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Die Kreuzzüge und die Geschichtsschreibung

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Noch für die Historiker der frühen 1950er-Jahre gab es eigentlich nur eine Art von „echten“ Kreuzzügen: solche nämlich, die von Westeuropa aus zur Eroberung oder Verteidigung Jerusalems unternommen wurden. Kriegszüge an anderen Schauplätzen – auf der Iberischen Halbinsel etwa oder im Baltikum – oder solche, die sich gegen innere Feinde der Kirche richteten (gegen Häretiker beispielsweise), wurden mitunter zwar schon damals als Kreuzzüge bezeichnet – etwas ungenau, wie man dachte –, aber da sie in eine andere Kategorie zu gehören schienen, dachte man über sie nicht weiter nach. Die Ära der Kreuzzüge endete, so die verbreitete Lehrmeinung, mit dem Verlust der letzten Brückenköpfe in Palästina und Syrien an muslimische Angreifer im Jahr 1291. Wenigstens etwas Interesse brachte man darüber hinaus noch den vermeintlichen „letzten Zuckungen“ der Kreuzzugsbewegung im Spätmittelalter entgegen. Der religiösen Motivation der Kreuzzüge schenkte man hingegen nur wenig Beachtung. Zwar gestanden manche Historiker durchaus ein, dass jene möglicherweise eine Rolle gespielt haben könnte – allein, sie fanden es geradezu moralisch verwerflich, diese Möglichkeit ernstzunehmen, und verfolgten lieber jenen Ansatz, demzufolge die Herrschaften und Ansiedlungen westlicher Kreuzfahrer in Palästina, Syrien und Zypern die erste Phase des europäischen Kolonialismus dargestellt habe. Schließlich hätten – so diese Sichtweise – selbst die Päpste womöglich politische Ziele verfolgt, als sie zum Kreuzzug aufriefen; die frisch rekrutierten Kämpfer hingegen hätten ganz gewiss das Streben nach materieller Bereicherung unter dem Deckmäntelchen eines frommen Strebens verborgen. Die Kreuzzüge seien ein Sicherheitsventil gewesen, durch welches überzählige Einwohner aus einem ernstlich übervölkerten Europa entweichen konnten, und dieser Sichtweise entsprechend waren die Ritterorden weniger religiöse Institutionen als vielmehr große Finanzhäuser, die in ganz Europa riesige Landgüter verwalteten, um aus den Gewinnen ihre militärischen Operationen im Osten zu finanzieren.

Dieses große Geschichtsbild war zwar in sich stimmig – und es erfreute sich großer Zustimmung in der interessierten Öffentlichkeit –, aber es ging von äußerst fragwürdigen Grundannahmen aus. Die erste dieser Grundannahmen – dass nämlich die einzig wahren Kreuzzüge jene gewesen seien, die zwischen 1097 und 1291 im Nahen Osten stattfanden – konnte schon damals auf eine lange Geschichte zurückblicken; sie ist als die Grundlage für eine traditionalistische Interpretation der Kreuzzüge anzusehen. Die zweite Grundannahme – dass es bei den Kreuzzügen im Grunde nur um Landnahme, Siedlungsexpansion und Profit gegangen sei – war erst vergleichsweise spät, in den 1920er- und 1930er-Jahren nämlich, allgemein akzeptiert worden; man bezeichnet darauf fußende Ansätze der Forschung heute als die materialistische Interpretation der Kreuzzüge. Das Bild, das in dem vorliegenden Buch von der Kreuzzugsbewegung gezeichnet wird, ist zugleich weniger verführerisch und von höherer Komplexität als jene älteren Deutungsansätze, und es entspricht auch nicht dem populären Bild der Kreuzzüge in der öffentlichen Wahrnehmung; dennoch glaube ich, dass es der Realität näherkommt.

Die Kreuzzüge

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