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„Wissen wir nicht zu wenig?“: fehlendes Zukunftswissen

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Es gibt noch ein drittes Argument für die Auffassung, dass wir grundsätzlich keine zukunftsgerichteten Pflichten haben können. In der Variante, die Ihnen vielleicht auch schon einmal im Alltag begegnet ist, besagt es Folgendes: „Das ist ja alles schön und gut. Aber wir wissen doch gar nicht, was die Zukunft bringt! Vielleicht kommt es so, wie die Klimawissenschaftler behaupten, vielleicht kommt es aber auch ganz anders. Wieso sollten wir Klimaschutz leisten, wenn gar nicht klar ist, was dabei herauskommt?“ Der Grundgedanke ist hierbei, dass wir nicht mit absoluter Gewissheit wissen, wie die Zukunft aussieht, und dass wir deswegen keine zukunftsgerichteten Pflichten haben können.

Dieses Argument ist relativ einfach zu entkräften. Denn allein aus der Tatsache, dass wir über die Zukunft nichts mit absoluter Gewissheit wissen, folgt sicherlich nicht, dass wir keine Pflichten haben, die etwas mit zukünftigen Zuständen der Welt zu tun haben. Ein Beispiel verdeutlicht das: Ihr Nachbar wird langsam sehr ärgerlich darüber, dass Ihre Tochter noch immer nicht aus seinem Garten verschwunden ist; er holt das Gewehr hervor und zielt auf Ihre Tochter. Darf er abdrücken? Nein, ganz sicher nicht, er ist moralisch verpflichtet, das zu unterlassen. Daran ändert sich auch nichts, wenn der Nachbar darauf hinweist, es sei ja gar nicht sicher, dass sich ein Schuss löst (vielleicht klemmt der Abzug), dass der Schuss – falls er sich löst – Ihre Tochter treffen wird (vielleicht fliegt just in diesem Moment ein Spatz durch die Schusslinie, in dem die Kugel stecken bleibt) oder dass Ihre Tochter – falls getroffen – überhaupt verwundet wird (vielleicht trägt sie ein Medaillon, an dem die Kugel abprallt). Es ist zwar richtig, dass niemand mit absoluter Gewissheit weiß, dass der Nachbar Ihre Tochter verletzen wird, wenn er abdrückt; aber das ändert nichts daran, dass er schlicht nicht abdrücken darf.

Das obige Argument kann also nicht so gemeint sein, dass absolute Gewissheit über die Zukunft nötig ist, damit man überhaupt zu etwas verpflichtet sein kann; denn wäre das gemeint, dann gäbe es keinerlei Pflichten, weil es keine absolute Gewissheit über die Zukunft gibt. Vermutlich meint das Argument etwas Schwächeres: Damit es eine Pflicht geben kann, muss man hinreichend viel und hinreichend sicher über die Zukunft Bescheid wissen. Für unsere moralischen Pflichten ist nicht die absolute Gewissheit entscheidend, sondern das Ausmaß unserer (Un-)Gewissheit. Im Fall des Nachbarn mit dem Gewehr sind die Faktoren, die eine Verletzung Ihrer Tochter verhindern könnten, einfach sehr unwahrscheinlich und es ist somit sehr wahrscheinlich, dass Ihre Tochter verletzt oder gar getötet wird, wenn der Nachbar abdrückt. Im Fall des Klimawandels, so könnte man das Argument nun etwas anders konstruieren, ist es allerdings nicht in gleichem Maße sicher, dass die befürchteten problematischen Konsequenzen auch eintreten werden: Wir wissen nicht, wie viele Menschen der Meeresspiegelanstieg zur Migration zwingen wird, wie viele Menschen durch zusätzliche Wirbelstürme obdachlos werden oder wie hoch die Einbußen in der Landwirtschaft sein werden. In Bezug auf den zukünftigen Klimawandel wissen wir zwar einiges, aber eben auch nicht alles, und die Frage ist gerade, ob wir genug wissen, um verpflichtet zu sein.

