, mit Greta auf der Stelle einkaufen zu gehen.

Als sie vor den Kaufhäusern im Zentrum ankamen, blieb das Mädchen stehen. Ihre großen grünen Augen wanderten misstrauisch über die bunten Werbefassaden.

„Willst du dir etwas zum Anziehen kaufen?“, fragte sie zögerlich.

Kadence lachte. „Nicht mir, dir!“

Gretas Haltung versteifte sich, als hätte ihr jemand Eiswürfel auf den Nacken gelegt. „Was? Nein! Das geht nicht, das ist doch teuer! Und ich habe schon ein Kleid.“ Sie zupfte beschämt an dem zerknitterten Blümchenmuster.

„Eben, du hast ein Kleid. Aber du bleibst ja mehrere Wochen hier, da brauchst du schon etwas mehr. Wir müssen außerdem auch noch Unterwäsche und Socken kaufen … und eine Zahnbürste wäre auch nicht verkehrt.“

Greta erblasste. „U… U… Unterwäsche? Aber, das ist doch nicht nötig! Ich werde Papa anrufen, dann schickt er mir Sachen mit der Post.“

Oder auch nicht, dachte Kadence, sprach es aus Rücksicht auf Greta aber nicht aus. „Selbst, wenn er dir Sachen schickt, würde es Tage dauern, bis die aus Hamburg hier ankommen“, sagte sie diplomatisch. „Solange können wir nicht warten.“

„Aber wer soll denn das alles bezahlen?“

Kadence zuckte mit den Schultern. „Ich lege dir einfach ein bisschen Geld aus. Wenn du groß bist und einen Beruf hast, zahlst du es mir zurück.“

Sie ergriff Gretas Hand und zog sie in das Geschäft, ehe dem Mädchen neue Einwände einfielen.

Was darauf folgte, war um einiges anstrengender, als Kadence sich vorgestellt hatte.

Greta war unheimlich wählerisch: Sie wollte keine Kleider mit Rüschen oder bauschigen Ärmeln, keine mit Streifenmuster und keine, die nur bis zu den Knien reichten. Und dass jedes Kleid, das mehr als dreißig Euro kostete, postwendend in hohem Bogen aus der Umkleidekabine flog, machte die Sache auch nicht leichter.

„Was gefällt dir denn an dem grünen nicht?“, fragte Kadence, die nach einer Stunde allmählich etwas müde wurde. „Es betont wunderschön deine Augen.“

„Es raschelt beim Laufen. Ich will kein Kleid, das beim Laufen raschelt!“

„Lass mich doch mal gucken.“

„NEIN!“ Der braune Stoffvorhang bewegte sich energisch, sodass auch der letzte dünne Spalt vor Kadences Nase verschwand. Erschöpft fuhr sie sich durch die Haare, wobei sie dem mitleidigen Blick einer älteren Frau begegnete. So sind sie, die Kleinen …, drückte er aus. Kadence straffte die Schultern. „Warte, Greta, ich komme gleich wieder.“

Sie verschwand zwischen den Korridoren aus dicht gedrängten Kleiderständern und kehrte fünf Minuten später mit einem Berg aus einer Latz- und zwei schlichten Jeanshosen, drei Baumwollpullovern und fünf T-Shirts zurück.

„Mach den Vorhang auf, ich habe noch ein paar Sachen dabei. Keine Angst, ich gucke nicht.“

Dann geschah das Wunder: Greta mochte die Sachen, und zwar alle. Lediglich die Hosen mussten auf eine kleinere Größe umgetauscht werden. Unterwäsche und Socken wählten sie anschließend nach Augenmaß.

„Hm … dazu passen jetzt aber die Schuhe nicht mehr“, überlegte Kadence, nachdem sie bezahlt und das Kaufhaus mit einer großen Einkaufstüte verlassen hatten. Greta hatte den grünen Pullover und die Latzjeans gleich anbehalten.

„Das geht schon …“, murmelte sie kleinlaut und kickte gegen einen winzigen Stein.

„Zeig doch mal her.“

Kadence kniete sich auf den Boden und drückte mit dem Daumen von allen Seiten gegen den rosa Glanzlack der Honeybunny-Schuhe. „Meine Güte, du hast da ja überhaupt keinen Platz vorne! Wer hat dir diese Schuhe gekauft?“

Greta wurde rot. „Ich … äh, dachte, das gehört so.“

„Auf keinen Fall gehört das so! Das muss ja schrecklich wehtun!“

So kam es, dass sie auch noch im nächsten Schuhgeschäft einkehrten, wo sie ein Paar gemütliche Turnschuhe und offene blaue Sandalen erstanden.

