Читать книгу Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter - Группа авторов - Страница 7

Vorwort zur 1. Auflage

Оглавление

Das Asperger-Syndrom (AS) und die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben lange Zeit keine wesentliche Rolle in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie gespielt. Dies hat sich in der letzten Dekade dramatisch geändert. Wurde die Prävalenz in den 80er- und frühen 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den gängigen Lehrbüchern noch im Promillebereich angegeben, so wird basierend auf neuesten epidemiologischen Untersuchungen nun von Prävalenzraten von bis zu 2,6% für die Allgemeinbevölkerung ausgegangen. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung ist der, dass zunehmend auch leichter ausgeprägte Formen der ASS als solche erkannt und in den Zahlenwerken berücksichtigt werden.

Dies ist wiederum der Grund dafür, dass das Asperger-Syndrom und die Autismus-Spektrum-Störungen auch für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie enorm an Bedeutung gewonnen haben. Denn es sind vor allem die leichter betroffenen autistischen Menschen, die über Sprache, eine durchschnittliche bis hohe Intelligenz und vor allem gute Kompensationsstrategien verfügen und die im Hinblick auf ihre autistischen Eigenschaften lange unerkannt bleiben und ihre Schulzeit und gelegentlich auch das Studium überstehen, ohne dass es zu schweren interpersonellen Konflikten oder psychosozialen Krisen kommt. Vor allem aber nach dem Ende der sehr geregelten Schulzeit steigen die Anforderungen an soziale Kommunikation in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit deutlich an. Damit verbunden kommt es bei diesen Menschen oft zu Überforderungssituationen, interpersonellen Konflikten und Erfahrungen des Scheiterns, die in der Folge zu Depressionen, Angsterkrankungen, Somatisierungsstörungen, dissoziativen Anspannungszuständen, Selbstverletzungen, Essstörungen etc. führen. Erst diese – aus dem autistischen Anders-Sein resultierende – Symptomatik führt diese Menschen dann zum Arzt oder Psychotherapeuten, wo sie wegen ihrer eigenartigen Kommunikation und Präsentation oft unter Diagnosen wie atypische Depression, atypische Angststörungen, atypische Psychosen, atypische Zwangsstörung, atypische Borderline-Persönlichkeitsstörung etc. behandelt werden. Das Atypische kann in diesem Zusammenhang aus der Perspektive der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie gerade als das Typische bis dato nicht diagnostizierter Menschen mit ASS begriffen werden. In dieser Konstellation muss die ASS als Basisstörung für die sekundär sich daraus entwickelnden atypischen psychischen Störungen begriffen werden. Für die Betroffenen als auch für die Behandler erweist sich dann aber die korrekte Diagnosestellung meist als der Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis der Genese der Symptome und damit auch als der Schlüssel zu einer angemessenen Therapie.

Für viele Betroffene ist darüber hinaus die Diagnosestellung für ihr Selbstbild und ihre Selbstakzeptanz von zentraler Bedeutung. Denn sie liefert eine überzeugende Erklärung für das eigene Anders-Sein und die Kette von schwer zu verstehenden Konflikten und Missverständnissen, die sich oft wie ein roter Faden durch das Leben autistischer Menschen ziehen.

Die Erkenntnis, dass das autistische Eigenschaftscluster in der Bevölkerung nicht nur kategorial (vorhanden oder nicht) sondern auch dimensional (mehr oder weniger stark ausgeprägt) verteilt ist, findet unter anderem ihren Niederschlag darin, dass neuerdings von Begriffen wie Autismus-Spektrum-Störung oder „broader autism phenotype“ die Rede ist. Die dimensionale Betrachtungsweise autistischer Syndrome als Eigenschaftscluster mit mehr oder weniger starkem Ausprägungsgrad beinhaltet dabei die Gefahr, dass der Autismus-Begriff zunehmend aufgeweicht wird. Dementsprechend kann aktuell sowohl in Fachkreisen als auch in Internetforen betroffener Menschen eine heftige Diskussion darüber beobachtet werden, wie diagnostisch mit den leichter betroffenen Varianten des autistischen Phänotyps umgegangen werden soll. Dabei werden von Experten wie von Betroffenen zum einen integrative Standpunkte vertreten und zum anderen auch solche Positionen, die den Autismus-Begriff nur schwereren Formen vorbehalten wollen.