Doch auch in dieser Variante liefert das Argument aus dem fehlenden Zukunftswissen keinen zwingenden Grund, von einer grundsätzlichen Klimaschutzpflicht gegenüber zukünftigen Generationen abzurücken. Zwar ist es zunächst richtig, dass das Ausmaß unseres Wissens über die Zukunft einen Einfluss darauf hat, was wir tun sollen. Wenn es extrem unwahrscheinlich wäre, dass Klimaschutz den Klimawandel überhaupt vermeiden könnte, dann sähe die Sache aus moralischer Sicht tatsächlich anders aus. Aber erstens sagen uns die besten klimawissenschaftlichen Erkenntnisse, über die wir verfügen, dass es gerade nicht extrem unwahrscheinlich ist, dass Klimaschutz den Klimawandel vermeiden kann; im Gegenteil, es ist recht wahrscheinlich, dass mangelnde Klimaschutzmaßnahmen tatsächlich problematische Konsequenzen nach sich ziehen werden. Das ist vielleicht nicht ganz so wahrscheinlich wie die Verletzung Ihrer Tochter durch den Schuss des Nachbarn, aber es ist doch sehr wahrscheinlich. Wer das bezweifelt, der bezweifelt also eigentlich die wissenschaftlichen Erkenntnisse (und diese Form des Leugnens haben wir bereits im letzten Kapitel behandelt und widerlegt). Und zweitens ist es gar nicht so klar, dass sich – wie der Einwand voraussetzt – unter Bedingungen der Ungewissheit unsere Pflichten wirklich verringern und nicht sogar vergrößern. Stellen Sie sich vor, Sie haben einem Kollegen versprochen, ein Buch, das er Ihnen geliehen hat, per Post zurückzusenden und zwar so, dass er es in spätestens zwei Tagen erhält, da er es dringend für einen Vortrag benötigt. Der Herr am Postschalter sagt Ihnen nun, dass ein entsprechendes Paket im Normalfall zwei Tage braucht, bis es ankommt, dass es aber durchaus auch mal einen Tag länger (oder kürzer) brauchen könnte. Sie könnten das Buch aber auch mit einem etwas teureren privaten Kurierdienst versenden, dann ist es mit Sicherheit in zwei Tagen bei Ihrem Kollegen. Sie haben also zwei Optionen: Entweder Sie geben ein normales Paket auf, gehen damit aber ein gewisses Risiko ein, dass das Buch nicht rechtzeitig ankommt, Sie Ihr Versprechen nicht einhalten und Ihr Kollege seinen Vortrag nicht vernünftig vorbereiten kann. Oder Sie geben das Paket per Kurier auf und zahlen mehr, gehen dafür aber auch kein Risiko ein. Wozu sind Sie verpflichtet?

Es scheint, als müssten Sie die kostspieligere Option wählen und das Paket per Kurier aufgeben. Das bedeutet aber, dass Sie in dieser Situation mehr tun müssen, wenn die Erreichung des Ziels (hier: die Einhaltung des Versprechens), zu dem Sie verpflichtet sind, unsicher wird. In bestimmten Zusammenhängen muss man bei fehlendem Zukunftswissen also mehr auf sich nehmen – und nicht weniger oder gar nichts. Wir werden auf die ethische Bedeutung von Ungewissheiten in Kapitel 8 noch genauer zu sprechen kommen. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass hinter dem Einwand aus dem mangelnden Zukunftswissen letztlich entweder ein Zweifel an den wissenschaftlichen Erkenntnissen steckt oder aber eine fragwürdige Annahme über die Richtung, in die sich unsere Pflichten unter Unsicherheit verändern. So oder so zeigt das Argument aus dem fehlenden Zukunftswissen jedenfalls nicht, dass wir grundsätzlich keine Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen haben können.

Ethik des Klimawandels

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