Gegen elf Uhr saßen sie erschöpft am Rand eines Springbrunnens und genossen das muntere Wassergeplätscher hinter ihrem Rücken. Kadence war sehr zufrieden, doch Greta runzelte die Stirn.

„Was ist los? Gefallen dir die neuen Sachen nicht?“

Greta fuhr zusammen und bemühte sich, zu lächeln. „Doch, sehr gut. Aber so viel Geld …“

„Keine Sorge, so teuer war es gar nicht“, versuchte Kadence sie zu beruhigen, obwohl ihre Geldbörse um knapp zweihundert Euro leichter war als am Morgen. „Außerdem bezahlt mich dein Großvater auch dafür, dass ich mich um dich kümmere. Er wird bestimmt einen Teil übernehmen.“

Gretas Lächeln nahm einen spitzbübischen Ausdruck an. Dann ermattete es. Mit einem leisen Seufzen legte sie den Kopf in den Nacken, sodass ihre langen, dunkelblonden Locken wie ein goldener Wasserfall ihren Rücken hinabflossen.

„Schau mal! Da!“

Sie streckte den Arm in die Höhe und zeigte auf einen kleinen Schwarm weißer Tauben, die in weiter Ferne vollkommen synchron Loopings und Luftpirouetten drehten. Wann immer das Sonnenlicht ihre Flügel im rechten Winkel traf, leuchteten sie grell auf, sodass der flatternde Schwarm vor dem tiefblauen Hintergrund zu glitzern schien.

„Wie schön!“, hauchte Kadence. „Diese Tauben habe ich schon oft gesehen … Manchmal schaue ich ihnen zu und stelle mir vor, ich könnte auch so fliegen …“

„Kommen die auch mal näher?“, wollte Greta wissen.

„Nein“, sagte Kadence wehmütig. „Leider nicht.“

„Hm“

Eine Weile saßen sie schweigend da und betrachteten die winzigen weißen Punkte am Himmel. Die Tauben flogen erst eine Acht, drehten dann eine große senkrechte Schleife und fielen im Sturzflug etwa zehn Meter bodenwärts. Anschließend fingen sie ihren Fall in einer Aufwärtsschleife ab und stiegen wieder empor. Nur eine tanzte aus der Reihe.

Kadence glaubte nicht, was sie da sah.

„Greta, guck mal!“

Die Taube flog im Halbkreis um die Bäckerei, flatterte quer über die Talstraße – und schoss direkt auf den Springbrunnen zu. Greta ließ sie nicht aus den Augen. „Pass auf!“, schrie Kadence, doch unmittelbar vor ihrer Nase wendete der Vogel und flog auf den Dachvorsprung des nächstgelegenen Gebäudes, eines Cafés. Einige draußen sitzende Cafégäste wandten ihre Köpfe nach ihm um, doch er schüttelte nur seelenruhig das Federkleid, als wäre er nicht gerade um ein Haar mit einem Menschen kollidiert.

„Das war knapp!“, wisperte Kadence. „Ich habe noch nie gesehen, dass sich eine von der Gruppe gelöst hätte. Warum hat sie das wohl gemacht?“

„Weil ich sie gerufen habe.“

„Ach so“, lächelte Kadence. „Und wie hast du das gemacht?“

Das Mädchen erwiderte ihr Lächeln. „Da ist nichts dabei. Du musst dich einfach ganz fest auf sie konzentrieren und sie von ganzem Herzen rufen.“

„Aber du hast doch gar nichts gesagt.“

„Das braucht man auch nicht. Wenn du dich anstrengst, hören sie es auch so. Versuch es auch mal.“

Kadence verspürte den Drang, loszukichern. Kinder und ihre Fantasie. „Na gut.“

Sie kniff die Augen zusammen und dachte an die Taube.

„Nein, nicht so verkrampft“, instruierte Greta. „Vergiss mich, den Springbrunnen und all die Leute. Es gibt nur dich und sie …“ Der Klang ihrer Stimme wirkte eigenartig beruhigend, beinahe einschläfernd. Kadences Nackenmuskulatur lockerte sich, und ihre Schultern sanken tiefer. „Stell dir vor, wie sie die Flügel ausbreitet, genau jetzt …“

Gretas Stimme verhallte, doch sie brauchte auch nicht weiterzusprechen: Kadence sah es genau vor sich, obwohl ihre Augen immer noch geschlossen waren. Doch was sie sah, war eigenartigerweise nicht die Taube. Es war sie selbst. Sie blickte auf sich hinab, wie sie mit geschlossenen Augen vor dem Springbrunnen saß, direkt neben Greta, die die Beine über Kreuz geschlagen hatte und ihren Blick ernst erwiderte. Das ganze Bild war eigenartig bunt.

