Читать книгу Gender@Wissen - Группа авторов - Страница 28

Anbindung an allgemeine politische und wissenschaftliche Debatten

Оглавление

Die unterschiedlichen Theoretisierungen des Körpers entsprechen der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Feminismus, Geschlechterforschung und Gender Studies. Aus (sozial-)politischer und juristischer Perspektive stehen der weibliche und der männ­liche Körper weiterhin im Zentrum zahlreicher Debatten (u. a. zur Vergewaltigung in der Ehe, Prostitution von Frauen und Männern, sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und zu den Auswirkungen moderner Medizin- und Reproduktionstechnologien auf Körpervorstellungen und -funktionen) sowie internationaler Problemfelder (u. a. weibliche Beschneidung, Gesundheitsfürsorge und Familienplanung, gezielte Massenvergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen, Sextourismus, Migration, Organ- und Menschenhandel).

Im wissenschaftlichen Bereich sind Frauen zunehmend nicht länger nur Objekte, sondern auch Subjekte der (akademischen) Forschung. Eine der Grundlagen der gender-orientierten Wissenschaftskritik ist die Aufwertung des (weiblichen) Körpers gegenüber dem (männlichen) Geist. So formulierte bereits der Feminismus der 1970er-Jahre den Anspruch, spezifisch weibliche Erfahrungen zum Ausgangspunkt für eigene theoretische Methoden und Forschungsfragen zu machen. Zudem kritisierte er den Androzentrismus bisheriger Wissensbestände und befragte gängige Vorstellungen von Rationalität, Objektivität und Universalität, die die Bildung wissenschaftlichen [<< 84] Wissens beeinflussen, auf die ihnen zugrunde liegenden gender-Aspekte.32 Auf welche Weise feministische Wissenschaftlerinnen im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert die vergeschlechtlichten Grundlagen von Erkenntnis und Wissensproduktion aufdecken, gender-Perspektiven einbringen und die Bedeutung des Körpers untersuchen, soll an vier Beispielen aus unterschiedlichen Disziplinen erläutert werden.

Ausgangspunkt der kritischen Befragung der Naturwissenschaften und ihrer Geschichte ist die Einsicht, dass die Metaphorik von ‚männlicher Kultur‘ und Körperlosigkeit bzw. männlichem Geist auf der einen und ‚weiblicher Natur‘ bzw. Körperhaftigkeit auf der anderen Seite alle Wissensdiskurse prägt und sich in einem hierarchischen Verhältnis zwischen männlichem Forschungssubjekt und weiblichem Objekt der Forschung (sei dies die Natur, die Frau oder ihr Körper) niederschlägt.33 Demgegenüber fordern feministische Wissenschaftlerinnen, die Erzeugung von Wissen als sozialen Prozess zu begreifen, dessen Akteure niemals neutral sind, sondern eine je partiale Perspektive einnehmen; die Chancen und Grenzen dieses ‚situierten Wissens‘ gelte es zu reflektieren.34 Dass geschlechtsspezifische Körpervorstellungen auch die sogenannten ‚harten Naturwissenschaften‘ beeinflussen, verdeutlicht z. B. die Wissenschafts- und Technikhistorikerin Nelly Oudshoorn in ihrer Sozialgeschichte der Sexualhormone.35 In ähnlicher Stoßrichtung zeigt die Medizinanthropologin ­Margaret Lock in einer kulturvergleichenden Studie zu den weiblichen Wechseljahren, dass der scheinbar universale menopausale Frauenkörper erst im Zusammenspiel zwischen einem westlich-medizinischen Körpermodell und einer durch Medizinkonsum sozia­lisierten Frauenwahrnehmung entsteht.36