Diese Diskussion ist vor allem für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie von Bedeutung, weil vorrangig hier die Menschen vorstellig werden, die qualitativ zwar die Kriterien für die Diagnose einer ASS seit frühester Kindheit erfüllen (Besonderheiten der perzeptiven Wahrnehmung, Besonderheiten der sozialen Wahrnehmung und Kompetenz, Besonderheiten der sprachlichen Wahrnehmung und Kommunikation, Probleme bei der verbalen und nonverbalen Kommunikation, Besonderheiten der Aufmerksamkeits- und Interessensteuerung, Bedürftigkeit nach Routinen und geregelten Abläufen, Rigidität, Besonderheiten der Affektregulation), bei denen dies quantitativ aber abhängig davon, wie die Definitionskriterien für die Autismus-Diagnose gewählt werden, auch nicht der Fall sein kann. Zu dieser Thematik ist etwa in den USA jüngst auch in der Öffentlichkeit und den Printmedien eine sehr heftige Debatte entbrannt, nachdem klar wurde, dass im Rahmen der Neufassung der Diagnosekriterien im DSM-5 verbunden mit der neuen Begrifflichkeit der ASS die entsprechenden Definitionskriterien verschärft wurden.

Eben diesem Themenbereich – d.h. dem Asperger-Syndrom und den hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen – widmet sich das vorliegende Multiautorenbuch. Das heißt, dass gerade der sehr hochfunktionale Ausschnitt aus dem Spektrum der autistischen Krankheiten und Eigenschaften im Zentrum der Thematik dieses Buches steht. Denn gerade diese Menschen werden vorrangig in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie vorstellig. Dabei hat das Buch den Anspruch, die Thematik umfassend aus verschiedensten Perspektiven zu beleuchten.

In einer einleitenden Sektion werden zunächst grundsätzliche Aspekte zu Historie, Klinik, Neurobiologie, Psychometrie und Verlauf des Autismus vorgestellt. In einem zweiten Schwerpunktbereich geht es um die diagnostischen Verfahren und die diesbezüglichen Besonderheiten im Hinblick auf hochfunktionale, erwachsene, autistische Menschen. Die klinische Präsentation aus der Perspektive der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie wird in der dritten Sektion abgehandelt. Dabei wird ein Fokus auf die Beschreibung der typischen psychiatrischen Komorbiditäten gelegt, da es häufig diese sind, wegen derer sich Menschen mit ASS zunächst beim Arzt oder Psychotherapeuten vorstellen. Darauf aufbauend werden in der vierten Sektion therapeutische Optionen thematisiert. Sowohl einzeltherapeutische als auch gruppentherapeutische, stationäre und ambulante sowie psychotherapeutische, pharmakotherapeutische und sozialpsychiatrische Interventionen werden dabei vorgestellt. Schließlich werden in einer abschließenden Sektion sozialmedizinische, rechtsmedizinische, versorgungspolitische sowie persönliche Aspekte zu den ASS behandelt.

Bei den Autoren dieses Buches handelt es sich vorrangig um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler1 des Universitären Zentrums Autismus Spektrum (UZAS) Freiburg. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von wissenschaftlich tätigen Ärzten, Psychologen, Therapeuten sowie Neurobiologen aus den Bereichen der Kinder- und Jugend- sowie der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie, die seit etwa 2004 gemeinsam zu dieser Thematik arbeiten und forschen und sich seit 2011 zu einer gemeinsamen Forschergruppe zusammengefunden haben. Darüber hinaus wurden einige Kapitel von wissenschaftlich aktiven autistischen Menschen erstellt, die neben ihrer inhaltlichen Kompetenz auch ihre eigenen Erfahrungen mit dem Autistisch-Sein aus unmittelbarer Perspektive einbringen konnten, worüber ich mich besonders gefreut habe.

Das Buch richtet sich in erster Linie an Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Heilpädagogen und alle diagnostisch und therapeutisch tätigen Menschen, die sich mit hochfunktional autistischen Betroffenen beschäftigen, und versuchen, diesen bei der Bewältigung ihrer spezifischen Probleme zu helfen. Die Autoren wollen mit diesem Buch nicht nur Informationen und Anregungen für eine bessere Diagnose und Therapie der hochfunktionalen ASS zur Verfügung stellen, sondern auch einen Eindruck von der Faszination und der Bereicherung vermitteln, die von diesen Menschen mit ihren oft sehr eigenen und originellen Umgangsweisen mit den Herausforderungen des Lebens ausgehen.

Freiburg, November 2012

Ludger Tebartz van Elst

1 Im weiteren Text soll aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die parallele Verwendung von weiblichen und männlichen Formen verzichtet werden. Natürlich sind dabei aber immer Frauen und Männer in gleicher Form gemeint.

Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter

Подняться наверх