Dann spürte Kadence den Wind. Sie spreizte ihre Arme und merkte, wie die Luft sich mit leisem Summen darin verfing. Es war unheimlich realistisch.

Komm!, flüsterte eine verlockende Stimme – ihre eigene Stimme – in ihrem Kopf. Komm her zu mir! Dir passiert nichts!

Kadence bewegte die Beine leicht auseinander, beugte ein wenig die Knie … und dann sprang sie einfach. Eine Sekunde fiel sie frei, dann fing der Luftwiderstand sie auf wie ein weiches Kissen. Noch etwas weiter rechts, und jetzt um die Kurve …

Wie in Zeitlupe sah sie sich selbst näherkommen, ihre dunklen Haare, ihre hellbraune Strickjacke. Sie streckte ihre Arme nach hinten und die Beine nach vorne, bis sie festen Boden unter den Füßen spürte.

„Sie ist da, Kadence“, flüsterte Greta wie aus weiter Ferne. „Mach jetzt die Augen auf, aber lass sie noch nicht los.“

Kadence öffnete die Augen. Sie hörte ihren eigenen, ruhigen Atem, spürte wieder das Sonnenlicht auf ihrem Gesicht. Gleichzeitig fühlte ein kleiner Teil von ihr immer noch weichen, warmen Stoff unter den Füßen. Vorsichtig drehte sie das Gesicht nach links – und blickte in zwei kleine, dunkle Knopfaugen.

„Schau, sie ist gar nicht weiß“, stellte Greta interessiert fest. „Sie ist cremefarben und hat einen schwarzen Kragen am Hals.“ Kadence war unfähig zu sprechen. Die angenehme Lethargie wich schlagartig aus ihrem Körper – und ließ sie in vollkommener Erstarrung zurück. Was passiert hier?

Plötzlich machte es leise „Plopp“.

„Sie hat mich vollgemacht!“, rief Kadence, mehr erstaunt als verärgert. Erschrocken spreizte die Taube ihre Flügel und stieß sich von ihrer Schulter ab. Mit lautem Geflatter flog sie in den Himmel, bald wieder nur ein kleiner, leuchtend weißer Punkt im wolkenlosen Blau.

Kadence erhob sich und suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Einige Cafébesucher lachten und klatschten noch Beifall, während sie vergeblich versuchte, das weiße, klebrige Zeug von ihrer Schulter zu reiben.

„Oje, es geht gar nicht mehr ab.“

„Tut mir leid, Kadence“, murmelte Greta, die nun auch aufstand. „Wenn du willst, wasche ich es zu Hause für dich.“

Kadence seufzte und brachte das schmutzige Taschentuch mit spitzen Fingern zum nächsten Mülleimer.

„Ach, was soll’s“, brummte sie unwirsch. „Komm, gehen wir nach Hause.“

„Du warst aber sehr geschickt vorhin“, lobte Greta, als sie wieder über den Fußgängerweg schlenderten.

„Findest du?“ Kadence war weniger begeistert. Für einen schrecklichen Moment sah sie sich selbst auf ihrer ehemaligen Station liegen, während Martin ihr Beruhigungsmittel verabreichte.

„Schon gut, Kadence, du hattest ein bisschen zu viel Stress in letzter Zeit“, würde er sagen. „Ich habe dich verlassen, du hast deine Wohnung aufgegeben … Manchmal reagiert die Psyche seltsam darauf, und dann passieren eben solche Dinge, dass man glaubt, man könnte mit Tauben sprechen …“

Kadence schüttelte den Kopf, um diese grässliche Vorstellung loszuwerden. Natürlich konnte sie nicht mit Tauben sprechen. Sie hatte schon von klein auf ein viel zu starkes Empathievermögen gehabt, und jetzt hatte sie es eben übertrieben. Dass die Taube dann wirklich gekommen war, war reiner Zufall. So.

„Du bist ein Naturtalent. Ich kenne sonst niemanden, dem das auf Anhieb gelungen ist“, sagte Greta mit ehrlicher Bewunderung.

„Greta, darf ich dich um etwas bitten?“

„Hm?“

„Das, was gerade passiert ist, bleibt unser Geheimnis, in Ordnung?“

Greta nickte Kadence fröhlich zu.

„Wenn du das möchtest.“

Itthona

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