In Rechtswissenschaft und Rechtsprechung stellt sich die Frage nach der vermeintlichen gender-Neutralität juristischen Denkens und Handelns z. B. im Kontext von Pornographiedebatten 37 oder bei Strafverfahren in Vergewaltigungsdelikten, die auf kulturelle Vorstellungen einer geschlechtsspezifischen Täter-Opfer-Verteilung zurückgreifen und männlichen und weiblichen Zeugenaussagen (bzw. den darin vermitte [<< 85] lten Körpererfahrungen) häufig eine unterschiedliche Glaubwürdigkeit zumessen.38 Andererseits transportieren und perpetuieren Konzepte vom ‚Rechtssubjekt‘ oder ‚Bürger‘, aber auch Vorstellungen von Öffentlichkeit und Privatheit, Gleichheit und Freiheit sowie Politik und Staat bereits auf der Ebene von Rechtstheorie und Legislative geschlechtsspezifische Vorannahmen.39

Die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disability Studies, die sich seit 1980 in Großbritannien und den USA und seit 2000 auch in Deutschland etablieren, untersuchen Behinderung als kultur- und zeitgebundene Kategorie, die als ‚Schattenseite‘ der Moderne verstanden werden kann, weil sie das Komplement von Vernunft und Normalität darstellt.40 Grundlage dieser Forschungsrichtung, die auf gesellschaftspolitische Intervention zielt und sich kritisch von den anwendungsbezogenen Rehabilitationswissenschaften absetzt, ist die (von der sex-gender-Differenzierung inspirierte) Unterscheidung zwischen „impairment“ und „disability“,41 also zwischen der medizinischen Kategorisierung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung und der gesellschaftlichen Praxis sozialer Ausschließung (vgl. den Slogan „behindert ist man nicht, behindert wird man“).42 In ihren auf historische und aktuelle Phänomene bezogenen Analysen bleiben die Disability Studies nicht bei Debatten um diskursive Effekte stehen, sondern gehen von konkreten Körpererfahrungen und den Selbstrepräsentationen von [<< 86] Betroffenen aus. Sie verbinden Diskursanalyse und Phänomenologie, erinnern an die Verletzbarkeit und Sterblichkeit jedes menschlichen Körpers, stellen philosophische und bioethische Fragen nach den Möglichkeiten der Anerkennung von Differenz und argumentieren, dass die mangelnde ‚Passung‘ keine Eigenschaft behinderter Körper sei, sondern als relationaler Begriff verstanden werden müsse.43

Die Literatur- und Kulturwissenschaften wenden sich seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkt dem Körper als Träger kultureller Erinnerungen, als Material (künstle­rischer) Inszenierungen und als Bestandteil der Konstruktion nicht nur von Weiblichkeit, sondern auch von Männlichkeit zu. So thematisiert eine an Foucault und Butler geschulte gender-orientierte Gedächtnisforschung den Körper als Medium und Effekt kultureller Einschreibungen, an dem sich individuelle und kollektive Prozesse der Erziehung und Sinnstiftung vollziehen.44 Konzepte körperlicher Inszenierung oder Performativität werden u. a. in Studien zur Theorie des Tanzes, der Fotografie, des Films sowie der Video- und Performance-Kunst fruchtbar gemacht, z. B. mit Blick auf die zeitgenössischen Künstlerinnen Marina Abramovic, Valie Export, Orlan und Cindy Sherman, die durch ihre Arbeiten am eigenen Körper traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit, Authentizität und Identität angreifen.45 Auch die Selbstinszenierungen und -zurichtungen des Körpers z. B. durch bodybuildung, Piercing und Tätowierungen werden zum Gegenstand von Analysen. Schließlich verdeutlichen jüngere kultur- und literaturwissenschaftliche Arbeiten, dass nicht nur der Frauenkörper, sondern auch der normstiftende und darin scheinbar unsichtbare Männerkörper – sei es als heroisch-soldatischer, sportlicher, viriler oder kreativer Körper – bzw. die historisch sich wandelnden Vorstellungen von Männlichkeit als Ort und Ergebnis von Rollenzuweisungen, Maskierungsprozessen und (durchaus auch vom Scheitern bedrohten) Konstruktionsvorgängen verstanden werden müssen.46 [<< 87]

Gender@Wissen

Подняться наверх